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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

420 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dietrich, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Nikolai Berdjajew I. Sein Denken im Prozess. Leben, Werke, Diskurs mit Partnern des Denkens.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2002. XVI, 1036 S. m. 1 Porträt 8 = Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte, 10. Geb. Euro 101,90. ISBN 3-8258-4263-0.

Rezensent:

Stefan Reichelt

Endlich liegt die Neuauflage der wohl umfangreichsten und umfassendsten Berdjajew-Studie gut zugänglich in einem Band vor. Ihr gingen akademische Qualifikationsarbeiten voraus und sie versteht sich als "komprimierte Vorform oder auch Alternativform zu einer Gesamtausgabe Berdjajews" (Ausgabe von 1975-1979 unter dem Titel: Provokation der Person. Nikolai Berdjajew in den Impulsen seines Denkens. Gelnhausen-Berlin: Burckhardthaus-Verlag, Bd. 1, XII). Das Werk des russischen "Primärdenkers" wurde zeitweilig intensiv in Deutschland, im angelsächsischen und lateinamerikanischen Sprachraum, aber auch in China und Japan rezipiert (vgl. Tamara Klépinine: Bibliographie des uvres de Nicolas Berdiaev. Paris: Institut d'études slaves, 1978).

Ungeachtet der großen und ständig zunehmenden Anzahl von Berdjajew-Studien unterschiedlichster Fragestellungen und Umfangs - 1472 Referenzen wiesen W. Wallace Cayard und Tamara Klépinine in der Bibliographie des études sur Nicolas Berdiaev. Paris: Institut d'études slaves, 1992, auf - ragt das vorliegende Werk durch seine grundlegende und umfassende Sichtweise doch deutlich aus jenem Meer heraus.

In vorliegende Ausgabe wurden ein erweitertes und aktualisiertes Vorwort (Bd. 1, IX-XII) und ein zusammenfassendes Nachwort (Bd. 5, 941-952) sowie ein ausführliches Stichwort- (959-1026) und Personenverzeichnis (1027-1036) eingefügt, das ebenso für die erste, anlässlich des 100. Geburtstages durch den Burckhardthaus-Verlag besorgte Auflage nutzbar ist.

Über fünf Bände bzw. Teile erstreckt sich die übersichtlich gegliederte Studie. Der erste Band bzw. Teil I. ist I. Dem Leben Berdjajews (1-32), II. Dem Stil Berdjajews (33-40), III. Den Werken Berdjajews (41-96) gewidmet und wird IV. durch eine Tabellarische Werkübersicht als Anhang mit Angaben über Titel und Untertitel, Erscheinungsjahr, Grundbestimmungen, Haupt- tendenzen, Leitbegriffe und Zusammenhang mit Denkpartnern (97-110) ergänzt.

Im zweiten und dritten Teil werden Partner des Denkens in fünf Kategorien, nämlich in I. Idealdenker, II. Sozialdenker, III. Geistige Revolutionäre, IV. Transzendenzdenker und V. Vital- und Existenzdenker "zwanglos geordnet", wobei die Gruppen III-V als zweiter Teil der Partner des Denkens den dritten Teil bilden. Die ursprünglich für den vierten Band bzw. nun als Band II angekündigte "systematische Summe unter zehn Hauptaspekten" einschließlich "einer kritischen Sichtung der Sekundärliteratur - des Spektrums von Reaktionen auf Berdjajew" (vgl. Dietrich: Provokation der Person. A. a. O., Bd. 1, XI) steht noch aus, und den fünften Teil bilden Anmerkungen und Exkurse.

