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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

409–411

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Peter, Ulrich

Titel/Untertitel:

Christuskreuz und rote Fahne. Der Bund der religiösen Sozialisten in Westfalen und Lippe während der Weimarer Republik.

Verlag:

Bielefeld: Luther-Verlag 2002. 526 S. m. zahlr. Tab. gr.8 = Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, 24. Kart. Euro 32,90. ISBN 3-7858-0445-8.

Rezensent:

Martin H. Jung

Arbeiten über den religiösen Sozialismus sind nicht zahlreich. Schon allein deswegen verdient die Monographie des Berliner Theologen und Berufsschullehrers Ulrich Peter (geb. 1952) über den "Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands" (BRSD) Beachtung. Der Vf. hat bereits 1995 ein Buch über den religiösen Sozialismus in Berlin vorgelegt und das Thema auch in zahlreichen Aufsätzen behandelt. In der zu rezensierenden Arbeit konzentriert er sich nun auf den religiösen Sozialismus seiner westfälischen Heimat. Der Vf. gibt Rechenschaft über den Forschungsstand, behandelt das Entstehen des religiösen Sozialismus in Westfalen und Lippe und seine Geschichte bis 1932 und konzentriert sich dann auf eine minutiöse Darstellung der Kirchenwahlen des Jahres 1932 im Ruhrgebiet, im Sauerland und in Ost-Westfalen. Im Anschluss daran folgt ein kurzes Kapitel, das einen Einblick in die anschließende Zeit, von 1932 bis zur Gegenwart gibt. Das Buch schließt mit drei angehängten, unterschiedlich langen Einzelstudien zu vier bedeutenden Männern des religiösen Sozialismus (Glauert, Emil Figge, Carl Gatzen, Aurel von Jüchen) und zu religiös-sozialistischen Sonderorganisationen wie der "Bruderschaft sozialistischer Theologen" und der katholischen und der jüdischen Arbeitsgemeinschaft im Bund.

Besonders hervorhebenswert sind die Ausführungen des Vf.s zu den religiösen Sozialisten in Gladbeck und ihrem Pfarrer Karl Heinrich Friedrich Glauert (1867-1946), der später der NSDAP und den Deutschen Christen beitrat. Der Vf. weist darauf hin, dass - entgegen einer schon in der Bekennenden Kirche aufgekommenen Legendenbildung - Glauert der einzige frühere religiöse Sozialist gewesen sei, der sich in Gladbeck den Deutschen Christen angeschlossen habe, und führt diese Entwicklung Glauerts auf eine bei ihm zu findende, mehr als vierzig Jahre währende "Kontinuität Stoeckerschen Denkens" zurück (456).

Als Grundlage der Arbeit dienten ausgedehnte Archivstudien in zahlreichen regionalen und überregionalen Archiven Deutschlands. Deswegen kann der Vf. eine Fülle neuer Fakten ausbreiten, die nicht nur einen Einblick in die Geschichte des religiösen Sozialismus bieten, sondern auch in die Ortsgeschichte der jeweils behandelten Orte, in die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und in die Anfänge des Nationalsozialismus und des Kirchenkampfes.

In einer "Zusammenfassung" wird auf wenigen Seiten (475- 478) Wesentliches über den westfälischen "Bund der religiösen Sozialisten" festgehalten: Der Bund war einerseits von der liberalen Richtung des Protestantismus geprägt, andererseits von Sozialdemokraten, die sich als Christen verstanden. Er war eine ausgesprochene Laienbewegung und strebte "eine für die Armen parteiliche Kirche an, [...] aber keine sozialistische Parteikirche" (476). Er war eine "eindeutig zur sozialistischen Arbeiterbewegung zu zählende Organisation" (476) und vor 1933 "faktisch die einzige kirchliche Kraft", die den Deutschen Christen entgegentrat (477). Bereits 1933 wurde er deswegen in die Illegalität getrieben. Wichtig ist die vom Vf. formulierte differenzierende, gängigen Deutungsmustern widersprechende Definition des religiösen Sozialismus: "Die religiösen Sozialisten waren keine Christen, die Bündnispartner sozialistischer Kräfte wurden, sondern Sozialisten aus christlichem Glauben." (477) Abschließend charakterisiert er den religiösen Sozialismus als eine "Theologie der Befreiung", entwickelt und gelebt fünfzig Jahre vor der Entstehung der lateinamerikanischen Befreiungstheologie.

Die Stärke des Buches ist sein Reichtum an Fakten. Der Leser erfährt außerordentlich viel über Organisationen, Personen und Ereignisse. Allerdings sind die meisten der ausgebreiteten Details doch nur von ortsgeschichtlichem, nicht allgemeinem Interesse. Wenig gesagt wird über die Inhalte, um die es den religiös-sozialistisch gesinnten Männern und Frauen damals ging. Theologische Fragen spielen so gut wie keine Rolle. Der Vf. weist darauf hin, dass der Bund keine "theologische Richtungsorganisation" gewesen sei und "Theologie verstanden als akademische Theologie" für seine Arbeit kaum eine Rolle gespielt habe (477). Dennoch hätte sich der theologisch interessierte Leser gewünscht, dass der Vf. dem zumindest unterschwellig und rudimentär vorhandenen theologischen oder auch nur allgemein-religiösen Gedankengut mehr nachgegangen wäre.

Das ganze Buch wurde mit außerordentlicher Sorgfalt gestaltet. Alle Quellen werden genau nachgewiesen und belegt. Zu vielen in der Darstellung vorkommenden Personen wurden biographische Recherchen durchgeführt und z. B. Lebensdaten ermittelt. Deswegen ist das Buch eine Fundgrube auch für Forscherinnen und Forscher, die sich nicht für den religiösen Sozialismus interessieren, sondern für andere allgemein-, kirchen- und lokalgeschichtliche Fragestellungen, die sich damit berühren. Zu bedauern ist allerdings, dass das Buch nicht mit Registern ausgestattet wurde. Zumindest ein Personenregister wäre unbedingt geboten gewesen und hätte vielen Rezipienten langes Blättern erspart. Die wichtigsten ortsbezogenen Sachverhalte lassen sich allerdings über das Inhaltsverzeichnis erschließen.

Der Vf. will weiterhin über den religiösen Sozialismus arbeiten. Gespannt sein kann man jetzt bereits auf die angekündigte Biographie Aurel von Jüchens, eines prominenten ehemaligen BRSD-Pfarrers mit einem bewegenden Lebensschicksal, der zuletzt in Berlin lebte, wo er 1991 gestorben ist.