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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

337 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Robrecht, Josef:

Titel/Untertitel:

Woher kommt mir Hilfe? Empirische Studie zur Religiosität seelisch leidender Menschen am Beispiel 25- 40jähriger Männer in Psychotherapie.

Verlag:

Würzburg: Echter 2002. 288 S. m. Tab. gr.8 = Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral, 20. Kart. Euro 19,90. ISBN 3-429-02463-3.

Rezensent:

Sabine Bobert

Lehrt Not tatsächlich Beten, wie es der Volksmund sagt? Bringt seelische Not eine stärkere Öffnung für religiöse Fragen mit sich? Der Vf. hat sich für eine empirische Klärung dieser Fragen exemplarisch auf Männer im Alter von 25 bis 40 Jahren konzentriert, die am Beginn einer ambulanten Psychotherapie standen. Die ausgewählte Gruppe ist insofern auch ekklesiologisch interessant, als sich bei ihnen zahlreiche Merkmale bündeln, die statistisch gesehen zum Kirchenaustritt führen: männlich, ledig, erwerbstätig, zwischen 26- bis 32-jährig sein (vgl. 35). In diesem Lebensabschnitt beginnen Menschen, einen eigenständigen Lebensentwurf, häufig kirchenfern, umzusetzen. Andererseits thematisiert auch diese Menschengruppe in der Psychotherapie zahlreiche religiöse Fragen. Der Vf., ausgebildeter Theologe, arbeitet seit etwa 15 Jahren als tiefenpsychologisch orientierter Psychotherapeut in einer eigenen Praxis im Südschwarzwald. Explizit religiöse Themen begegnen in Therapie-Sitzungen u. a. in Erfahrungsberichten aus Kindheit und Jugend, Begegnungen mit religiös Professionellen und religiösen Gemeinschaften, in Traumsequenzen mit religiösen Motiven, im Fragen nach der Existenz Gottes und in Sinnfragen. Dies veranlasste den Vf. zu einer eingehenderen empirischen Untersuchung: Wie verstehen, erleben und praktizieren Menschen in einer Lebenskrise Religiosität? Sind Gottesglaube, Credo oder Kirche in solch einer Situation hilfreich? Oder bei welchen religiösen Auffassungen und Praktiken könnten Caritas (Diakonie) und Kirchgemeinden mit Hilfsangeboten anknüpfen, damit Hilfe tatsächlich fruchtbar werden kann?

Methodisch hat sich der Vf. für Fragebogen-Interviews zum Zeitpunkt des Beginns einer Psychotherapie in seiner eigenen Praxis entschieden (vgl. die ausführliche Dokumentation von Fragen, Antworten und statistischer Auswertung im Anhang, 219ff.). Das Buch stellt ausführlich die Untersuchung (43 ff.) und deren Ergebnisse (63-152) dar. Die ersten 30 Seiten erörtern theologische Elemente von Caritas (15 ff.), die "Religiositätsfrage in der gegenwärtigen Richtlinien-Psychotherapie" (19ff.) sowie kurz Thesen aus der "empirischen Erforschung über Religiosität und seelische Gesundheit" (25 ff.), dies konzentriert auf die kontroversen Lager "förderliches Therapeuticum" und "hinderliches Obstakel". Hier fällt manches recht holzschnittartig aus. Es gibt gewiss gründlichere Diskussionsüberblicke. Vor allem die wichtigen US-amerikanischen Untersuchungen (gerade auch durch Psychotherapeuten!) hätten zumindest erwähnt werden können.