Von kaum schätzbarem Vorteil für das Studium des Religionsphilosophen angesichts des schon rein quantitativ schwer erfassbaren Umfangs des Werkes Berdjajews - Tamara Klépinine weist in ihrer nach eigenen Angaben nicht wirklich vollständigen Werkbibliographie 473 Referenzen auf (vgl. dies.: Bibliographie des uvres de Nicolas Berdiaev. A. a. O., 11) - ist der leicht durchschaubare und konsequent-übersichtliche Aufbau des Werkes Dietrichs: Den Ausführungen folgen jeweils fettgedruckte kurze "Durchblicke" im ersten bzw. zehn "Thesen" in den Bänden II und III, die das Erörterte nochmals prägnant wiedergeben und so die Grundlage für weitere Studien - etwa an speziellen Problemen unter Einbeziehung weiterer Materialien, wie unveröffentlichter und veröffentlichter Aufsätze in Zeitschriften, Vorworte und Beiträge in Sammelbänden - bieten können.

Von besonderem Nutzen sowohl für den wenig mit Berdjajew Vertrauten als auch für den im Studium Fortgeschrittenen ist die Tabellarische Werkübersicht im ersten Teil, die einen Überblick über alle größeren Werke bietet und schnelle Information über Grunddaten eines beliebigen Buches, wie Titel, Erscheinungsjahr, eine kennzeichnende Aussage etc. ermöglicht.

Die eingehende Skizze der Partner des Denkens im zweiten und dritten Teil ermöglicht einen aspektreichen Einblick in Probleme des religionsphilosophischen Gedankenkosmos Berdjajews in den jeweiligen Diskursen sowie einen Überblick, wobei in der Spiegelung und Rezeption der Denkpartner das Gesamtwerk erstaunlich deutlich konturiert, zentriert und lebendig vor den Augen des Lesers entsteht.

Auf diese Weise entgeht D. geschickt der Gefahr einer segmentierenden Darstellung der komplexen Philosophie nach mehr oder weniger einsichtigen Kriterien. Vielmehr kommt Berdjajew selbst in kompendienhafter Form durch seine Denkpartner sowie in charakteristischen Zitaten und Leitbegriffen seiner grundlegenden Werke, die in synoptischem Verfahren bisweilen selbst aus seltenen Schriften zusammengefasst sind, in überzeugender Weise zu Wort.

Im fünften Teil werden dann u. a. bezeichnende russische Termini eingebracht sowie der ideelle Fundus aus unübersetzten und entlegenen Kleinschriften deutlich angereichert, um das Dargestellte 1. zu komplettieren, 2. zu differenzieren, 3. zu verdichten, 4. zu problematisieren, 5. wenig Erforschtes zu transferieren und 6. die Studie zu authentisieren (vgl. Vorbemerkungen zu Band 5, IX f.).

Zudem versah D., wie bereits erwähnt, vorliegende Ausgabe mit einem erweiterten und aktualisierten Vor- und einem ausführlichen zusammenfassenden Nachwort, in dem u. a. der neueren und neuesten Rezeption in Russland Rechnung getragen wird. Das ausführliche Stichwort- und Personenverzeichnis erleichtert die Arbeit mit der umfangreichen Studie entscheidend und ist in der Berdjajew-Literatur bislang einmalig.

Geringfügige, über die aufgewiesenen (955-958) hinausgehende Korrekturvorschläge, etwa hinsichtlich gelegentlicher Rechtschreibversehen vor allem bei der Transliteration slawischer Worte und Wortverbindungen, stellen nicht den Schattenwurf der höchst beachtlichen Editionsleistung dar, sondern unterstreichen diese nur.

So dürfen wir die reife Gabe D.s allen an russischer Kultur- und Geistesgeschichte Interessierten als grundlegende Berdjajew-Studie, die uns nun - in Detailangaben ergänzter und veränderter - in insgesamt erweiterter und ansprechender Form vorliegt, wärmstens empfehlen und zugleich auf den bereits seit längerem in Aussicht gestellten, nun aber im selben Verlag als Band 25 der Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte angekündigten komplementären Band II zum vorliegenden Werk mit dem Titel: Nikolai Berdjajew II. Sein Denken in der Struktur und in der Kritik; Systematische Aspekte, Reaktionen, Bibliographie (952) in gespannter Erwartung verweisen.