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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

402–405

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Bookhagen, Rainer

Titel/Untertitel:

Die evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus. Bd. 2: 1937 bis 1945. Rückzug in den Raum der Kirche.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 1127 S. gr.8 = Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 30. Lw. Euro 112,00. ISBN 3-525-55730-2.

Rezensent:

Volkmar Wittmütz

Nachdem 1998 der erste Band der Studie über die evangelische Kinderpflege im "Dritten Reich" erschienen war, der die Jahre von 1933 bis 1936 umfasste (vgl. die Rezension in ThLZ 125 [2000], 793 ff.), konnte nur vier Jahre später mit dem Erscheinen des vorliegenden zweiten Bandes das gesamte Werk des Vf.s abgeschlossen werden, so dass die Geschichte des evangelischen Kindergartens im "Dritten Reich" nun vollständig vorliegt. Der geradezu monumentale Umfang der Studie mit 687 (Band 1) und 1127 (Band 2) Seiten sprengt bislang gewohnte Dimensionen; es ist dies eine beeindruckende und herausragende Leistung vor allem natürlich des Vf., aber auch der Herausgeber und nicht zuletzt des Verlages.

Angesichts dieses Umfanges ist die Lektüre der Studie für den Leser zwar ein lohnendes, aber kein reines Vergnügen. Die Detailgenauigkeit, mit der der Vf. Ereignisse aus der Berliner Zentrale der Inneren Mission, aus den Landes- und Provinzialverbänden, aus den Kirchengemeinden und ihren Kindergärten sowie schließlich aus den überregionalen und regionalen Fachverbänden für evangelische Kinderpflege recherchiert hat und ausbreitet, die Intensität, mit der er die Konflikte zwischen Partei, Staat, verfasster Kirche und Innerer Mission schildert, das alles verlangt auch vom Leser ein erhebliches Maß an Konzentration. Und das Bemühen des Vf.s, seine Sätze mit den vielen Einzelheiten seiner ausgedehnten Forschungen bis an den Rand zu füllen, erleichtert die Lektüre nicht gerade. Doch hinter den vielen Einzelheiten werden die großen Linien der Entwicklung der evangelischen Kindergärten im "Dritten Reich" nicht vernachlässigt, sondern durchaus deutlich und überzeugend herausgearbeitet.

Hatte der erste Band mit der "Mobilmachung der Gemeinden" für ihre Kindergärten angesichts der Bedrohung durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) das wesentliche Strukturelement der evangelischen Kinderpflege für die Jahre 1933 bis 1936 gefunden, so setzt der zweite Band mit dem Jahre 1937 ein, dem Zeitraum, in dem der totalitäre Anspruch des Nationalsozialismus auf "alle Deutschen im Diesseits" offen zu Tage trat. Die Kindergärten und andere Einrichtungen der NSV genossen eindeutig Vorrang vor den konfessionellen Häusern, aus denen beide Kirchen verdrängt werden sollten. Die Angriffe der NSV auf die Träger evangelischer Kindergärten wurden in jener Zeit dreister; sie wurden zwar von dem Centralausschuss der Inneren Mission wie von der Deutschen Evangelischen Kirche und vor allem von den Fachverbänden für evangelische Kinderpflege, nicht aber vom Reichsministerium für die Kirchlichen Angelegenheiten zurückgewiesen und manchmal auch abgewehrt. Um eine evangelische "Einheitsfront" bemühte sich, zeitweise auch mit einigem Erfolg, der Direktor des Evangelischen Verbandes für Kinderpflege, Hermann von Wicht, dessen Arbeit vom Vf. angemessen gewürdigt wird. Dabei wurden auch Kontakte zur katholischen Caritas geknüpft, die sich in der gleichen Lage befand, aber zu mehr als zu einem Austausch von Informationen kam es nicht.

Mit großer Genauigkeit hat der Vf. sowohl die Natur der unterschiedlichen Attacken der NSV und staatlicher Stellen auf evangelische Kindergärten wie auch die Strategien der evangelischen Verteidigung und "Besitzstandswahrung" untersucht. Die Perfidie staatlicher Maßnahmen gegen Anstalten und Häuser der Inneren Mission wird etwa deutlich in der Steuergesetzgebung des NS-Staates (170 ff., auch 273 ff.). Sie zwang die evangelischen Kindergärten und andere Häuser der Inneren Mission zur Zahlung von Umsatz- und Grundsteuer. Dabei wurde die Letztere fällig, wenn die Satzungen der Träger deren kirchliche Bindung betonten. Diente die Einrichtung aber eher gemeinnützigen und mildtätigen Zwecken, war eine Steuerbefreiung möglich. Deshalb legten sich viele diakonische Träger eine neue Satzung zu, in der oft der kirchliche Charakter des Hauses nur am Rande oder überhaupt nicht erwähnt wurde, damit man den Bedingungen für eine steuerliche Befreiung genügte. Der heutige Leser einer derartigen Satzung muss diesen Hintergrund kennen - ein Beispiel dafür, dass man in totalitären Staaten mehr zwischen als auf den Zeilen lesen muss.

