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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

399–342

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schroeter-Wittke, Harald:

Titel/Untertitel:

Unterhaltung. Praktisch-theologische Exkursionen zum homiletischen und kulturellen Bibelgebrauch im 19. und 20. Jahrhundert anhand der Figur Elia.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2000. 390 S. m. Tab. 8 = Friedensauer Schriftenreihe. Reihe C, 4. Kart. Euro 50,10. ISBN 3-631-37342-2.

Rezensent:

Klaus Wegenast

Das anzuzeigende opus magnum ist eine Bonner Habilitationsschrift, die der im Februar 2002 verstorbene Henning Schröer begleitet hat. Harald Schroeter, derzeitig Professor für Praktische Theologie in Paderborn, zuvor langjähriger Assistent und Gesprächspartner von Schröer in Bonn, ist seinem Mentor darin kongenial, dass auch er von Einfällen sprüht, ein breites Wissen in vielen Disziplinen hat und nicht nur Theologe oder Kirchenmann ist, sondern ebenso Musiker, Kabarettist, Organisator, Literat und ein engagierter Zeitgenosse in allen Fragen von Kultur und Kirche, Politik und Gesellschaft.

Für den theologischen Leser überraschend ist nicht nur der Inhalt vieler Teile der zu besprechenden Arbeit, sondern schon der Titel des Buches, "Unterhaltung" im Zusammenhang von Bibel und Bibel-Gebrauch, einem Propheten Israels und der Predigt der Kirche im Gottesdienst. Man ist gespannt, wohin die Reise gehen mag.

Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis und in die Einleitung (11-18) gibt Aufschluss über Weg und Ziel des Unternehmens. Der Leser erfährt nicht nur etwas zur Struktur des Denkwegs des Vf.s, sondern auch zu wichtigen Erkenntnis leitenden Motiven seines Forschungsvorhabens. Ein Vorwort von Hans Jürgen Schultz zu dem Reader "Sie werden lachen - die Bibel", das der Vf. zitiert und als angemessene Beschreibung eines Hauptmotivs seines Nach-Denkens über einen unserer Zeit angemessenen Bibel-Gebrauch apostrophiert, verrät manches über Weg und Ziel:

"Durch klerikale Aneignung und Anwendung ist die Bibel einerseits zu übermächtigem Einfluss gelangt, andererseits in ein purpurnes Ghetto geraten. Verwaltung der Bibel ist Vergewaltigung der Bibel. Die schmalspurige Geschichte ihrer amtlichen Auslegungen und Auswirkungen lässt sich unschwer beschreiben. Daneben verläuft aber eine Geschichte von Auslegungen und Auswirkungen, die sich der Erfassung und der Verfassung entziehen. Der Geist der Bibel weht, wo er will." - Z. B. in der Literatur, wie Heinrich Schmidinger in dem von ihm edierten zweibändigen "Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts" (Mainz 1999) dokumentiert hat, aber auch in Comics, in Rock und Pop und bei Menschen, die mit Kirche offensichtlich nicht viel am Hut haben.

"In diesem weiten Horizont von Bibelgebrauch in kirchlicher und nicht-kirchlicher Praxis" (13), d. h. in einem spannungsvollen Nebeneinander divergierender Interessen und Erlebnisse, bewegt sich der Vf. mit seiner Habilitationsschrift, die er dem Versuch widmet, das absolutistische Nebeneinander in "ein fragmentarisches und dadurch kommunikables Miteinander zu überführen" und dadurch zu einer Auseinandersetzung zu reizen im Rahmen einer phänomenologisch orientierten Praktischen Theologie im Kontext einer Gesellschaft mit den Signaturen der sog. Postmoderne, welche das Ende allumfassender Systeme und Metaerzählungen monistischen Typs signalisieren.

Aber warum hat das alles etwas mit "Unterhaltung" zu tun? Nach der Meinung des Vf.s deshalb, weil "Bibelgebrauch in erster Linie nicht ergebnis-, sondern erlebnisorientiert" sei. Das ist der Grund dafür, dass die Fragestellungen des Vf.s als Kriterien für einen angemessenen Bibel-Gebrauch nicht eindeutige Identitätskonzepte z. B. einer Predigt sind, sondern ihre Unterhaltungsqualität und die in ihr wirksamen Identitätskonzepte als Angebot. Dem genannten Motiv und den entsprechenden Interessen des Vf.s entspricht der jetzt zu skizzierende Aufbau des Buches:

Einer kritisch-konstruktiven Darstellung der biblischen Grundlagen, wichtiger rhetorischer Traditionen und theologiegeschichtlicher Ausformungen des Phänomens Unterhaltung als anthropologisches Grundbedürfnis, das die Freiwilligkeit auch von Ritualen wie dem Gottesdienst ernst nimmt und ein fragmentarisches Identitätskonzept nicht als Gottlosigkeit apostrophiert, folgt das über 130 Seiten umfassende Kapitel 3, das der Vf. mit "Prophetie und Identität - Elia-Auslegungen im 19. und 20. Jahrhundert" überschreibt. Hinter diesem Titel verbirgt sich der Versuch eines repräsentativen Überblicks über charakteristische Elia-Predigten aus der Erweckungsbewegung des 19.Jh.s und aus der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und den 50er Jahren.

