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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

366 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Körbel, Thomas

Titel/Untertitel:

Hermeneutik der Esoterik. Eine Phänomenologie des Kartenspiels Tarot als Beitrag zum Verständnis von Parareligiosität.

Verlag:

Münster-Hamburg-Berlin-London: LIT 2001. 452 S. m. Abb. gr.8 = Religion und Biographie, 6. Kart. Euro 25,90. ISBN 3-8258-5378-0.

Rezensent:

Matthias Pöhlmann

Im Kontext neuer Religiosität erweist sich die neuzeitliche Esoterik nach wie vor als unübersichtliches Terrain. Von religionswissenschaftlicher Seite gibt es zwar vielfältige Beschreibungen einzelner Phänomene, jedoch ist die Religionsgeschichte abendländischer Esoterik noch nicht intensiv erforscht (118). Leitend für die vorliegende Arbeit ist, wie der Vf. schreibt, ein religionsgeschichtlich-systematisches und theologisches Interesse (9). Er will im Blick auf die Esoterik theologische Selbstkritik, aber auch "Genese-Assistenz" (15.33 u. ö.) betreiben "mit dem Ziel, dass die Spiritualität des Anderen sich in Freiheit entwickeln kann" (65). Im Zentrum steht dabei der Tarot als "parareligiöse Praxis", die der Lebenshilfe dient, aber in seiner Anwendung zugleich auch mit weltanschaulichen Prämissen verknüpft ist. Mindestens 200 verschiedene Tarotversionen sind nach Einschätzung des Vf.s bekannt. Generell sieht er den Tarot "in seiner Entdeckungs- und Entwicklungsgeschichte eng mit der abendländischen, okkulten bzw. esoterischen Tradition verbunden" (165). Die eigentliche "okkulte Quelle" des Tarot sieht der Vf. in der menschlichen Fähigkeit zur Imagination (171).

Die ersten drei Kapitel der katholisch-theologischen Dissertationsschrift widmen sich dem "esoterischen Kontext" dieser Praktik: Esoterologie, Komponenten esoterischer Weltanschauung, Fragmente esoterischer Religionsgeschichte (13-164). Die nachfolgenden Kapitel befassen sich mit der Religionsgeschichte (165-193) bzw. mit der Phänomenologie des Tarot (195-221) sowie mit dessen systemesoterischen, tiefenpsychologischen, intuitiven und lebensberaterisch ausgerichteten Interpretationsvarianten. Ein eigenes Kapitel geht auf christlich orientierte Rezeptionsversuche ein (Lorenz/Schlosser sowie Valentin Tomberg). Mit "Eigenge- setzliche Erkenntnisformen" ist das abschließende Kapitel überschrieben, das in dialogisch-kritischer Perspektive Chancen und Grenzen für das theologische Gespräch mit den hinter den unterschiedlichen Tarotansätzen und -praktiken stehenden weltanschaulichen Interpretamenten auslotet. Ein Namen- und Sachregister sowie umfängliches Bildmaterial runden die Arbeit ab.

Die Untersuchung setzt mit einer längeren, bisweilen eher tastenden, manchmal etwas detailverliebten Hinführung ein, in der die Rahmen- und Entstehungsbedingungen westlicher Esoterik analysiert und auf der Basis vorliegender wissenschaftlicher Literatur ausgewertet werden. Einen gelungenen Überblick bietet die Abhandlung über Fragmente esoterischer Religionsgeschichte (Hermetik, Gnosis, Alchimie, Rosenkreuzer bis hin zu Emanuel Swedenborg).

Mit dem vierten Kapitel wird der Fokus auf den Tarot gerichtet. Die Analysen geben einen Überblick über die verschiedenen Systeme und mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten des Kartensystems. Die Bezeichnung geht auf die französische Bezeichnung tarotée zurück und bezog sich schlicht auf das künstlerisch gestaltete Muster der Kartenrückseite. Die Tarottrümpfe sind - wie der Vf. vermutet - als Gesellschaftsspiel in den Adelshäusern Norditaliens entstanden (170).

Französische Okkultisten des 19. Jh.s griffen auf den Marseiller Tarot des 15. Jh.s zurück, eine Art Archetyp des heutigen Tarotdecks. Am Ende des 18. Jh.s setzt mit den Franzosen Alliette/Étteilla, Court de Gébelin und Éliphas Lévi Zahed die "esoterische Tarotgeschichte" ein (173 ff.). Schon bald wird er mit der jüdischen Kabbala in Verbindung gebracht. Weitere Rezeptionsversuche unter astrologischen und - vor allem im englischen Bereich- okkultistischen Gesichtspunkten gab es im 19. Jh. Mitte der sechziger bzw. siebziger Jahre des 20. Jh.s erlebte der Tarot im Zuge der Hippie-Bewegung in den USA und in dem neu erwachten Interesse an Esoterik und Okkultismus in Westeuropa eine neue Konjunktur.

Für den Vf. ist klar: "Der Tarot ist und bleibt ein Spiel - ein Spiel, doch keine Spielerei!" (192). An späterer Stelle betrachtet er den Tarot als "Ausdruck einer bestimmten esoterischen Geisteshaltung und einer bestimmten Weltanschauung", aber auch als "Ausdruck zeitgenössischer Kunst, Religiosität und Kultur" (280). Vor diesem Hintergrund werden "Grundanforderungen an einen echten Tarot" entwickelt. Der Vf. will nicht ausschließen, dass sich trotz mancher esoterischer Vereinnahmungstendenzen beim Tarot auch vertiefende Brücken zur christlichen Spiritualität entdecken lassen (285 ff.). Dieses Anliegen wird im Abschlusskapitel weitergeführt und theologisch diskutiert. Gleichzeitig räumt der Vf. ein, "dass es sich bei den unterschiedlichen Parareligiositäten um den Schatten des Christlichen handelt, d. h. um den Schatten von christlicher Religiosität und Kirche" (385). Die Kirche könne "die Volksreligion der unerlösten Weisheit", wie sie sich in den parareligiösen Methoden finden lasse, sogar "taufen" und integrieren. Der Vf. hält dies u. a. mit einer "europäischen Befreiungstheologie" für möglich. Sie könne dem Einzelnen wie der Kirche Freiheit von Angst, Freiheit zum Reifen, Freiheit zur Kommunikation einräumen.

An vielen Stellen der Arbeit wird deutlich, dass der Vf. sich intensiv mit den bunten Facetten der gegenwärtigen Religionskultur beschäftigt hat und seine eigenen Erfahrungen in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen vermag. Dass sich dies auch in seiner theologischen Dissertation niederschlägt, zeugt von theologischem Engagement, aber auch von lebendigem Forschergeist gegenüber zeitgenössischen "parareligiösen" Phänomenen.