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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

332 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Witschen, Dieter:

Titel/Untertitel:

Christliche Ethik der Menschenrechte. Systematische Studien.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2002. IV, 356 S. gr.8 = Studien der Moraltheologie, 28. Kart. Euro 24,90. ISBN 3-8258-6131-7.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Menschenrechte haben im Moment Konjunktur, und das zieht eine Menge von Publikationen zum Thema nach sich, aus juristischer, philosophischer, politologischer, soziologischer Perspektive- und die Theologie steht dahinter nicht zurück. Dieter Witschen hat einen Sammelband mit Aufsätzen aus den Jahren 1993 bis 2002 zusammengestellt; sie alle sind in renommierten katholischen Fachperiodika erschienen und hier unter weitgehender Auslassung von Wiederholungen und Doppelungen in einer Weise angeordnet, die dem Band monographischen Charakter gibt. W. konstatiert eine enge Beziehung zwischen allgemeiner Menschenrechtsethik und katholischer Moraltheologie; aus dieser Perspektive fragt er nach Trägern, Adressaten, Inhalten und institutioneller Form von Menschenrechten, näherhin nach ihrer anthropologischen Fundierung, den Handlungsprinzipien, die sich aus den Menschenrechten ergeben, nach den institutionellen Regelungen, die für die rechtliche Implementierung von Menschenrechten notwendig sind, sowie nach ihren ethischen Grundkategorien. Das beinhaltet Reflexionen über Menschenrechte der dritten Generation (129 ff.), Kinderrechte (185 ff.), Fragen der Sanktionierung von Menschenrechten (215 ff.), den Charakter von Menschenrechten als Tugenden (261 ff.), das Verhältnis von Menschenrechten und -pflichten (235), über Gewissensfreiheit (281 ff.) und die sog. umgekehrte Diskriminierung (329 ff.).

W.s katholische Menschenrechtstheorie kommt mit wenigen Grundentscheidungen aus, die er an allen von ihm behandel-ten Problemen durchbuchstabiert. Menschenrechte sind für ihn nicht nur Rechtsinstitutionen, sondern auch "moralisch begründete Ansprüche" (7). In diesem Nebeneinander von rechtlicher Garantie und moralischer Begründung (18) sind Menschenrechte an eine bestimmte Anthropologie gebunden (82). Menschenrechte gelten für W. universal, sie sind jedoch unterschiedlichen kulturellen und disziplinären (theologischen, philosophischen, politologischen) Begründungsperspektiven zugänglich (66). W. spricht darum konsequent von einer "me- taethischen Begründungsoffenheit" (125) der Menschenrechte. Über unterschiedliche Begründungen wird in einem interkulturellen Dialog Verständigung darüber hergestellt, was Menschenrechte ausmacht.

Eine fundierende Anthropologie der Menschenrechte ist eher eine Minimal- denn eine Idealanthropologie; sie beschreibt das Minimum dessen, was zum Menschsein notwendig ist, nicht das Optimum. Aus der Erfahrung exemplarischen Unrechts ergibt sich eine "anthropologia negativa" (82), welche juristisch zu universalen Rechten führt, die jedem Menschen garantiert werden. Für die kirchliche - und das meint bei W. immer die katholische - Theologie ergibt sich der ethische Universalismus der Menschenrechte aus der Gottebenbildlichkeit. Aus dieser Grundlage heraus begründet die kirchliche Theologie Menschenrechte durch eine christliche Anthropologie und leistet als eine nichtstaatliche Organisation Beiträge zur Verwirklichung der Menschenrechte (12). Kirche ist darin neben anderem auch eine Menschenrechtsorganisation (31). Doch geht die Ethik der Kirche nicht in einer Ethik der Menschenrechte auf, denn die kirchliche Ethik der Nächstenliebe reicht für W. sehr viel weiter als das Minimalethos der Menschenrechte.