Das Kapitel schließt mit einer Würdigung des Oratoriums "Elias" von Felix Mendelssohn, das für den Vf. ein Beispiel darstellt für eine sich der differenzierenden Gesellschaft öffnenden Präsentation einer biblischen Gestalt. Das 4. Kapitel endlich ist einem kirchlich-kulturellen, einer großen Öffentlichkeit angebotenen Unternehmen gewidmet, das in Bonn und anderswo in Zusammenarbeit bildender Künstler, unterschiedlicher Musik-Ensembles, Museen und kirchlicher Gemeinden den Versuch unternommen hat, die Gestalt Elias heute vorzustellen - für den Vf. ein nachahmenswerter Versuch zeitgemäßen Bibel-Gebrauchs im Kontext der Postmoderne.

Für das grundlegende Kapitel 2 nimmt sich der Vf. vor, die Beziehungen des Phänomens Unterhaltung zur Frage nach Identität im Zusammenhang mit Erlebnissen und dem In-Erfahrung-Bringen derselben auszuloten mit dem Ziel, sich daraus ergebende Konsequenzen für ein praktisch-theologisches Verständnis von Bibelgebrauch aufzuzeigen. Dabei ist sich der Vf. dessen bewusst, dass er mit diesem Vorhaben Neuland betritt, weil das Phänomen Unterhaltung in der Theologie höchstens "Rand-, ja mehr noch ein Schattendasein" friste (49). Die hier nahe liegende Frage des Lesers, was der Vf. eigentlich mit dem Begriff Unterhaltung meint, beantwortet er mit der These: "Das Phänomen Unterhaltung speist sich aus drei Dimensionen, der nutritiven Dimension, der kommunikativen Dimension sowie der Dimension des Amusements" (19). Mit anderen Worten, Unterhalten ist zuerst ein stützender Vorgang, in dem jemand getragen wird, dann ein bewegender, der aus einer Starre befreit, zur Kommunikation etwa, und endlich als Konsequenz des Zusammenwirkens von Stützung und Bewegung eine Weise des Amusements. Unterhaltung ist also nicht einfach ein Gegenüber zur Langeweile, da sie in Abgrenzung zum reinen Zeitvertreib sowohl Aspekte des Angenehmen als auch solche des Nützlichen und der Lehre verbindet und im Bezug auf das Subjekt zugleich Verunsicherung und Regression bewirkt.

Interessant und einsichtig beschreibt der Vf. in der Folge seiner Begriffsklärung "Biblische Fermente" zum skizzierten Begriff, Aussagen antiker Rhetorik, der es auch um die Funktion des "delectare" gehe, und ausgewählte Beispiele aus verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte (Augustin: U. als notwendiges Übel; Luther: U. als öffentliche Reizung qua Motivation, Lehre und Illustration; Schleiermacher: U. als Geselligkeit, in der sich religiöse Erfahrung, vermittelt durch die Wahrnehmung der Menschheit, das Wirken des Göttlichen anschaue). Breit wird dann die praktisch-theologische Diskussion seit den 60er Jahren referiert und kommentiert. Dabei begegnen unterhaltungsfreundliche (Otto Baumgarten, Manfred Mezger, Rudolf Bohren, Albrecht Grözinger u. a.) und unterhaltungsfeindliche Stimmen. Das Kapitel endet mit einer Zusammenfassung, in der der Vf. Victor Turner, den schottischen Ethnologen und Ritualtheortiker, als eigentlichen spiritus rector seines Nachdenkens vorstellt. Sein Credo in Sachen Unterhaltung lautet: "Unterhaltung ist eher liminoid als liminal, ist von Freiheit durchflutet. Unterhaltung beinhaltet zutiefst die Macht des Spiels, und Spiel demokratisiert." Dabei versteht Turner unter "liminoiden Phänomenen" durch Freiwilligkeit gekennzeichnete, unter liminalen durch Pflicht und Verpflichtung. "Liminoide Phänomene sind zwar veritable Schwellenerfahrungen und bergen ihr transformatives Potential in sich, sie sind aber im Gegensatz zu liminalen Ritualinszenierungen, z. B. in Stammesgemeinschaften oder geschlossenen Zirkeln und Gruppen, stärker vom Moment der Freiwilligkeit und des Spiels bestimmt" (G. Fermor). Was bedeutet das Gesagte für Gottesdienst und Predigt in einer pluralistischen Gesellschaft ohne Einheitskultur? Die Antwort des Vf.s ist eindeutig:

"Das Liminale kann sich in pluralistischen Gesellschaften nur noch liminal gebärden, indem es versucht, die Wahlfreiheit vergessen zu machen, um so eine wie auch immer geartete Einheitskultur vorzugaukeln" (123). Ergo, "heiß oder kalt, ja oder nein", so sangen wir 1947 im Jugendkreis, kann es nur noch im Sinne Winnicotts als Übergangsobjekt "zwischen dem toten Zeremoniellen und dem lebendigen Liminoiden geben" (123).

