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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

415 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Graf, Friedrich Wilhelm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ernst Troeltsch in Nachrufen. Hrsg. unter Mitarbeit v. Ch. Ness.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2002. 770 S. m. Abb. 8 =Troeltsch-Studien, 12. Kart. Euro 34,95. ISBN 3-579-00107-8.

Rezensent:

Claus-Dieter Osthövener

Als Ernst Troeltsch am 1. Februar 1923 im Alter von 57 Jahren starb, war das Echo auf seinen für viele unerwarteten Tod überwältigend. Regionale und überregionale Tageszeitungen, buchstäblich ein halbes Jahrhundert theologischer Wissenschaft, vom alten Adolf von Harnack bis zum jungen Martin Doerne, Vertreter anderer Wissenschaften sowie Personen des öffentlichen Lebens erwiesen dem Verstorbenen ihre Reverenz. Hinzu kamen ausländische Stimmen, insbesondere aus dem angelsächsischen Raum, ein bemerkenswertes Zeichen für Troeltschs "europäische Sichtbarkeit" (434). Friedrich Wilhelm Graf und Christian Nees ist es zu danken, dass dieses vielstimmige Echo nunmehr in einem umfangreichen Band der Troeltsch-Studien dokumentiert vorliegt. Zusammen mit einer ausführlichen Einleitung sowie Biogrammen der Autoren, in denen auch ihr jeweiliges Verhältnis zu Troeltsch beleuchtet wird, ist der Troeltsch-Forschung und darüber hinaus der Erforschung der Kulturgeschichte der Weimarer Republik ein wichtiges Hilfsmittel an die Hand gegeben.

"Ernst Troeltsch in Nachrufen" - schon der Titel gibt zu erkennen, dass in den insgesamt 137 Dokumenten ein ganz eigenes Porträt dieses Denkers zu Stande kommt; nach Meinung des Herausgebers eröffnen sich gar "ungeahnte Perspektiven auf die Modernitätsdiskurse des frühen zwanzigsten Jahrhunderts" (25). Als Quellen im engeren Sinne - sie stammen in der Regel von ehemaligen Kollegen und Schülern - sind natürlich vor allem solche Texte von Bedeutung, die persönliche Erinnerungen an Troeltsch mitteilen.

Die häufigste Charakterisierung ist das "Sprudelnde" in Troeltschs Auftreten, seine in jeder Hinsicht einnehmende und bestürmende Art, die sich vor allem im rednerischen Vortrag zu großräumigen Skizzen aufschwingt, "eine Aufeinandertürmung von Gedankenquadern" (195). Dem korrespondiert im Gegenzug der Hinweis auf Troeltschs "zartes Lebensgefühl" (270), seine einfühlsame Aufgeschlossenheit gegenüber historischen, ästhetischen und religiösen Phänomenen. Beides zusammen, "Kraft und Maß" (443), verlieh ihm seine unnachahmliche "Spürfähigkeit" (342), seine Befähigung nicht nur zum Zeitdiagnostiker, sondern auch zum "Kulturbildner" (191), war er doch "ein Mann der Synthese und der Vermittlung" (449).

Bei einem solchen editorischen Unternehmen, dessen typographische Gestaltung übrigens gegenüber den vorangegangenen Bänden der Troeltsch-Studien deutlich abfällt, lassen sich Wiederholungen selbstverständlich nicht vermeiden; als repräsentative Auswahl für den eiligen Leser seien empfohlen die Nachrufe von Heuss, Lewinsohn, Marcuse, Harnack, Tillich, Dibelius, Doerne, Scholz, Wernle, Saenger, Pipkin, Dakin, Hoffmann, Neumann, Becker und Meinecke sowie aus der Reihe der kritischen Stimmen Maurenbrecher, Funk und Przywara. Eine schöne editorische Zugabe ist die Faksimilewiedergabe von Harnacks handschriftlichem Konzept zu seiner Trauerrede, das von Friedemann Steck zuverlässig transkribiert wurde (233 wohl doch: erneuen).

Die 23 Abschnitte der umfangreichen Einleitung widmen sich recht unterschiedlichen Themen. Neben dem orientierenden Überblick über die Nachrufe (21-44) sind vor allem die dichten Abschnitte über die letzten Lebensjahre Ernst Troeltschs (44-63) und über die Berliner Trauerfeier (63-80) hervorzuheben. Weniger einschlägig sind die Bausteine zu einer Biographie Marta Troeltschs, die vergleichsweise ausführlich zusammengetragen werden (119-151). Die schnurrigen Details über die Schicksale von Troeltschs Grabstätte (83-90) wären wohl in den Mitteilungen der Troeltsch-Gesellschaft besser aufgehoben. Recht spannend wiederum gerät die "Suche nach dem Nachlaß" (151- 173), die zwischendurch nachgerade konspirative Dimensionen gewinnt, am Ende aber erfolglos bleibt und damit "jeden Versuch abschließender Deutung als hypertroph erscheinen" lässt (171), eine Diagnose, die allerdings auch bei einer günstigeren Überlieferungslage zutreffen würde. Beachtenswert ist schließlich der Versuch, das Verhältnis Adolf von Harnacks zu Troeltsch jenseits der gängigen Klischees zu beleuchten (bes. 63-75), eine Aufgabe, die bislang weder die Troeltsch- noch die Harnack-Forschung in befriedigender Weise angefasst haben.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass diese sehr begrüßenswerte Edition über den Weg der öffentlichen Reaktion auf Ernst Troeltschs Tod eindrücklich vor Augen führt, welches Potential an Weltoffenheit, Dialogfähigkeit und "Wirklichkeitssinn" (253) die deutsche evangelische Theologie zu dieser Zeit besessen hat.