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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

398–400

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Steiger, Johann Anselm

Titel/Untertitel:

Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio - Imago - Figura - Maria - Exempla. Mit Edition zweier christologischer Frühschriften Johann Gerhards.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2002. XX, 451 S. gr.8 = Studies in the History of Christian Thought, 104. Geb. Euro 96,00. ISBN 90-04-12529-9.

Rezensent:

Sven Grosse

Kirchengeschichtsschreibung bietet exempla dar, die zu einem vertieften Verständnis der Heiligen Schrift führen und dem Gläubigen durch die Erinnerung an die Hilfe Gottes in der Vergangenheit Trost verschaffen. Insofern ist sie praktische Theologie und damit Krone der gesamten Theologie. Mit dieser These würdigt der Vf. des zu besprechenden Werkes die Exempelsammlungen der lutherischen Orthodoxie (282 f.), legt aber zugleich mit diesem Werk ein Exempel von Kirchengeschichtsschreibung vor, das in gleicher Weise gewürdigt zu werden verdient.

Johann Anselm Steiger, Professor für Kirchen- und Dogmengeschichtsschreibung an der Universität Hamburg, hat bereits mit seiner Reihe Doctrina et pietas, darin u. a. Arbeiten über Johann Gerhard und Editionen von Werken dieses Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie, Zugänge zu diesem lange misskannten Zeitalter freigeräumt. In seinem neuen Buch behandelt er in einer Folge von fünf zusammenhängenden Aufsätzen, die in Teilen schon zuvor veröffentlicht worden sind, "fünf Zentralthemen" Luthers und zeigt bei einigen von ihnen, wie sie von seinen "Erben", sprich: Vertretern der oft als lutherfremd gescholtenen lutherischen Orthodoxie aufgegriffen und weitergeführt worden sind. Auf diese Weise gewinnt der Vf. neue, überaus erhellende Perspektiven auf die Epochen der Reformation und der Orthodoxie innerhalb der Gesamtdynamik der Kirchengeschichte und zeigt, wie das reformatorische Christentum sich in der lutherischen Orthodoxie als das gesamte Leben umfassende, darum auch kulturschöpferische geistige Macht zu erweisen verstand.

Grundlegend ist der erste Aufsatz, "Communicatio. Der fröhliche Wechsel als hermeneutischer Schlüssel zu Luthers Abendmahlslehre, Anthropologie, Seelsorge und Naturtheologie, Rhetorik und Humor" (1-81). Die altkirchliche Lehre von der communicatio idiomatum gewinnt bei Luther die Gestalt eines Ferments, das weite - oder soll man sagen: alle? - Gebiete der Theologie durchdringt. Der Grundgedanke ist dieser, dass zweierlei, zumeist ein Hohes und ein Niedriges, so etwa die göttliche und die menschliche Natur Christi, eine Einheit bilden, einander innerhalb dieser Einheit gegenüberstehen und das eine dem anderen seine Eigenschaften überträgt. So macht es dies zu etwas Neuem, ohne dass es dieses in sich verwandeln würde. Dies geschieht nun nicht nur zwischen den zwei Naturen Christi mit der bekannten Relevanz für die Realpräsenz Christi im Abendmahl. Hermeneutisch handelt es sich darum, dass jedes Wort der natürlichen Sprache, z. B. "Mensch", in Christus eine neue Bedeutung gewinnt (75-77). Die gesamte Menschheit empfängt an der göttlichen Natur Christi Anteil: der "fröhliche Wechsel" ist die soteriologische Konsequenz der communicatio idiomatum (10-15). Überhaupt erlangt auch die Natur dadurch die Fähigkeit, das Reich Gottes zu verkündigen, wie an den Gleichnissen Jesu ersichtlich oder an dem Weizenkorn, welches den Tod und die Auferstehung Jesu predigt. Ausgehend vom Glauben wird eine Analogie zur Heilsgeschichte in der Natur entdeckt, die nun, per analogiam fidei (Röm 12,7), innerhalb des Gesamten von Natur und Gnade, mehr aussagen kann als innerhalb des Kontextes der Natur. Zugleich ist klar, dass diese Aussagekraft der Natur von der Gnade abhängig ist und nie in dem Grade Heilsgewissheit verschaffen kann wie die Sakramente; diese Art emblematischer Naturbetrachtung ist von der aufgeklärten Physikotheologie zu unterscheiden (73).

Es wird damit als Wirkung dieser Gedanken Luthers verständlich, warum ein Johann Arndt als viertes seiner Bücher vom wahren Christentum ein liber naturae hinzufügen konnte (57), oder ein Johann Saubert, das Feld der bildenden Kunst hinzugewinnend, Michelangelo, Raffael, Dürer und Cranach als christliche Verkündiger pries (60 f.). Weitere Felder sind die Ethik, die Ekklesiologie, die Seelsorgelehre (in der Ausübung des allgemeinen Priestertums dem anderen ein Christus werden, 16-22), das simul iustus et peccator (20), die Ästhetik (das Hässliche gewinnt Anteil am Schönen, 59), der christlich interpretierte Volksaberglauben (65), die Rhetorik, der Humor, in dessen Lachen über den "Krippenfürsten" Jesus staunend die Erkenntnis des Glaubens anhebt (77-80), und schließlich die "vergeschichtlicht" werdende Metaphysik (80 f., vgl. 11.111. 142): Wenn Philosophie von einer ihr immer schon vorausliegenden, vorgegebenen Offenbarung auszugehen hat, dann wird sie auch angesichts der hypostatischen Union den Begriff der Substanz neu zu durchdenken haben. - Die folgenden Aufsätze ziehen diese Linie weiter.