Was bedeutet das Gesagte für die homiletische Analyse von Elia-Predigten aus zwei Jahrhunderten und für die Auslegung der Heiligen Schrift, die ihre Entstehung ja einem Streit um die "Wahrheit" verdankt, z. B. am Berg Horeb? Wie immer, der Vf. hält folgende Fragen für seine Analyse vorerst der Elia-Predigten für wesentlich: Mit welchen Personen des Textes dürfen sich die Leser und Hörer dieser Predigten identifizieren? Werden Identifizierungsverbote ausgesprochen oder auch Identifizierungsbefehle? Bieten die Predigten die ganze Palette von Identifizierungsangeboten an, welche die Texte enthalten: Angebote zwischen schwachem Menschen und Glaubensheld? Oder sind sie auf eine Haltung fixiert? Versteht sich der Prediger als Stellvertreter Elias im Gegenüber zur Gemeinde oder sieht er sich selber auch als Gegenüber der Predigt?

Einer Analyse unterzogen werden die reformierten Prediger Gottfried Menken (1768-1831) und die der niederrheinischen Erweckungsbewegung angehörigen Adolf, Gottfried Daniel und Friedrich Wilhelm Krummacher aus dem gleichen Zeitraum sowie Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803-1875). Alle Predigten der Genannten werden anhand der in ihnen inszenierten Identifikationsmöglichkeiten in der Absicht befragt, ihre Unterhaltungsqualität in Erfahrung zu bringen (Elia als auf einer anderen Stufe des Menschseins stehender Prophet, als "Mensch wie wir" oder beides zugleich). Das Ergebnis dieses Unternehmens ist es, dass bei allen homiletischen Unterschieden im Einzelnen überall geschlossene Identitäten präsentiert werden und das trotz des durchaus liminoiden gesellschaftlichen Umfelds des 19. Jh.s. Der Vf. spricht angesichts dieses Tatbestandes von Flucht in eine Ghettosituation, "die ihren Öffentlichkeitsauftrag zugunsten klein karierter Frömmigkeit" konterkariere (133). Hier bedeute die Predigt im 20. Jh. eine deutliche Wandlung, obwohl auch jetzt noch, z. B. bei Emanuel Hirsch (1917), liminale Tendenzen nicht zu übersehen seien. An die Stelle des heroischen Gottesstreiters als mahnenden Vorbilds treten jetzt eher Weg-Angebote im Kontext von heroischen Kämpfen und Zeiten des Scheiterns mit der Betonung von bemerkenswerten Wandlungen. Von hier ist der Weg nicht allzu weit zu Mendelssohns Elias und seinem Angebot liminoider Partizipation in der Form eines frühen "Bibliodramas" angesichts einer sich differenzierenden Gesellschaft und einer entsprechenden Subjekt-Orientierung. Interessant ist das Urteil des Vf.s: "Dem biblischen Sujet dieses Oratoriums kommt gerade in seiner Widersprüchlichkeit also eine enorm positive Bedeutung zu" (269).

Zum 4. Kapitel, dem Bericht über ein Unternehmen kulturellen Bibelgebrauchs "als missionarische Performance von Kirche in der Postmoderne", kann ich schon deswegen nicht allzuviel sagen, weil ein begründetes Urteil des Ausgeführten nur dem möglich ist, der diese Performance miterlebt hat.

Zustimmen kann ich dem das Buch abschließenden Aufruf des Vf.s an die Praktische Theologie, ihren Horizont kulturwissenschaftlich über die Kirche hinaus zu erweitern in ein Arbeitsfeld jenseits kirchlicher Vereinnahmungen und auch jenseits mancherorts in der Kulturszene anzutreffender Kirchenfeindlichkeit.

Das spannende Buch veranlasst mich dazu, auch mein eigenes Predigen, Gottesdienst zelebrieren und unterrichten zu überprüfen, den Jargon des Wissenden und Glaubenden zu verlassen und die Bibel als Angebot verstehen zu lernen - mit vielen Weisen möglicher Rezeption im Kontext unterschiedlicher Facetten des Lebens. Dabei frage ich mich allerdings, ob es nicht auch Augenblicke gibt, in denen wir uns für fordernde "Angebote von Identität" entscheiden müssen.

Vom Fleiß des Vf.s zeugt ein Literaturverzeichnis von 60 Seiten mit Publikationen aus vielen wissenschaftlichen Disziplinen. Die winzigen Drucktypen stören wahrscheinlich auch Leser mit gutem Sehvermögen. Vf. und Verlag gebührt dennoch Dank für das Wagnis, ein multidisziplinäres Werk zu veröffentlichen, das die Praktische Theologie zur Überprüfung ihrer Bemühungen um eine angemessene Ausbildung zukünftiger Pfarrer und Pfarrerinnen sowie Lehrer und Lehrerinnen im Kontext einer multikulturellen und vielgeschichteten Gesellschaft veranlasst.