Drei Fragen sind es, die sich nach der Lektüre der Aufsätze stellen: In Hinsicht auf die von W. selbst geforderte Begründungsoffenheit der Menschenrechte ist zu fragen, warum er sich in seinen Reflexionen auf die moraltheologische Perspektive der katholischen Kirche beschränkt und den Dialog mit anderen Begründungskonzeptionen, theologischen wie nichttheologischen in keiner Weise aufnimmt und weiterführt. Hier jedoch liegen entscheidende Probleme für Geltung, Wirkung, Legitimation und Akzeptanz der Menschenrechte. Es ist unrealistisch so zu tun, als ob sich à la longue alle Bürger und Christen der katholischen Position zu den Menschenrechten anschließen würden. Auch innerkatholische Kontroversen zu den Menschenrechten lassen W.s Reflexionen an kaum einer Stelle erkennen.

Es verstört protestantische Leser, dass von der katholischen Kirche oft als "Kirche" im Singular die Rede ist (z. B. 23 f.). Weil er die Auseinandersetzung mit anderen Begründungspositionen unterlässt, erzeugt W. einen Anschein der Selbstverständlichkeit katholischer Menschenrechtsreflexion, die so nicht gegeben ist.

Die zweite Frage zielt auf eine weitere Beschränkung des Verfassers. Konsequent beschränkt er sich auf eine katholische Position der Menschenrechtsbegründung, und ebenso konsequent beschränkt er sich auf die Entwicklung einer systematischen Begründung von Menschenrechten, ohne dabei die notwendigen Seitenblicke auf Politik und Historie zu werfen. Ethische Plausibilität, Begründungs- und Geltungsreflexion sind jedoch nicht per se ausreichend, um die Implementation von Menschenrechten in nationalen Verfassungen und internationalen Erklärungen zu erreichen. Es ist gefährlich, davon zu abstrahieren, dass Menschenrechte eine bestimmte (Ideen-)Geschichte haben, politisch und juristisch erkämpft werden mussten und müssen, oftmals im Übrigen gegen kirchlichen Widerstand. Dies darf eine systematische Reflexion nicht außer Acht lassen. Selbstverständlich ist es ein Fehlschluss, von der Genesis der Menschenrechte auf deren Geltung zu schließen (46), aber das berechtigt nicht dazu, die Geschichte der politischen und juristischen Durchsetzung von Menschenrechten nicht in die Reflexion mit einzubeziehen.

Die dritte Frage zielt auf das Verhältnis von rechtlicher und ethischer Dimension der Menschenrechte. W. benutzt diese Unterscheidung, um den Gegenstandsbereich von Menschenrechten auszuweiten. Was aber ist dann mit Menschenrechten, die es nur als ethische gibt, denen aber nie juristische Verbindlichkeit zukommen wird? Sehr anschaulich zeigt sich das an W.s Reflexionen über ökologische Kinderrechte (201-214). Damit ist gemeint, was andere Juristen und Theologen als Rechte zukünftiger Generationen bezeichnet haben. Gibt es einen Weg, dieses als Rechtsinstitut in Verfassungen und Menschenrechtspakten zu verankern? Juristen sind hier in der Regel sehr viel skeptischer als Theologen. Denn was ethisch gilt, versteht sich darum juristisch und politisch noch nicht von selbst.

Insofern markieren W.s Reflexionen nur einen Anfang, sie bedürfen der weiteren dialogischen Entfaltung.

Die Moraltheologie der Menschenrechte muss sich auseinander setzen mit anderen theologischen Positionen der Menschenrechtsethik, sie muss Menschenrechte als politisches und historisches Phänomen ernst nehmen und den Dialog mit Rechtswissenschaft und Philosophie führen. Der erzielte Gewinn, die systematische Darstellung einer Position katholischer Moraltheologie zu den Menschenrechten, müsste investiert werden in die (kontrovers-)theologische Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven der Menschenrechtsreflexion.