II. "Imago. Bild Gottes und Bildung durch Bilder in Luthers Theologie" (105-143) entwirft die Soteriologie sub specie imaginis. Das Bild - aber überhaupt die Gesamtheit der Sinne - werden an der Kraft des rettenden Wortes beteiligt; der lutherische Protestantismus ist keineswegs nur aufs Gehör fixiert. Der Christ wird in das Ebenbild Christi, der selbst das vollkommene Bild seines Vaters ist, verwandelt. Dies ist zugleich "Bildung", e-ruditio, Entrohung, durch in-formatio, Einformung, mittels Bildern, welche die Heilsgeschichte verkünden.

III. "In figura. Die geistlich-figürliche Auslegung der Heiligen Schrift bei Luther und im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts" (145-216) zeigt, dass auch die Allegorese keineswegs von Luther und seinen Erben verabschiedet wurde, wenn nur die Maßregel beachtet wurde, dass sie auf dem Fundament des Glaubens (1Kor 3,10 f.) aufbaut und auf diese Weise Anteil an der Aussage des sensus litteralis gewinnt. - Man könnte fragen, ob diese Haltung nicht doch übereinstimmt mit der von Thomas von Aquin zu Beginn seiner Summa markierten, damit auch mit Dionysius Areopagita, auf den er dort verweist, und letztlich doch auch mit dem auch von Luther und seiner Orthodoxie geschmähten Origenes.

Desgleichen IV. "Nulla femina dir gleich. Luthers Marienfrömmigkeit und die christologischen Implikate seiner Mariologie" (217-249). Luther spricht Maria eine Reihe von Prädikaten ab, die allein Christus zuzusprechen sind, und verwirft darum entsprechende Marienhymnen (das Salve regina und das Regina coeli, 224) oder Marienbilder (die Christus durch das Zeigen ihrer nährenden Brüste zum Erbarmen bewegende Maria, die Schutzmantelmadonna, 221-224). Andererseits hat Maria per communicationem idiomatum teil an den zwei Naturen Christi: So ist sie, nicht durch ihre Mutterschaft alleine, sondern vor allem durch ihren im "Fiat!" (Lk 1,38) sich ausdrückenden Glauben post Christum das höchste Kleinod in der Christenheit, zugleich aber (Mt 1,18 f.) auf den Stand einer Hure erniedrigt (243-248).

V. "Exempla fidei. Die Exempelhermeutik Luthers und die Exempelsammlungen der lutherischen Orthodoxie" (251-283) weist schließlich auf, wie die Geschichte von Welt und Kirche als Exempel für den Glauben nutzbar gemacht werden kann (das "Veni, vidi, vici" Caesars bei Johann Stieffler als Exempel für den Triumph Christi, 275).

Um auch Quellen zugänglich zu machen, befindet sich - leider nicht selbst zur Interpretation herangezogen - im Anhang zu Teil I die Edition einer Thesenreihe Leonhart Hutters zur communicatio idiomatum von 1590 (82-103) und am Schluss des Buches als Teil VI die Edition zweier Traktate Johann Gerhards, Von der person vndt amptt vnsers Herrn Jesu Christi und Vita Christi (285-395), beide wohl um 1609 entstanden. Die Einleitung (xi-xx) zieht u. a. einige Konsequenzen aus der in diesem Buch detailliert vorliegenden Forschungsarbeit: Es ist der Glaube selbst, der hier kulturschaffend tätig geworden ist, nicht wie später, säkularisierte Surrogate des Glaubens (xvii); man muss Spätmittelalter, Reformation und - nur den lutherischen? - Barock in einer Trias zusammenfassen (xiii, vgl. xix f.).

Das Buch ist für die Forschung wegweisend, sowohl reichhaltig als auch anregend und dabei noch flüssig und spannend zu lesen. Es seien hier nur einige bei der Lektüre entstehende Gedanken und Fragen genannt: Dass es sich hier um "Zentralthemen" Luthers handle, klingt nicht unplausibel, jedenfalls nicht beim ersten, wäre aber noch zu zeigen. Die Angemessenheit der Lutherexegese wäre auch an einem konsequenteren Ausweis des Datums, des Titels und der Textart der zitierten Lutherschriften zu erweisen. Aus der geschichtlichen Würdigung der Epoche der lutherischen Orthodoxie erheben sich einige weiterführende Fragen: Warum sie zwar in der Musik, nicht aber - anders als die reformierte und die römische Kirche dieser Zeit - in der bildenden Kunst etwas von bleibendem Rang hervorgebracht hat (von den Malern der ersten Generation, die sich der Reformation anschlossen, abgesehen), trotz ihrer Offenheit für die Kunst? Vor allem aber: warum eine offenbar so ausgewogene, in sich runde geistige Macht schließlich doch in so starkem Maße sich angesichts der aufkommenden Aufklärung auflöste (vgl. xviii f.). Last not least gilt: "Es geht Luther nicht um den Entwurf eines radikal neuen Marienbildes, sondern um die reformatorische Neuinterpretation eines bereits vorhandenen" (239) - und dies darf auf alle anderen behandelten Themen verallgemeinert werden -, dann ergibt das auch eine Einschätzung für die Möglichkeit einer Weiterentwicklung des Verhältnisses des Luthertums zu der römisch-katholischen Kirche, insofern sie dieses "bereits vorhandene" weiterträgt und repräsentiert.