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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

418 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U., und Philipp Stoellger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Vernunft, Kontingenz und Gott. Konstellationen eines offenen Problems.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. X, 422 S. gr.8 = Religion in Philosophy and Theology, 1. Kart. Euro 39,00. ISBN 3-16-147365-5.

Rezensent:

Andreas Arndt

Der anzuzeigende Band ist der erste einer inzwischen auf sieben Bände angewachsenen neuen Reihe, die das Religionsproblem im Spannungsfeld von Philosophie und Theologie behandelt. Er hat zugleich programmatischen Charakter für das ganze unter der Hauptherausgeberschaft von Ingolf U. Dalferth stehende Unternehmen, indem er belegen soll, wie mit einer "differenzbewußten Kombination theologischer und philosophischer Fragestellungen und Zugangsweisen gearbeitet werden kann" (VII). Die neue Reihe "will ein Forum bieten, die Differenz der Zugänge zu erproben und die Möglichkeiten der Kombination zu erkunden, ohne theologische oder philosophische Zugänge zu privilegieren oder die einen den anderen vor- oder überzuordnen" (ebd.).

Das Problem des Verhältnisses von Vernunft, Kontingenz und Gott ist bei Leibniz ein zentrales Thema philosophischer Theologie; nach Auffassung der Herausgeber und Beiträger ist diese theoretische Vorgabe mit dem Ende der philosophischen Theologie weder für die Philosophie noch für die Theologie erschöpft und abgegolten, und so reicht das beeindruckende historische Spektrum der Beiträge dann auch bis zum Spiel der différance bei Jacques Derrida.

Der Band vereinigt die Beiträge dreier Forschungskolloquien, die 1998 und 1999 am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie der Universität Zürich stattgefunden haben. Im Hintergrund stand und steht eine philosophische Diskussion, die das moderne Kontingenzbewusstsein als Ergebnis der Schwächung Gottes bzw. des transzendentalen Subjekts (von Graevenitz und Marquard) bzw. umgekehrt Religion als Kontingenzbewältigung (Lübbe) ansieht. Die äußerst lesenswerte Einleitung der Herausgeber ("Religion als Kontingenzkultur und die Kontingenz Gottes") fasst diese Diskussion unter systematischen Gesichtspunkten zusammen und entwickelt in Auseinandersetzung damit die Perspektive einer theologischen Kontingenzinterpretation, in welcher Kontingenz als für Gott selbst ebenso wie für die Welt konstitutiv angesehen wird (44). Dabei betonen Dalferth und Stoellger jedoch, dass es generell "keinen direkten Weg von der mundanen Interpretation transzendentalsemiotischer Kontingenz zu ihrer theologischen" gebe (36).

Nach Beiträgen von Simo Knuuttila ("Kontingenz, Religionsphilosophie und die Semantik möglicher Welten") sowie Eef Dekker ("God and contingency in Scotus and Scotists") befasst sich Stoellger mit der "Vernunft der Kontingenz" und der "Kontingenz der Vernunft" bei Leibniz; seine Ausführungen münden in die These, dass durch die vernünftige Auslegung der Kontingenz "der Sinn der Vernunft sich ändert" (107). Die Vernunft selbst erweise sich als kontingent, so wie theologisch Gott selbst Kontingenz zufalle (115).

