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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

406–409

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

1) Hummel, Karl-Joseph, u. Christoph Strohm [Hrsg.]: 2) Mensing, Björn, u. Heinrich Rathke 3) Mensing, Björn, u. Heinrich Rathke [Hrsg.] 4) Moll, Helmut [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

1) Zeugen einer besseren Welt. Christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Hrsg. im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland.

2) Mitmenschlichkeit - Zivilcourage - Gottvertrauen. Evangelische Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus.

3) Widerstehen. Wirkungsgeschichte und aktuelle Bedeutung christlicher Märtyrer. 4) Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts. Hrsg. im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz. 2 Bde.

Verlag:

1) Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt; Kevelaer: Butzon & Bercker 2000 (4. Aufl. 2002). 480 S. m. 26 Porträts. 8. Kart. Euro 14,40. ISBN 3-374-01812-2 (Evangelische Verlagsanstalt); 3-7666-0332-9 (Butzon & Bercker).

2) Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003. 391 S. 8. Kart. Euro 14,80. ISBN 3-374-02057-7.

3) Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 247 S. 8. Kart. Euro 14,00. ISBN 3-374-01944-7.

4) Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1999 (3., durchgesehene Aufl. 2001). LXVI, 651 S. (Bd. 1). XXV, S. 652-1308 (Bd. 2) m. zahlr. Porträts. gr.8. Lw. Euro 67,40. ISBN 3-506-75778-4.

Rezensent:

Markus Hein

Das 1999 im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz unter dem Titel "Zeugen für Christus" herausgegebene zweibändige "deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts" bietet auf über 1300 Seiten mehr als 700 Lebensbilder dar, die den römisch-katholischen Kriterien für Märtyrer ("die Tatsache des gewaltsamen Todes [martyrium materialiter], das Motiv des Glaubens- und Kirchenhasses bei den Verfolgern [martyrium formaliter ex parte tyranni] und die bewußte innere Annahme des Willens Gottes trotz Lebensbedrohung [martyrium formaliter ex parte victimae]", XXXII) genügen.

Die Tatsache, dass die Aufnahme in das Martyrologium nur bei gleichzeitigem Nachweis aller drei Kriterien geschah, stellt den historisch-kritischen Nutzen der Zusammenstellung an manchen Stellen eher in Frage. Der hinter der Auswahl stehende Begriff des Märtyrers und seine Relevanz im speziellen Fall wird an keiner Stelle hinterfragt oder zur Diskussion gestellt. Beispielsweise ist es im Falle einiger Ordensschwestern gerade so, dass es eben nicht immer ihr Glaubenszeugnis war, das in ursächlichem Zusammenhang zu ihrem gewaltsamen Tod führte. Nichtkatholiken wurden lediglich fünf im Register mit aufgeführt.

Unter ökumenischen Vorzeichen wurde das römisch-katholische Unternehmen 2002 mit dem Sammelband "Zeugen einer besseren Welt. Christliche Märtyrer des 20. Jahrhunderts" fortgeführt. Die 13 römisch-katholischen und 13 evangelischen Beiträge gehen jedoch nicht von einem gemeinsamen Verständnis aus. Während evangelischerseits als Auswahlkriterium "das unerschütterliche Vertrauen [der Märtyrer] auf die Barmherzigkeit Gottes, das sich durch die Welt nicht überwinden läßt" - und nicht ein "makelloses Leben" - (12) gilt, ist für die römisch-katholische Seite die Lehre von der "Gemeinschaft der Heiligen, die sich nach einem Leben in Treue zur Gnade in der Gemeinschaft mit dem verherrlichten Christus befinden" (13), weiterhin ausschlaggebend.

Die biographischen Beiträge umfassen im Einzelnen: Traugott Hahn (1875-1919), Fritz Gerlich (1883-1934), Die Märtyrer von Baku (1937), Paul Schneider (1897-1939), Hermann Stöhr (1898-1940), Edith Stein, Sr. Teresia Benedicta a Cruce (1891-1942), Hermann Reinmuth (1902- 1942), Werner Sylten (1893-1942), Willi Graf (1918-1943), Bernhard Lichtenberg (1875-1943), Elisabeth von Thadden (1890-1944), Alfons Maria Wachsmann (1896-1944), Max Josef Metzger (1887-1944), Maria Grollmuß (1896-1944), Josef Wirmer (1901-1944), Bernhard Letterhaus (1894-1944), Helmuth James Graf von Moltke (1907-1945), Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), Eugen Bolz (1881-1945), Alfred Delp SJ (1907-1945), Friedrich Justus Perels (1910-1945), Adolf Freiherr von Harnier (1903-1945), Adolf Wagner (1912-1943), Werner Ihmels (1926- 1949), Oskar Brüsewitz (1929-1976) und Johanna Decker (1918-1977). Die von vornherein begrenzte Auswahl machte es möglich, die ausführlicheren Biographien als Beispiele gelebten christlichen Lebens wahrzunehmen. Sämtlich erscheinen sie nicht in ein Schema gepresst. Allerdings ist der Untertitel des Buches gerade im Hinblick auf die Ausführungen des Vorwortes nicht sehr glücklich gewählt.

