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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

334–337

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kretzschmar, Gerald:

Titel/Untertitel:

Distanzierte Kirchlichkeit. Eine Analyse ihrer Wahrnehmung.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2001. 352 S. 8. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-7887-1849-8.

Rezensent:

Jan Hermelink

Zum Problembestand kirchlicher Selbstwahrnehmung gehört seit langem die Beobachtung, dass die Mehrheit der Mitglieder Abstand zum sonntäglichen Gottesdienst wie zu den Gruppen der Gemeinde hält, sich zugleich dezidiert als christlich versteht und auch zur kirchlichen Institution gelegentlichen, aber stabilen Kontakt pflegt. Dieses Phänomen wird seit dem späten 18. Jh. unter dem Titel "Unkirchlichkeit" verhandelt; seit den 1950er Jahren wird es mit dem Begriff "distanzierte Kirchlichkeit" belegt. Im Anschluss an T. Rendtorff, P. Cornehl, G. Rau und andere geht die vorliegende Arbeit - eine Heidelberger Dissertation - davon aus, dass jenes Phänomen keine problematisch-defizitäre Mitgliedschaftsform darstelle, sondern als eigenständiger, klar profilierter Bindungstyp zu verstehen und - als "Norm-Fall protestantischer Frömmigkeit" (2) - theologisch zu würdigen sei. Mit diesem Ziel wird hier eine kritische Revision der kirchensoziologischen und praktisch-theologischen "Wahrnehmung" jener Bindungsformen seit dem späten 19. Jh. vorgelegt.

Im ersten von vier Kapiteln wird der Begriff "distanzierte Kirchlichkeit" forschungsgeschichtlich rekonstruiert: Es geht um "Einstellungen und Verhaltensweisen", die von den kirchlichen Institutionen in der Gesellschaft bedingt sind, sich jedoch kaum in deren gemeinschaftlichen Lebensformen äußern (23 u. ö.). Diese Definition würde die Annahme einer Pluralität "kirchlich distanzierter" Beziehungsformen erlauben; die vorliegende Arbeit nimmt jedoch eher einen, spezifisch konturierten Typus "distanzierter" Bindung an und fragt, ob und wie dessen Eigenständigkeit in den einschlägigen Untersuchungen zur Geltung gekommen sei.

In einem zweiten, knappen Kapitel wird die Erforschung jenes Typus' von der Moralstatistik A. v. Oettingens (1868) bis zur Kirchensoziologie der 1950er und 1960er referiert. Um 1970, vor den großen Mitgliedschaftsumfragen, war man demzufolge mit jenem "durchaus stabilen und positiv gestalteten Verhältnis zur Kirche" empirisch durchaus vertraut (81); tief greifendes Verständnis oder gar theologische Akzeptanz blieben jedoch die Ausnahme.

Das dritte, bei weitem umfangreichste Kapitel rekapituliert die einschlägigen Repräsentativ-Untersuchungen der VELKD (1972) und der EKD (1972; 1982; 1992), deren "geheime[s], letztlich aber eigentliche[s] Thema" die "distanzierte Kirchlichkeit" gewesen sei (39). Dabei unterscheidet der Vf. - ein wenig schematisch - zwischen "soziologischer Information und theologischer Interpretation" (29.129 u. ö.); er fragt jeweils zunächst nach den Eigenarten der Ergebnispublikationen und sodann nach den Tendenzen der jeweiligen kirchlichen Rezeption.

Kaum überraschend wird die VELKD-Studie "Gottesdienst in einer rationalen Welt" recht kritisch analysiert. Auf Grund eines undifferenzierten Krisenbewusstseins, der Beschränkung auf das Kriterium des Gottesdienst-Besuches, und der Orientierung am sozialpsychologischen "Balancemodell" affektiv-kognitiv gesteuerten Verhaltens sei es hier kaum gelungen, "distanzierte Kirchlichkeit" besser wahrzunehmen und damit über ihre gängige Deutung als defizitäre Mitgliedschaftsform hinauszukommen.

Demgegenüber erscheint die gleichzeitige EKD-Untersuchung "Wie stabil ist die Kirche?" als weithin gelungene Wahrnehmungsbemühung. Der organisationssoziologische Theorierahmen sowie die offene Frage nach diversen Aspekten der Mitgliedschaftsverhältnisse habe deren große Pluralität zur Anschauung gebracht; die empirischen Einsichten zum distanzierten Mitgliedschaftstyp seien bereichert und überzeugende gesellschafts- wie kirchentheoretische Deutungen vorgelegt worden.

Nach dem Urteil des Vf.s bleiben die weiteren EKD-Umfragen gegenüber jenem Höhepunkt methodisch wie inhaltlich weit zurück. 1984 ("Was wird aus der Kirche?") sei die empirische Wahrnehmung unschärfer geworden, weil Daten über die Mehrheit der Mitglieder undifferenziert als Bestimmungen der distanzierten Bindung präsentiert und weil die methodischen Probleme der "Unbestimmtheit" als inhaltliche Beschreibung von Kirchlichkeitsformen missverstanden worden seien (197 f.). Dazu sei die "normative Ekklesiologie" einer konziliaren Lerngemeinschaft so in den Vordergrund getreten, dass das Recht dauerhafter Distanz zur Kirche fraglich geblieben sei (224.237 u. ö.).

