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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

372–374

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dieckmann, Detlef

Titel/Untertitel:

Segen für Isaak. Eine rezeptionsästhetische Auslegung von Gen 26 und Kotexten.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. X, 374 S. m. Abb. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 329. Lw. Euro 94,00. ISBN 3-11-017761-7.

Rezensent:

Marianne Grohmann

"Segen für Isaak" ist die leicht überarbeitete Fassung einer Baseler (Mathys) und Siegener (Naumann) Dissertation (2002). D. knüpft mit seiner Interpretation von Gen 26 an Auslegungen an, die dieses Kapitel nicht als wenig beachtete Doppelüberlieferung, als Ansammlung von bereits Erzähltem sehen, "sondern als eine eigenständige und aus dem gegebenen Zusammenhang nicht wegzudenkende Erzählung" (8). Die Arbeit bietet sowohl Ansätze rezeptionsästhetischer Theoriebildung als auch konkrete Textexegese.

Der erste Teil der Arbeit ist theoretisch (11-105): D. gibt einen Überblick über unterschiedliche Zugangsweisen zur Wiederholung als literarischem Phänomen: literarhistorische (literar-, redaktions- und formkritische) Beurteilungen von Dubletten, Doppelüberlieferungen und Wiederaufnahmen, alttestamentliche Erzählforschung seit Gunkel, Intertextualitätsdebat- ten (Bachtin, Kristeva, Steins), rabbinische Hermeneutik (mit einem Ausblick auf Bubers Leitwortstil), rezeptionsorientierte Konzepte (Fish, Genette, Eco). Er gelangt so zu einer "Ästhetik der Wiederholung" (104): Wiederholungen geben Orientierung und Sicherheit. "Erzählungen gewinnen ihre Attraktivität gerade durch die Wiederholung, indem sie immer wieder Altbekanntes erzählen" (105). Gleichzeitig gibt es keine Wiederholung ohne Veränderungen, Variationen, Abwandlungen des Gewohnten. D.s eigener Schwerpunkt liegt auf einem rezeptionsästhetischen Zugang zu biblischen Erzähltexten (107- 132): Zunächst zählt er Aspekte einer rezeptionsästhetischen Auslegung biblischer Erzähltexte auf: z. B. synchrone und diachrone Lektüre, Lesen als aktive Mitarbeit, Eindeutigkeit und Bedeutungsvielfalt in der Auslegungsgemeinschaft, die Lesenden, Lesekompetenz, Kohärenz und Dialogizität, Nähe und Distanz zum Text, die existentielle Bedeutung des Lesens. Dann schlägt er folgende Schritte zur Umsetzung vor: 1) hermeneutische Selbstreflexion, 2) Protokoll der eigenen Lesereaktionen, 3) Gespräch mit anderen Lektüreerfahrungen und 4) Beschreibung des Leseprozesses.

Hauptteil der Arbeit ist eine konkrete rezeptionsästhetische Auslegung von Gen 26 und den "Kotexten" Gen 12,10-20; 20; 21,22-34 (133-324). Das Novum von D.s Auslegung dieser Gefährdungs- und Brunnenstreitgeschichten liegt darin, dass er seine Darstellungen von Rezeptionsästhetik und Intertextualität mit empirischer Literaturwissenschaft kombiniert. Letztere wurde bisher in der biblischen Exegese noch kaum aufgenommen, wenn, dann am ehesten im Bereich der Bibeldidaktik. D. hat anhand von 41 Fragebögen und 26 Interviews Lektüren von Gen 26 und Kotexten untersucht. Die befragten Personen waren Schülerinnen und Schüler und Studierende. Mit den Fragebögen wurden nacheinander zu einzelnen Abschnitten der Bibeltexte Einstellungen zu den handelnden Personen und zum erzählten Geschehen abgefragt. Die Interviews - je 13 Interviews zu Gen 12,10-20 und Gen 26,12-31 - wurden nach der von Tom Trabasso und Soyoung Suh (Chicago, USA) entwickelten Methode des "lauten Denkens" durchgeführt: Die Interviewten erhielten den zuvor in einem Prätest in kurze Sequenzen unterteilten Bibeltext nacheinander auf Din A5-Karteikarten. Sie wurden mit möglichst offenen Fragen aufgefordert, frei zu assoziieren, ihre Bewertungen auszudrücken und Vermutungen zu äußern, wie die Erzählung weitergehen könnte. Diese unmittelbaren Reaktionen wurden auf Tonband aufgezeichnet. Die Interviews wurden nicht von D. selbst, sondern von einer Studentin durchgeführt. Die "Lautes-Denken-Protokolle" wurden dann von ihm interpretiert und Auslegungen aus der wissenschaftlichen Sekundärliteratur gegenübergestellt (131-132).