Björn Mensing und Heinrich Rathke haben 2002 und 2003 in der Evangelischen Verlagsanstalt, Leipzig, zwei Bücher mit fast identischen Anliegen herausgegeben. "Widerstehen" ist das Ergebnis eines Wochenendseminares der Evangelisch-Lutherischen Heimvolkshochschule Alexandersbad in Oberfranken unter der Leitung von Michael Kuch und Björn Mensing. Dort wurden auch die im zweiten Teil dieses Buches wesentlich erweitert abgedruckten Vorträge gehalten. Die eigens für diese Veröffentlichung zusammengestellten Verzeichnisse der Glaubensopfer im ersten Teil sollen, darauf wird mehrfach hingewiesen, nicht als Repräsentation der evangelischen Kirche in der jeweiligen Zeit stehen, sondern als je einzelne Opfer.

Als Ziel des Buches wird beschrieben, "keine Idealisierung der Todesopfer [zu] betreiben, sondern zu einer angemessenen, ökumenisch orientierten Erinnerungskultur im Blick auf diese Menschen mit ihren Licht- und Schattenseiten an[zu]regen" (11). Die Vorläufigkeit und Unvollständigkeit der Bestandsaufnahme sowie die exemplarische Wiedergabe der Daten wird betont. Der erste Teil des Bandes umfasst ein Personenverzeichnis, in dem "deutschsprachige Männer und Frauen, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert primär wegen ihres Glaubens oder Dienstes in der Kirche ums Leben kamen und im großkirchlichen Protestantismus [...] als Märtyrer geehrt wurden bzw. werden" (13), aufgeführt sind. Die Schwierigkeit, die das ganze Buch und die Märtyrerproblematik im protestantischen Bereich grundsätzlich kennzeichnet, wird mit der ausdrücklichen Ausklammerung der "Täufer und andere[r] aus dem radikalen Flügel der Reformation hervorgegangene[r] Gruppierungen, die [...] als regelrechte Märtyrerkirchen deutlich mehr Blutzeugen zu verzeichnen haben" (13), deutlich. Die ungelöste Spannung zwischen dem Begriff eines Märtyrers, der eine Wertung enthält, auf der einen Seite und dem eines Blutzeugen für den (christlichen) Glauben, der eher konstatiert, auf der anderen Seite zieht sich durch das ganze Buch. Der Begriff des Märtyrers - explizit im Untertitel des Buches angeführt - wird an keiner Stelle geklärt.

Für die Verzeichnisse "Baltische Märtyrer und Konfessoren" (23-35) und "Todesopfer des Nationalsozialismus" (63-102) ist Mensing verantwortlich. Darüber hinaus bringt der zweite Herausgeber, Heinrich Rathke, die "Todesopfer des Stalinismus" einerseits im Bereich der ehemaligen Sowjetunion (37- 62) und andererseits in der SBZ und DDR (103-109) zur Sprache.

Der zweite Teil des Buches ist an die Verzeichnisse gebunden, allerdings ohne dass eine engere editorische Verzahnung vorgenommen wurde. Mensings Beitrag "Martyrien und ihre Rezeptionsgeschichte im deutschen Protestantismus: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik" (117-146) beleuchtet in einem speziellen Abschnitt den Hintergrund der heute neuerdings aktu- ellen Auseinandersetzung mit der Märtyrerproblematik, die im 20. Jh. eine neue Qualität erhielt. War die Märtyrerschaft bis dahin im Wesentlichen innerkirchlich und konfessionell begründet gewesen, so kam nach der vollzogenen Trennung von Staat und Kirche und der Formierung dezidiert atheistischer Staaten die grundsätzliche Märtyrerthematik der ersten Jahrhunderte wieder ins Spiel: Allein das Christsein reichte zum Tode. Allerdings entstand nun die Frage, ob es immer "reine Glaubenszeugnisse" waren, die die Menschen zu Todesopfern werden ließen, oder ob auch politische Gründe oder die nationale Zugehörigkeit dabei eine Rolle spielten. Bei wenigen ist es so eindeutig wie bei Traugott Hahn, den die direkte Wahrnehmung geistlicher Pflichten gegenüber seiner Gemeinde das Leben kostete.

Der erweiterte Märtyrerbegriff seit den 1960er Jahren machte Dietrich Bonhoeffer nun zu einem paradigmatischen Märtyrer. In seine Linie sind auch die Verzeichnisse der Todesopfer des Nationalsozialismus und Stalinismus in dem Buch zu stellen. Mensing zitiert: "Es geht ausschließlich um Christen, die aus ihrem Glauben handelten, Gottes Wort ungeschmälert verkündeten, das Recht der Kirche verteidigten, für die Verfolgten beteten oder aus dem Glauben heraus politischen Widerstand leisteten." (146) Ein Beispiel dafür ist Werner Oehme, "Märtyrer der evangelischen Christenheit 1933-1945" (Berlin 1979), der den Begriff auf Personen erweiterte, "die an den direkten und indirekten Folgen von Repressalien gestorben sind" (146) - eine Gruppe, die bis dahin als "Konfessoren" bezeichnet wurde.

