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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

421–424

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Elliott, Brian

Titel/Untertitel:

Anfang und Ende in der Philosophie. Eine Untersuchung zu Heideggers Aneignung der aristotelischen Philosophie und der Dynamik des hermeneutischen Denkens.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2002. 354 S. gr.8 = Philosophische Schriften, 45. Kart. Euro 72,00. ISBN 3-428-09662-2.

Rezensent:

Arno Böhler

Brian Elliott lässt sich in Anfang und Ende in der Philosophie (Berlin 2002) auf eine Auseinandersetzung mit zwei "Meistern" der abendländischen Philosophiegeschichte ein: Aristoteles und Heidegger. Sein Buch kann als Einführung in die Grundbegriffe und Leitmotive dieser beiden Denker gelesen werden, begnügt sich aber nicht mit einer reinen Rekapitulation und Zusammenstellung der beiden Lehrinhalte. Im Zuge einer Erörterung dieser beiden Denker soll vielmehr jene "innere Dynamik des hermeneutischen Denkens bei Heidegger" (19) zur Sprache gebracht werden, die er in seiner Zwiesprache mit dem Anfang der abendländischen Philosophie bei Aristoteles denkerisch entfaltet hat: eine legitime Herangehensweise an Heideggers Werk, da "das Zwiegespräch mit geschichtlich vorgegebener Philosophie eine wesentlich und nicht zu umgehende Aufgabe" (157) seiner Art zu philosophieren ausmacht. "Nach dem hermeneutischen Verständnis Heideggers kann es also kein echtes Anfangen in der Philosophie geben, es sei denn, es vollzieht sich zugleich als eine aneignende Destruktion des diesem Anfang voraufgehenden dagewesenen Denkens" (167). Da Aristoteles' Werk für Heidegger zudem einen Gipfel der Besinnung im Diskurs der abendländischen Philosophiegeschichte darstellt - wird doch "im Denken des Aristoteles die griechische Grunderfahrung der Wahrheit allererst auf den Begriff gebracht" (23) -, gehört die Gipfelkonferenz, in der sein Denken über die Jahrhunderte hinweg mit Aristoteles konferiert hat, zu jenen Großereignissen, die sein eigenes Denken entscheidend geprägt haben. "Die Vergangenheit zu der die Vorlesung Zugang sucht, ist nichts, was abgelöst von uns fern liegt. Sondern wir sind diese Vergangenheit selbst" (164, Zitat Sophistes-Vorlesung). Der Ansatz von E., der inneren Dynamik der Auseinandersetzung Heideggers mit Aristoteles nachzugehen, klingt also schlüssig und viel versprechend. Besonders dann, wenn wir bedenken, dass nicht nur der Fachdiskurs der abendländischen Philosophie, sondern auch unsere Alltagssprache von der Grammatik der aristotelischen Logik entscheidend geprägt wurde.

Die Zugangsart des Autors zu Aristoteles ist folglich bewusst anachronistisch. Als nachträgliche Destruktion eines uns vorangegangenen Denkens, das unser eigenes Selbst- und Weltverständnis auch heute noch nachhaltig prägt, geht es in diesem Buch weniger darum, die Philosophie von Aristoteles einfach richtig zu rekonstruieren, sondern den impliziten Sinn seines Werkes im Verlauf einer hermeneutisch-phänomenologischen Re-lektüre freizulegen. Unter dem "impliziten Sinn" versteht E. im Anklang an Heideggers Daseinsanalyse jenen Verstehenshorizont, der in einem Werk implizit zwar vollzogen, von ihm selbst aber gerade nicht mehr eigens reflektiert und bewusst thematisiert wird. "Demgemäß muss Heideggers Auslegung als der Versuch gefasst werden, den unausdrücklichen Verstehenshorizont der aristotelischen Philosophie zum Vorschein zu bringen. Dieser Horizont macht nach dem hermeneutischen Verständnis das aus, von wo her Aristoteles das Seiende als solches versteht." (76)

Das Aristotelische Zauberwort, in dem sich nicht nur die 10 Kategorien seiner Philosophie, sondern auch der formale Horizont auf das Seiende im Ganzen (Physis) in Hinblick auf sein "Sein" bündeln, lautet nun aber ousía: Substanz im Sinne einer beständigen, in-sich-ruhenden Anwesenheit. Soll der Anfang der abendländischen Philosophiegeschichte destruiert und auf seinen impliziten Sinn hin freigelegt werden, dann kulminiert diese denkerische Aufgabe offensichtlich darin, die traditionelle Substanzmetaphysik, die von Aristoteles wesenhaft mitbegründet wurde, einer de-konstruktiven Kritik zu unterwerfen. "Heideggers Auslegung der aristotelischen Philosophie ist immer von seinem motivierenden Grund her als Gegentendenz gegen das traditionelle Verständnis des Seins und das heißt in erster Linie als eine Gegenbewegung gegen den aristotelischen Seinsentwurf zu fassen." (104): Ein antiker Seins-, Wahrheits- und Gottesentwurf, der "mit seiner Idee des eigentlich Seienden im Sinn der ousía unzertrennlich verbunden [ist], welche Idee Heideggers hermeneutisch-phänomenologisch gefasste Wiederholung der Seinsfrage gerade zum Absturz bringen will" (80).