Die Arbeitshypothese formulierte der Vf. eher pessimistisch: "Zentrale inhaltliche Aspekte des christlichen Glaubens spielen für die Bewältigung von Lebensereignissen bei den Befragten eine eher untergeordnete Rolle" (37) Demgegenüber fielen die Antworten deutlich positiver aus: "80 % geben innerhalb des Credo an, der Glaube an Gott sei ihnen wichtig, wohingegen für 40 % der Glaube an Gott in ihrer augenblicklichen Lebenssituation nicht sonderlich hilfreich ist. 80 % der Pbn [Probanden] sagen von sich selbst, religiös zu sein, 66,7 % kennen konkrete Formen, mit der [sic! denen?] sie in ihrem Alltag ihr Verständnis von Religiosität praktizieren. [...] und für fast alle (93,3 %) gilt, dass sie aufgrund ihrer aktuellen Lebenssituation, also der momentanen psychischen Krise, neu auf das Religiöse, auf die Frage nach dem Religiösen gestoßen sind" (197). Dies sei ein "erhebliches Potential an Menschen, die (neu) mit dem Leben in Fülle (Joh 10,10) in Berührung" gebracht werden könnten (ebd.). Für die Kirche sei es wichtig, ob hier Missverstehen oder Verständigung leitend seien. "Es gilt, sowohl von Caritas wie auch von Psychotherapie diese Sehnsucht konstruktiv aufzugreifen", die Sehnsucht in Bezug auf etwas Allumfassendes, ein gänzlich anderes Sein, ein Sehnen sich fallen lassen zu können in einer Haltung der Hoffnung (199). Sowohl die Kirchen als auch die Richtlinien-Psychotherapie (d. h. Verfahren mit Zulassung auf Abrechnung durch die gesetzlichen Krankenkassen: Psychoanalyse und Verhaltenstherapie) werden für ihre mangelnde Beheimatung solcher Sehnsüchte kritisiert (vgl. "Interpretation", 153 ff. und "Ausblick", 197 ff.). Die Kirchen sollen ihren verbal orientierten, "soterio-theologischen Verkündigungs-Stau" überwinden (207 ff.), präsentische Aspekte von Heil und Heilung stärker betonen und Heil z. B. erspürbar werden lassen "anhand einer tragenden Bezogenheit zwischenmenschlicher Konstellationen" (208). "Weil Seele Beziehung ist, verdrängt auch die heute gängige Form von Religion ihr Konstitutivum, wenn sie sich allein mit dogmatischen Leerformeln und satzhafter Richtigkeit beschäftigt" (Büchler, zitiert in Robrecht, 23). Und warum falle es den Kirchen so schwer, "den Menschen als den bereits Erlösten zu verkünden"? "Es macht einen großen Unterschied aus, ob ich einen leidenden Menschen wissen und erfahren lassen darf, dass er göttlicherseits in der absoluten Tiefe seiner Personexistenz erlöst und heil ist, wenngleich ihm selbst diese existentiale Unversehrtheit in seiner momentanen Seelenkrise erfahrungsmäßig nicht zugänglich wird" (208). Von Psychotherapeuten fordert der Vf., sich mit religiösen Fragen zu befassen, ohne unbedingt gläubig zu werden. Dies gebe mehr Kompetenz im Umgang mit den religiösen Sehnsüchten der Patienten und Patientinnen. Und Religion könne auch für Therapeuten eine Stütze in schweren Therapiephasen sein und das Vertrauen in die Kraft des Guten stärken (23 und 200 f.).

Die harmonischen Modellbeschreibungen über den guten Zusammenklang bzw. das Ergänzungsverhältnis zwischen Religion und Psychotherapie übergehen alte Konkurrenzen und unüberbrückbare Differenzen. Auch die sehr positiven Antworten der Probanden aus dem Südschwarzwald über Credopassagen rufen, im urbanen Raum gelesen, nach Vergleichsstudien. Eine stärkere theoretische Einbindung der Studie in die US-amerikanische Forschung über Religiosität und Psychotherapie wäre wünschenswert gewesen. Wie interessant Verlaufsstudien zur Religiositätsentwicklung in Therapien wären, merkt der Vf. selbst an. Dennoch bleibt das Buch ein wichtiger empirischer Diskussionsbeitrag zur deutschsprachigen Debatte über Religiosität und Psychotherapie. Und man kann auf weitere Untersuchungen gespannt sein.