Rathkes Beitrag über die Wiederentdeckung der "vergessene[n] Märtyrer des Stalinismus" ist der Versuch, das Schweigen darüber zu brechen und zu ermutigen, ein deutlicheres Bild vom christlichen Martyrium während des Stalinismus zu bekommen, auch wenn die schlechte Überlieferung der offiziellen Archive und der zeitgenössischen zensierten Presse konstatiert werden muss. Rathke bezieht deshalb Informationen auf der Basis von "oral history" ein (148 f.) und stützt sich auf die Definition aus dem oben angeführten "Zeugen einer besseren Welt": "Wie verstehen wir Märtyrer im evangelischen Sinne? Schlicht gesprochen sind es Frauen und Männer [...], die an ihrem christlichen Glauben festgehalten haben, auch wenn sie dafür mit ihrem Leben bezahlen mußten" (151). Diese Definition wird im Folgenden konkretisiert für Menschen des deutschen Sprachbereichs aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, also vor allem Russlanddeutsche, und Christen aus der SBZ und DDR, die dem Terror an Leib und Seele ausgesetzt waren, ihrer Würde beraubt und zum Vergessen verurteilt wurden, deren Geschichte aber um unserer eigenen Zukunft willen nicht "beschwiegen" werden darf (149 f.). Hier verschiebt sich der klassische Märtyrerbegriff: "Christen werden für uns zu Zeugen für Treue in der Nachfolge Christi und für mutiges Bekennen des Glaubens (confessores). So können sie im evangelischen Sinne zu Heiligen werden, Menschen, die uns als Vorbild, als Orientierung für unser eigenes Leben dienen. Denn Christentum wächst aus der Begegnung mit lebendigen Christen" (151).

Von den übrigen Beiträgern (Rathke: Predigt; Folkert Rickers: Orientieren statt idealisieren: kritische Anmerkungen zum Märtyrerbegriff aus der Sicht der Religionspädagogik) sei hier noch eigens Burkhart Mecking erwähnt, der in seinem Beitrag über "Märtyrerbiographien als Quelle der Spiritualität" (181-204) verdeutlicht, dass der Begriff des Märtyrers im protestantischen Bereich sehr stark von der jeweiligen Situation des Betrachters abhängig ist, dass es einer jeweils neuen Definition bedarf, die sich wohl auch wandeln kann. Verdeutlicht wird dies am Beispiel Bonhoeffers, der erst mit der Akzeptanz der politischen Dimension und Verantwortung eines christlichen Lebens als exemplarischer "Zeuge einer besseren Welt" gilt. In diesem Beitrag sind auch die Denkmuster dargelegt, die zu einer spezifisch protestantischen Beschäftigung mit "Heiligen" und "Märtyrern" führen können, ohne der römisch-katholischen Begriffsbestimmung zu unterliegen, ausgehend von der Frage, "wie ich meinen Glauben, meine Spiritualität auf die Lebensgeschichte anderer Personen beziehen kann [...]" (182). Dies kann und muss allerdings auch unterschiedlich geschehen, wie Mecking z. B. im Hinblick auf die "Sichtweise der Frauen" anmahnt (200 f.). Der zweite Teil des Buches wird abgeschlossen mit einem Quellen- und Literaturverzeichnis zu den einzelnen Beiträgen.

2003 erschien von Mensing und Rathke ein weiterer Band, der die Listen des ersten aufgreift, sie aber an Umfang und Inhalt der Artikel erweitert. Die Kurzbiographien geraten ausführlicher und gehen nun deutlich über dürre Lebensdaten hinaus. Sichtbar ist auch die Entwicklung in der Auseinandersetzung mit dem Begriff des "Märtyrers", der weitgehend vermieden wird, sowohl im Titel und Untertitel ("Mitmenschlichkeit - Zivilcourage - Gottvertrauen: evangelische Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus") als auch im Text. Erzbischof Georg Kretschmar aus St. Petersburg benennt in seinem Geleitwort die schwierige Unterscheidung zwischen Opfern um des Glaubens Willen und Opfern aus nationalen oder politischen Gründen (7). Die Verzeichnisse werden von den Autoren mit sehr knappen Einführungen versehen, wobei der Schwerpunkt vom Märtyrerkriterium zur Opferschaft verlagert wurde. Das (deutsche evangelische) Christsein ist Auswahlkriterium, aber nicht immer Grund des Opferseins. Kretschmar formuliert: "Wir brauchen beides: die Gemeinschaft der Verfolgten und Ermordeten vor Gott und das Gedächtnis an die Märtyrer unserer Kirche" (11). Beidem soll und kann der Band dienen. Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis und ein Personenregister, allerdings ohne Lebensdaten, schließen ihn ab. Die Frage nach der Definition von Märtyrern der evangelischen Kirche bleibt weiter einer von Fall zu Fall ausführlicheren Erörterung vorbehalten. So wie Strohm und Hummel sich in der Einleitung von "Zeugen einer besseren Welt" nicht einig waren, so wird es hier keine Eindeutigkeit geben, solange der Begriff gleichzeitig ein das ganze Leben umfassendes Prädikat impliziert.