Der Vf. folgt auch anderen "Verästelungen" im Ringen zwischen NSV und Innerer Mission um den Kindergarten. Die von der Deutschen Arbeitsfront (DAF) 1937 für die freie Wohlfahrtspflege erlassene Tarifordnung (342 ff.) mit ihrem Verzicht auf klassenkämpferische Aussagen und ihrem Ideal einer "Dienstgemeinschaft" aller Beschäftigten entsprach den Vorstellungen der Inneren Mission nahezu vollständig. Fast glaubte man schon, in der DAF einen Verbündeten im Ringen um die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Inneren Mission gefunden zu haben, zumindest gab die neue Tarifordnung neue Rechtssicherheit. Die Gefahr einer "Verstaatung" der freien Wohlfahrtspflege und also auch der Inneren Mission, die das einseitige Vorgehen der DAF noch vergrößerte, wurde dagegen kaum wahrgenommen.

Mit dem Beginn der Krieges diagnostiziert der Vf. eine spürbare Verschärfung des Kampfes zwischen Innerer Mission und NSV, wobei die letztere Organisation sich jetzt in vielen Fällen sogar der Hilfe der Gestapo bediente. Schon zuvor waren in der "Ostmark", im ehemaligen Österreich, die freien Wohlfahrtsverbände vollständig der Kontrolle der NSDAP und der NSV unterworfen worden. Die führenden Männer der Inneren Mission wie der Rheinländer Otto Ohl sahen diese Entwicklung zwar und beklagten sie auch, meldeten aber nicht den notwendigen Widerspruch an, sondern verkrochen sich stattdessen unter die Fittiche der Deutschen Evangelischen Kirche und hielten an einer "verflachten lutherischen Zwei-Reiche-Lehre" (867) und an einem Weg kirchlicher Bindung unter dem "Primat des totalen Staates" fest. Dem Rez. erscheint allerdings fraglich, ob und in welchem Umfang man ihnen heute ihre Blindheit vorhalten kann, wie der Vf. es tut.

Denn in etlichen Landes- und Provinzialkirchen, vor allem den intakten, war die Innere Mission ja durchaus zum Kampf bereit und auch nicht ohne Erfolg. In einem umfangreichen Kapitel (561 bis 757) hat der Vf. die 17 wichtigsten Landes- und Provinzialverbände der Inneren Mission hinsichtlich ihres Widerstandes gegen die NSV bei deren angestrebter Übernahme von Kindergärten untersucht; er hat darüber hinaus Maßnahmen und Pläne der Inneren Mission recherchiert, was man tun könne, wenn die katechetische Arbeit im Kindergarten nicht mehr möglich sei, weil er inzwischen von der NSV übernommen worden wäre. Ein allerdings umstrittener "Kindersonntag", reichsweit gefeiert an Misericordias Domini, machte während einiger Jahre aufmerksam auf die Bedeutung der religiösen Erziehung und eine "Kinderkirche" hätte das Licht der Welt erblickt, wenn die NSV die Innere Mission vollständig aus dem Kindergarten verdrängt hätte.

Dieses Ziel erreichte die NSV nicht, wie der Vf. überzeugend nachweist. Sie konnte nur etwa die Hälfte der evangelischen Kindergärten in Deutschland unter ihre Herrschaft bringen. Überhaupt blieb die Innere Mission als unabhängiger Dachverband selbständiger Vereine erhalten, obwohl gerade während des Krieges die NSV ein starkes Argument für eine Übernahme vorbrachte: In einer derartigen Ausnahmesituation erfordere die planwirtschaftliche Notwendigkeit eine Zentralisierung aller Kräfte, gerade auch in der pflegerischen Arbeit. Die Deutsche Evangelische Kirche hielt dagegen und bezeichnete die Innere Mission 1940 als eine "Wesens- und Lebensäußerung der evangelischen Kirche", nahm sie also unter ihren besonderen Schirm. Ob das jedoch nach außen viel bewirkte, bezweifelt auch der Vf. Aber es wirkte nach innen, brachte die Innere Mission zwar nicht hinein in die verfasste Kirche, aber näher an sie heran.

Die Einflüsse dieser Annäherung reichten bis in die ersten Nachkriegsjahre hinein, die ebenfalls noch Gegenstand der Untersuchung sind. Von einem "Sieg" der Inneren Mission am Ende des "Dritten Reiches" zu sprechen, weil es ihr in etlichen Landes- und Provinzialkirchen gelang, sich der NSV zu erwehren - das ist sicherlich verfehlt, der Vf. hat denn auch diesen Ausdruck mit einem deutlichen Fragezeichen versehen. Statt dessen bemüht er die "providentia Dei" (895), deren Wirksamkeit vor allem zu danken sei, dass in aller "confusio hominum" jener unruhigen Jahre der evangelische Kindergarten Element vieler Gemeinden im Raum der Kirche blieb. Darin ist ihm uneingeschränkt zuzustimmen.