D. versteht Gen 12; 20 f.; 26 als Weiter-Erzählungen, die auf vielfache Weise intertextuell verknüpft sind. In der Lektüre von Gen 26 werden bei den Lesenden Erinnerungen an die Kontexte wachgerufen. Sie füllen Leerstellen mit Elementen aus den anderen Texten. D. interpretiert Gen 26 als Höhepunkt der Segensgeschichte, die mit Gen 12 beginnt. Die Brunnenstreitgeschichte in Gen 21,22-34 ist einerseits Postludium zu Gen 20 und andererseits Voraussetzung für Gen 26: Verbindende Elemente sind die herausragende Rolle des Nichtisraeliten Abimelech "beim Finden einer gemeinsamen Ethik" (202), die Themen Brunnengraben, Bund und Schwur sowie viele geographische Angaben. Gen 26, 7-11 präsentiert gegenüber Gen 12,10-20 und Gen 20 eine neue story und aktiviert gleichzeitig Erinnerungen an die vorhergehenden Gefährdungsgeschichten. D. führt die bekannte Tatsache, dass das sexuelle Vergehen gegen die Erzmutter in den drei Preisgabeerzählungen immer weiter abgeschwächt wird, auf einen innerbiblischen Lernprozess bei Abimelech zurück (264). Gen 26 wird in seinen Bezügen zu anderen Texten aus den Erzelternerzählungen als kohärente Szenenfolge gedeutet. Gen 12,10-20; 20 und 26,6-11 haben jeweils vor der Wiedergewinnung bzw. Einlösung einer Verheißung retardierende Funktion. "Doch selbst wenn man in Jizchak nicht mehr sehen sollte als das Bindeglied zwischen Avraham und Jaakov, so ist er auch nicht weniger als das" (323). Die Funktion von Gen 26 ist, den Lesenden Isaak als Segensträger vor Augen zu halten, der in der Kette der Weitergabe der Verheißungen eine wichtige Rolle spielt.

D.s Analyse versteht sich "diachron-rezeptionsästhetisch" (325), d. h. dass unterschiedliche Lektüren, Erwartungen der Lesenden in einem zeitlich fortschreitenden Lektüre-Prozess dargestellt werden. Die Lesenden werden als virtuelle Gemeinschaft von jüdischen und christlichen Interpreten aus unterschiedlichen Epochen, zeitgenössischen historisch-kritischen Exegeten, Literaturwissenschaftlern und interviewten Lesenden verstanden. Dass D. in der Auswertung Auslegungen wissenschaftlicher Exegeten und Aussagen von Interviewten in einem Atemzug nennt, ist zwar kreativ und macht deutlich, dass beides Lektüren und Interpretationen sind. Aber m. E. wird diese Vorgangsweise doch den unterschiedlichen Voraussetzungen der Aussagen nicht gerecht: Ein historisch-kritischer Kommentar ist in einem anderen Kontext entstanden als eine assoziative "freie" Äußerung in einem Interview. Allein sprachlich besteht ein Unterschied zwischen der Arbeit mit dem hebräischen Text und mit einer deutschen Übersetzung. Diese unterschiedlichen Entstehungskontexte und Intentionen wären m. E. auch in der Auswertung zu differenzieren. Auf jeden Fall ist es interessant, beide miteinander ins Gespräch zu bringen, und die Einbeziehung empirischer Literaturwissenschaft ist ein viel versprechendes Verfahren, um Rezeptionsästhetik methodisch umsetzbar zu machen.

Mit der Methode des lauten Denkens lassen sich Bewertungen, Einschätzungen, Präferenzen und Emotionen der Lesenden abfragen. Die Bibeltexte dagegen bewerten weitaus weniger. Ein wichtiges Thema ist bei D. immer wieder die Identifikation mit oder die Distanz zu handelnden Personen. Es stellt sich die Frage, wie sich Kriterien festlegen lassen, solche subjektiven Assoziationen zu verallgemeinern. Bei Bewertungen und Identifizierungen mit Personen in den Erzelternerzählungen wäre es durchaus interessant, genauer nach Lesern und Leserinnen zu differenzieren, unterschiedliche Identifizierungen mit Abraham/ Isaak oder Sara/Rebekka zu untersuchen. Eine weitere - über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehende - offene Frage wäre, ob sich empirische Literaturwissenschaft neben Erzähltexten auch auf andere Textgattungen wie z. B. Psalmen anwenden ließe und welche Konsequenzen das hätte.

Das Buch ist gut zu lesen. D. bemüht sich um inklusive Sprache. Das Verdienst dieser Arbeit liegt auf jeden Fall darin, empirische Literaturwissenschaft mit historisch-kritischer Exegese ins Gespräch zu bringen und die theoretischen Überlegungen zu Rezeptionsästhetik und Intertextualität auf konkrete Bibelexegese anzuwenden.