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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

411–413

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Seidel, Thomas A. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gottlose Jahre? Rückblicke auf die Kirche im Sozialismus der DDR. Hrsg. im Auftrag d. Evangelischen Akademie Thüringen u. d. Gesellschaft f. Thüringische Kirchengeschichte. Red.: M. Beyer.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 240 S. gr.8 = Herbergen der Christenheit, Sonderband 7. Kart. Euro 13,80. ISBN 3-374-01959-5.

Rezensent:

Friedemann Stengel

Der vorliegende Band ist in der Folge einer Tagung entstanden, die die Evangelische Akademie Thüringen anlässlich des 30-jährigen Gründungsjubiläums des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) 1999 veranstaltet hat. Von den 16 unter der Perspektive "Rückblicke" nur notdürftig zusammengehaltenen Beiträgen zeitgeschichtlich-wissenschaftlicher, zeitgenössisch-biographischer, feuilletonistischer und homiletischer Natur sei hier auf die Referate hingewiesen, die die Forschung zu den evangelischen Kirchen in der DDR nachhaltig bereichern.

Den Motiven und Hintergründen der Gründung des BEK und seiner organisatorischen Trennung von der EKD geht Christian Dietrich (23-34) nach und kommt angesichts der Gemengelage oftmals polemischer Thesen, die zwischen Stasi-Produktion, SED-Kirchen-Kumpanei und der Behauptung gänzlicher kirchlicher Freiwilligkeit pendeln, zu beruhigend differenzierten Ergebnissen. Die kirchenpolitische Situation bis zur Verfassungsfrage 1968 wird ebenso einbezogen wie die Abwehr gegen aus Thüringen kommende weitergehende Loslösungsbestrebungen von der EKD und vor allem die bisher nicht ausreichend gewürdigte Rolle Friedrich-Wilhelm Krummachers, dessen Nichtanerkennung als maßgeblicher EKD-Repräsentant in der DDR als einer der wichtigen Anlässe für die Bundesgründung anzusehen ist. Der BEK war von der SED in dieser Form nicht geplant, wurde aber von ihr auch nicht abgelehnt (30). Immerhin brauchte es fast zwei Jahre, bis er von der Regierung akzeptiert wurde. Er sollte kirchliche Organisationsmöglichkeiten und Freiräume trotz des Führungsanspruchs der Partei bewahren und entsprach in diesem Sinne nicht adäquat ihren Wunschvorstellungen.

In ganz anderer Weise blickt der Magdeburger Altbischof Werner Krusche auf "Weg und Arbeitsgemeinschaft" in der Gesamtgeschichte des BEK zurück (109-140). Das Referat wurde anlässlich der letzten Tagung der Synode des BEK 1991 gehalten und ist in seiner Kontextualität und Perspektivität Analyse und Rückblick zugleich. Als wichtiges (streitbares) zeitgeschichtliches Dokument, dessen Verfasser ganz wesentlich an der Gestaltung des Kirchenbundes beteiligt war, liegt es nun auch publiziert vor.

In Anlehnung an seine 2000 erschienene Dissertation "Kirchenleitung in der DDR: eine Studie zur politischen Kommunikation in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens 1971-1989" (2. Aufl. Leipzig 2001, Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, Bd. 6) analysiert Sebastian Engelbrecht die theologische Grundstruktur des "sächsischen Weges in die DDR" (57-67) und legt dem drei Kennzeichen kirchenpolitischen Handelns zu Grunde: die Behauptung der geistlichen Dimension vor dem politischen Handeln, eine für Sachsen geradezu typische "antivisionäre" Nüchternheit in der politischen Ethik und die Geltung einer auf Rückzug aus der Politik abzielenden Zwei-Reiche-Lehre. Diese hatte in der Auslegung des Leipziger Kirchenhistorikers Franz Lau eher den Akzent einer dialektischen Verschlingung der beiden Reiche und nicht einer dualistischen Eigengesetzlichkeit, wie sie vom Thüringer Bischof Mitzenheim behauptet wurde, erhalten. Fraglich ist allerdings, ob Laus Normativität für die Landeskirche, gerade angesichts seines persönlich eher spannungsreichen Verhältnisses zu ihr und vielen ihrer Vertreter, nicht zu leichtfertig behauptet wird. Außerdem konnte gerade in Konfliktfällen wie in der Auseinandersetzung mit dem Dresdener Pfarrer Christoph Wonneberger (64) von kirchenleitender Seite "dualistisch" argumentiert werden, die Kirche besitze kein politisches Mandat.

Eine bemerkenswerte, den unmittelbar historiographischen Bereich bereichernde, weil verlassende Untersuchung zur Unterwanderung der Kirchen durch das MfS hat Götz Planer-Friedrich unter dem Titel "Trojanische Pferde" beigesteuert (47-56). Hier geht es nicht um die bloße Faktizität und Effektivität der Inoffiziellen Mitarbeit kirchlicher Amtsträger, sondern um deren Motivationen, die mit psychosozialen Besonderheiten sowie theologisch und kirchenrechtlich bedingten Defiziten zusammenhingen. Nicht nur Eigenarten im Persönlichen wie Geltungsmangel, Harmoniebedürfnis, Konfliktvermeidung und Persönlichkeitsstärkung mit Hilfe von "Seelsorge" (durch MfS-Offiziere!) werden für die Begünstigung konspirativer geheimdienstlicher Arbeit typologisch in Betracht gezogen, sondern auch kircheninstitutionelle Strukturelemente wie Karriere und Hierarchie, Machtzuwachs gegenüber Mitarbeitern und Stärkung oder Herstellung von Autorität, der stets von der SED unterstützte hierarchische Zentralismus der Kirchen und schließlich diverse Lesarten der Zwei-Reiche-Lehre. Planer-Friedrichs Liste ist zwar durchaus erweiterbar, die Anknüpfungspunkte für die konspirative Unterwanderung der evangelischen Kirche sind nach seiner Analyse aber unverändert vorhanden. Eine tiefer in die Strukturen gehende kritische Selbstreflexion steht daher noch aus.

Mit dem Phänomen der im internationalen und europäischen Vergleich extremen Entkonfessionalisierung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR befasst sich der Erfurter römisch-katholische Theologe Eberhard Tiefensee (197-215). Historische und religionssoziologische Erklärungsmodelle werden vorgestellt, wobei das Argument etwas zu kurz kommt, dass gerade ehemals staatskirchliche Länder die stärkste Regressivität von Kirchlichkeit aufweisen. Hier sei ein "homo areligiosus" entstanden, der nicht als Atheist, sondern eher Untheist bezeichnet werden könne, dessen ethischer Wertebestand nicht verfallen und der gleichzeitig für Religion an sich unansprechbar sei - eine These, die sich empirisch zwar zu bestätigen scheint, die aber auf den theologisch-anthropologischen Prüfstand zu stellen ist. Konsequenterweise plädiert Tiefensee für eine "Ökumene der dritten Art" mit den Konfessionslosen und für die weitere Entwicklung entsprechender liturgischer Formen. Der Horizont des Rückblicks wird damit auch nach vorn geweitet.