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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

383–385

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Harstine, Stan

Titel/Untertitel:

Moses as a Character in the Fourth Gospel.

Verlag:

London-New York: Sheffield Academic Press 2002. VIII, 194 S. gr.8 = Journal for the Study of the New Testament. Supplement Series, 229. Lw. £ 50,00. ISBN 0-8264-6026-7.

Rezensent:

Michael Labahn

Die Erforschung der textinternen Welt mitsamt ihren Erzählfiguren ist durch narrative criticism auch als wichtige Aufgabe der Exegese erkannt worden. Für die Auslegung des Johannesevangeliums schärfte R. A. Culpepper das methodische Interesse, was nunmehr durch Studien zu den Charakteren im Johannesevangelium Früchte trägt. Harstine ordnet sich in diese Diskussionslage ein, indem er Mose als narrativen Charakter zu erfassen sucht. Die überarbeitete PhD (Baylor University, Waco, Texas) ergänzt damit die neutestamentliche Forschung um einen wichtigen Beitrag, da - obgleich Mose im Judentum und in der frühchristlichen Überlieferung erhebliche Bedeutung hat - D. Sänger 1995 mit bleibendem Recht feststellte, dass "von wenigen Ausnahmen abgesehen, speziell Mose gewidmete Untersuchungen Mangelware" sind (KuD 41 [1995], 113).

Einem bisweilen holzschnittartigen Forschungsüberblick folgt die Darstellung des methodischen Ansatzes: (1) Die Studie will die Rolle des Mose im johanneischen Erzählrahmen und den Einfluss auf den narrativen Plot erklären. (2) Unter Einfluss von C. H. Talbert analysiert H. die Rezeption des Mose als narra- tiver Gestalt beim antiken Leser. Auch wenn Mose ein "background character" ist, der lediglich indirekt durch Vergleich und Kontrast zu erfassen ist, lässt er sich als viabler Charakter erfassen, da er namentlich identifiziert wird. H. legt seiner Studie die von P. J. Rabbinowitz entwickelte Kategorie des "authorial audience" zu Grunde, bei dem es sich um das "hypothetical audience envisioned by the author when composing the text" handelt (31); Ziel ist es zu zeigen, dass unterschiedliche antike Leserkreise die literarischen Informationen besitzen "to fill the textual gaps" (34).

Im Abschnitt zur Charakterisierung des Mose im JohEv werden nur seine namentlichen Erwähnungen berücksichtigt und damit 1,21; 6,14; 12,34; 17,12 und 18,28 (Gesetz/Schriften) ausdrücklich ausgeklammert; es seien extratextuelle Informationen notwendig, um einen Bezug zu Mose herzustellen. Dies ist zumindest für die Erwähnung des Gesetzes nach 1,17 fraglich, da auch textintern das Gesetz mit dem Geber verbunden ist (1,45; 7,19). Mit Hilfe kurzer Einzelanalysen zeigt H., dass Mose eine differenzierte Rolle spielt und damit als eine der Entwicklung des Plots dienende, autoritative Figur gelten kann. Dies entspricht seiner Rolle als Gesetzgeber, als Zeuge und Prophet, der auf Jesus hinweist, als Ankläger und als Schulhaupt. Als Gestalt der Geschichte Israels begründet Mose die historische Verankerung Jesu im Judentum und das mit ihm verbundene Heil in Gott, der die Quelle des Bundes Israels ist (1,17; 3,14). Zugleich dient Mose als Kontrastfigur zur Profilierung Jesu, etwa wenn er als Menschensohn im Gegensatz zu Mose ewiges Leben vermittelt (Joh 3). Für den Plot bedeutet dies, dass Jesus "as the only hope of humanity for eternal life" zu verstehen ist (57).