Ähnlich scharf werden die Umfragepräsentationen über die "Fremde Heimat Kirche" (1993/97) als "Tiefpunkt in der Wahrnehmung" (275) kritisiert. Entgegen der Absicht, "distanzierte Kirchlichkeit" zu fokussieren, sei auch hier meist nur von der Mehrheit oder gar der Gesamtheit der Mitglieder die Rede. Auch die Konzentration auf das Individualisierungstheorem und auf die familiär-biographische Deutung von Kirchenmitgliedschaft verfehle die Spezifika jenes Bindungstyps; die neuartige Quelle der Erzählinterviews werde methodisch ganz unzureichend genutzt.

Im Anschluss an die Kritik der jeweiligen Umfrage-Publikationen referiert der Vf. - in mitunter ermüdender Ausführlichkeit- jeweils die Aufsätze und Sammelbände, die jene Publikationen ausdrücklich rezipiert haben. Im Ganzen ist es zunächst frappierend, wie voreingenommen und selektiv die Rezeption verläuft; eher werden mitgebrachte Urteile bestätigt als in Frage gestellt. Allerdings, so urteilt der Vf., mache es die veröffentlichte Datenpräsentation den Rezipienten oft schwer, des Phänomens "distanzierter Kirchlichkeit" überhaupt ansichtig zu werden. - Im Einzelnen werden zahlreiche problematisierende, wenige akzeptierende und nur ausnahmsweise auch theologisch wertschätzende Beurteilungen des Phänomens benannt. Die einschlägigen praktisch-theologischen Debatten etwa zu den Amtshandlungen oder zum Pfarrerbild, die die soziologische Mitgliedschaftsforschung eher indirekt, aber doch nachhaltig rezipiert haben, finden allerdings kaum Berücksichtigung.

Besonders kritisch sieht der Vf. die Handlungskonsequenzen, die im Blick auf kirchliche "Distanz" regelmäßig formuliert werden: Alle Empfehlungen zu deren missionarischer "Bearbeitung" oder konziliar-kommunikativer "Verlebendigung" scheinen ihm im Widerspruch zu stehen zu der Leitannahme eines eigenständigen, immer schon profiliert gestalteten und reformatorisch-theologisch legitimen Typus distanzierter Kirchenbindung. Diese prononcierte Überzeugung verstellt gelegentlich den Blick auf die Pointen der kritisierten Konzepte; namentlich das Programm der Konziliarität kommt etwas einseitig in den Blick.

Das Schlusskapitel resümiert, seit den 1970er Jahren seien weder verlässliche neue Informationen noch innovative Deutungen zum Thema vorgelegt worden. Diese "Krise" der Kirchlichkeitsforschung (292) wird auf ihre unzureichende theoretische Fundierung zurückgeführt: Weder der reformatorische, an empirischen "Adiaphora" dogmatisch desinteressierte Kirchenbegriff (309 ff.) noch die neuprotestantische, kult- und traditionskritische Kirchentheorie (299 ff.) seien in der Lage, die einschlägigen Phänomene zu würdigen. In einer abschließenden Skizze bringt der Vf. dafür den von H.-R. Reuter (1997) rekonstruierten dreifach dimensionierten Kirchenbegriff A. Ritschls in Anschlag und versucht zu zeigen, dass "distanzierte Kirchlichkeit" auf der dogmatischen, der ethischen wie der institutionell-rechtlichen Reflexionsebene der Ekklesiologie zugleich zu verorten und jeweils mit spezifischen "Bezugsgrößen" der religiös-kirchlichen Wirklichkeit zu vermitteln sei.

K.s Studie bietet ein breites, sehr informatives Resümee der kirchensoziologischen und (nur) der unmittelbar darauf bezogenen kirchlichen Wahrnehmung distanzierter Mitgliedschaft. Die methodische Kritik, gerade der jüngsten EKD-Studie, ist scharf, aber sachlich durchaus überzeugend; ebenso schlüssig ist das Plädoyer für eine stärker theoriegeleitete, multiperspektivische Wahrnehmung kirchensoziologischer Daten.

Die Meta-Kritik der kirchlichen Rezeption wie deren ekklesiologisch-konstruktive Fortführung leiden hingegen darunter, dass die Leitkategorie der "Wahrnehmung" noch zu wenig ausgearbeitet erscheint. Nicht immer wird die - von J. Matthes unermüdlich eingeschärfte - Einsicht festgehalten, dass "distanzierte Kirchlichkeit" überhaupt nur als Resultat bestimmter Wahrnehmungsperspektiven "existiert". So macht es wenig Sinn, soziologische Einsichten unmittelbar als Gegenargument zu theologischen Bewertungen der Mitgliedschaft zu präsentieren (297 f.) oder die verschiedenen Dimensionen des Kirchenbegriffs direkt mit bestimmten Phänomenen, etwa der Orientierung auch "distanzierter" Mitglieder an christlich-ethischen Maßstäben, zu verbinden (316 f.). Die Vorstellung eines eigenständig profilierten "distanzierten" Bindungstypus kann nicht mehr und nicht weniger sein als ein - wohl begründetes - theoretisches Wahrnehmungsmuster. Unter dieser Prämisse zeigt die vorliegende Untersuchung, wie produktiv jenes Wahrnehmungsmuster für die kirchliche Selbstverständigung war und ist- und wo seine Grenzen liegen dürften.