Die entscheidende Intention, die Heideggers Auseinandersetzung mit Aristoteles verfolgt, wird für E. daher grundsätzlich verfehlt, wenn wir Heideggers Philosophie bloß als zeitgemäßes "Update" oder originellen "Remix" der Aristotelischen Philosophie interpretieren und mit dem Allerweltsetikett "Neoaristotelismus" versehen. Geht es Heidegger im Gegenteil doch darum, die Aristotelische Grundidee des Seins im Sinne einer beständig in-sich-kreisenden Bewegung eines immer schon erfüllten Seienden (Gott) gerade dynamisch zu sprengen, indem er aufzeigt, dass sich diese Idee selbst noch dem Phänomen der Zeitlichkeit verdankt. "Demnach vollzieht sich die hermeneutisch-phänomenologische Destruktion der Geschichte der Ontologie als eine prinzipielle Konversion des traditionellen Seinsbegriffes und somit als eine Fügung der voraufgehenden Philosophie in eine ihr grundsätzlich fremde Dimension des Seinsverständnisses." (20) Der Akt, in dem das griechische Substanzdenken in seinem temporalen Sinn freigelegt wird, hat für E. also den Bewegungssinn eines revolutionären Absprungs aus dem griechischen Seinsverständnis heraus, hinein in eine phänomenologisch-hermeneutische Neubegründung desselben, in der die Konversion unseres traditionellen Substanzdenkens de facto vollzogen und von Heideggers Daseinsanalyse systematisch aufgefangen wird: für E. ein historischer Quantensprung, in dem die abendländische Philosophie der Substanz ans Ende gekommen und eine dynamische Neubegründung in der Zeitlichkeit unseres Da-seins erfahren hat. "Das Eigentümliche und zumal die traditionelle Ontologie grundsätzlich Umstürzende der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers liegt nach unserer Auffassung darin, dass dabei die innere und ursprüngliche Dynamik des Seinsverständnisses zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie radikal herausgestellt und begrifflich artikuliert wird. Gerade diese Dynamik wird von Heidegger als die ursprüngliche Zeitlichkeit des existierenden Daseins gefasst." (340 f.) Mit der systematischen Entdeckung der Zeitlichkeit (Temporalität) als jenem Sinn, den jedes Substanzdenken unthematisch immer schon voraussetzt, ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein, ist für E. der Absprung aus der traditionellen Philosophie geleistet und der maßgebliche Horizont für ein künftiges Denken von Heidegger neu begründet worden. "Mit dem Ansatz der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers zeitigt sich also zumal das Ende der Philosophie. Das herkömmliche Denken, das seine Wurzel in der Seinserfahrung der Griechen hat, ist [damit] eminent unzeitgemäß geworden." (166)

Der Grund für diese Unzeitgemäßheit liegt für Heidegger letztlich darin, dass es dem griechischen Denken nicht gelungen ist, das Phänomen der Sterblichkeit als das ursprüngliche Phänomen der Zeit in den Blick zu bringen, durch das jeder von uns zeitlebens "in die nächste Nähe des Nichts gestellt wird" (151). Vielmehr entwickelt Aristoteles sein Zeit- und Bewegungsideal im Hinblick auf die in-sich-kreisende Bewegung der Himmelskörper. Ein so von außen her bestimmtes Da-sein bleibt für Heidegger aber trotz seiner "himmlischen" Ausrichtung wesentlich un-eigentlich. "Erst im Gegenzug zu dieser ruinanten Ausrichtung des Lebens kann nach Heidegger das eigentlich philosophische Verständnis des Lebens als solchen zustande gebracht werden." (159) In der Konfrontation mit der Endlichkeit unseres In-der-Welt-seins wird die Daseinsanalyse für Heidegger daher allererst zu jener "gegenruinanten Bewegung", die uns aus unserer Verfallenheit an die Welt zurückholt, um uns auf unser ureigenes Sein zum Tode aufmerksam zu machen.

Anfang und Ende in der Philosophie: ein lesenswertes Buch für all jene, denen aus der Erfahrung der Sterblichkeit heraus die Metaphysik der Substanz fraglich geworden ist.