Auch Dalferth geht es in seiner Wiederlektüre der Leibnizschen Theodizee ("Übel als Schatten der Kontingenz") um eine Öffnung der Vernunft für das Wider- und Übervernünftige. Er plädiert für "Leibniz' Umweg über Gott", um die "Ratlosigkeit der Vernunft" angesichts des Übels zu überwinden (168). Auch wenn dies nicht um theologischer Trostversuche willen geschehen soll (ebd.), bleibt doch die Frage, ob ein solcher Umweg über Gott nach dem von Kant konstatierten Misslingen der philosophischen Versuche in der Theodizee (1791) überhaupt noch gangbar ist; Dalferths Einwand, dass Kant Gott "als gnädigen Helfer" verkannt habe (160), dürfte Kants These philosophisch nur schwer entkräften können. Zwar ist "Vernunft kein Vorrecht der Philosophie" (119); dies kann aber nur ihren Gebrauch betreffen, denn die angebliche "Perspektivengebundenheit aller Vernunft", die Dalferth als Resultat der "Selbstklärungsprozesse der Vernunft" in der Moderne behauptet (ebd.), ist doch wohl eher die Auflösung des Begriffs der Vernunft, die ihrem Wesen nach auf Allgemeinheit verpflichtet ist. In der Selbstklärung der Vernunft dagegen geht es um die - wie auch immer begrenzte - Autonomie: d. h. Vernünftigkeit der Vernunft, welche die Sache der Philosophie ist.

Ein kurzer, aber präziser Beitrag von John Clayton ("The Enlightenment Project & the Debate about God in Early-Modern German Philosophy") schlägt den Bogen bis zu Schleiermacher, dessen Verhältnis zu Kant auch der nachfolgende Beitrag von Michael Moxter ("Subjektivität und Kontingenz") gewidmet ist; hierbei hebt er hervor, dass eine endliche Rationalität sich auch angesichts der Kontingenz der Verpflichtung auf eine vernünftige Allgemeinheit nicht entziehen könne (212). Jörg Dierken behandelt die "Kontingenz bei Spinoza, Hegel und Troeltsch", wobei jedoch die (schwierige) Hegelsche Theorie des Zufalls systematisch zu kurz kommt. Die weitgehende These jedenfalls, dass sich das Zufällige bei Hegel selbst als absolut etabliere und damit Hegels Auffassung des Absoluten "zersetze" (223), hätte einer eingehenderen Begründung bedurft, um diskutiert werden zu können. Nach einem durch sorgfältige Texthermeneutik charakterisierten Aufsatz von Hermann Deuser ("Die Kontingenz des Inkommensurablen") über Kierkegaard kommt auch Dietrich Korsch ("Kontingenzverstehen und Gotteserkenntnis") auf Hegel (und Barth) zu sprechen. Er rekonstruiert das Begreifen des Unbegrifflichen - hier: der religiösen Vorstellungswelt des christlichen Gottesgedankens - durch Hegel als "dialektische Hermeneutik", wobei jedoch das begriffliche Fortschreiten nicht zwangsläufig aus den Vorstellungen selbst herauswachse (261). Dies würde Hegel aber genauso sehen, weil der Begriff immanent und nicht anhand äußerlich gegebener Vorstellungsinhalte fortschreitet, die eben darum auch nur als begriffene, d. h. als Momente des Begriffs und nicht als Vorstellungen, einen Zusammenhang haben. Hierauf beruht Hegels Aufhebung der Religion in den Begriff, die Korsch nur als "manchmal irritierenden Eindruck" bei Hegel wahrnimmt (263).

Die folgenden Beiträge befassen sich mit Hermann Cohen (Helmut Holzhey: "Wissenschaft und Gottesidee"), Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (Hans-Christoph Askani: "Kontingenz und Offenbarung") und Robert Musil (Hendrik Johan Adriaanse: "Zufall, Wahrscheinlichkeit und der andere Zustand"), bevor mit dem Beitrag von Alois Rust ("Vernünftigkeit und Kontingenz") auch die Gegenwartsphilosophie (Vattimo und Goodman) zum Thema gemacht wird. Ein Beitrag von Jan Bauke-Ruegg über "Gott und Kontingenz bei Jacques Derrida" beschließt den Band.

Der Sammelband besticht durch die historische Spannbreite ebenso wie durch die in allen Beiträgen durchgehaltene systematische Ausrichtung; er dürfte nicht nur für Theologen, sondern auch für Philosophen als eine grundlegende Übersicht zum Thema "Kontingenz" seit Leibniz von besonderem Interesse sein. Auch mit dem vorbildlich detaillierten Sachregister setzt der Band Maßstäbe nicht nur für die mit ihm gestartete Reihe.