Als Beispiel, dass im Einzelnen eine stärkere Interpretation der Einzelbelege im Gefälle der johanneischen Erzählung wünschenswert wäre, sei auf die Beobachtungen zu Joh 1,17 hingewiesen: Mit der Erwähnung des Gesetzes wird die Inkarnation Jesu in die Geschichte Israels eingeordnet; dies ist im Blick auf 4,22 zu vertreten, aber dass daraus der Schluss gezogen werden kann, die Erwähnung des Mose geschehe "to remove it [die johanneische Erzählung] from the sphere of Hellenistic philosophy" (49), ist angesichts des Logos-Begriffs mit seiner Anschlussfähigkeit an antik-jüdisches wie an griechisch-hellenistisches Denken zweifelhaft. Gegen die antithetische Interpretation von Joh 1,17 profiliert H. sein Verständnis als "anti-structural contrast" (48): "Moses is presented as a mediator of the law, who gave the Israelites only what was given to him, whereas Jesus is the source, the origin of grace and truth". So habe Mose eine herausragende Rolle als Gesetzgeber, die aber von Jesus als Logos und Schöpfer übertroffen wird. Es wäre aber zu klären, ob die Rolle des Mose in der johanneischen Diktion unabhängig von einer Autorisation durch Jesus zu verstehen oder nicht eher auf Grund der Präexistenz des Logos in Jesus selbst fundiert ist.

Antiken Rezipienten geht H. in Kap. 3-5 nach. Anhand ausgewählter Schriften (Listen im Anhang) wird ihr potentielles Mosebild rekonstruiert, um dies mit der Funktion des Mose im JohEv zu vergleichen. Zunächst werden die Synoptiker bedacht. Es zeigen sich Übereinstimmungen, da Mose als historische Figur von bleibendem Einfluss auf die Gesellschaft vorgestellt wird. Die einzelnen Verklärungsberichte setzen einen eigenständigen Akzent, insofern hier ein Zeugnischarakter erkennbar wird; trotz der Differenzen sind somit Leser und Leserinnen der Synoptiker zur Antwort des "authorial audience" des JohEv fähig. Aus den hellenistisch-jüdischen Texten wählt H. wegen der Orientierung auf den Plot narrative Schriften aus, was eine Engführung darstellt, da die Erhebung potentieller Leser und ihrer Informationsenzyklopädie nicht auf diesen Komplex zu beschränken ist. Die Rollen des Mose, die H. diesen Texten entnimmt (Gesetzgeber, Kultgründer, Philosoph, Prophet, historische Figur) konvergieren, doch das Konfliktpotential ist ein anderes: im JohEv zwischen Mose- und Jesusanhängern, in der jüdischen Literatur zwischen Heiden und Moseanhängern. Leider verzichtet H. auf eine Aufarbeitung dieses wichtigen Aspekts. Die Rolle Homers und seiner Schriften für die griechische Kultur macht ihn zu einer mit Mose als Gesetzgeber im jüdischen Schrifttum vergleichbaren Figur. Wieder wird der Ausschnitt auf narrative Texte begrenzt, was wichtiges Material etwa bei Dion Chrysostomos oder Aelios Aristides (vgl. J. F. Kindstrand, Homer in der Zweiten Sophistik, SGU 7, 1973) ausspart. In der griechischen (bedingt auch in der lateinischen) Literatur ist Homer, "the standard in the culture" (148), eine autoritative Figur und ein glaubwürdiger Zeuge. Da dies in Analogie zur Zeugenfunktion des Mose im JohEv steht, ist Mose für antike Leser hinsichtlich der literarischen Konventionen verstehbar, dies gelte auch für die historische Verankerung und das Konfliktpotential; wesentlicher Unterschied sei die Darstellung des Mose als der Prophet gegenüber Homer als dem Philosophen.

H.s Studie ist ohne Zweifel anregend und zeigt, dass die Mosefigur für antike Leserschaft rezipierbar war. Dennoch kann und will diese Studie durch ihre Konzentration auf mögliche Leserrezeptionen nicht die eingangs genannte Lücke schließen.

Intensivere text- und rezeptionstheoretische Diskussionen, gründlichere Literaturaufnahme, mehr noch eine intensivere Beschäftigung mit Mose als Charakter in Relation zur johanneischen Christologie wären für diese Monographie förderlich gewesen. Es bleibt ferner zu fragen, ob nicht zudem die alttestamentlichen Erzählungen in ihrer griechischen Form (LXX) als Enzyklopädie möglicher Rezipienten zu berücksichtigen wären- ein Textkomplex, auf dessen Kenntnis sich das JohEv ausdrücklich beruft.