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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

324–327

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Zimmermann, Rainer E.:

Titel/Untertitel:

Subjekt und Existenz. Zur Systematik Blochscher Philosophie.

Verlag:

Berlin-Wien: Philo 2001. 282 S. 8 = Monographien zur Philosophischen Forschung, 281. Kart. Euro 27,50. ISBN 3-8257-0231-6.

Rezensent:

Elisabeth Gräb-Schmidt

Der Titel der Monographie weckt große Erwartungen. Die Einleitung nimmt den weit gespannten Horizont des philosophischen Entwurfs von Ernst Bloch mit dem Titel "Metaphysik als Ontologie des Noch-nicht-seins" auf. Das große Thema der Philosophie, die Schau einer Einheit des Seins und seines Grundes, das man längst im Zuge postmoderner Relativismen verabschiedet haben zu müssen meinte, wird hier im Gewande einer Darstellung der Systematik Blochscher Philosophie von Z. eindrücklich und mit Verve vorgetragen. Z., promovierter Mathematiker und Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Naturphilosophie, erweist sich als genauer Kenner des Gesamtwerks Ernst Blochs, wobei er es für die Philosophie insgesamt als unverzichtbares Desiderat ansieht, "eine Einbettung Blochschen Denkens in heutiges Philosophieren zu leisten" (7). Dem Interesse von Blochs eigenem Denken folgend, möchte Z. die Traditionslinie einer Philosophie rehabilitieren, die nicht nur den Logos, den Geist, die Idee zu den Repräsentanten eigentlichen Seins und damit zu einem denkwürdigen Gegenstand erhebt, sondern ebenso die meist im Schatten stehende Idee der Natur, die Materie trägt. Im Insistieren Blochs auf der materiellen naturgegebenen Basis allen Denkens und Seins sieht Z. dessen herausragendes Verdienst, das dadurch gesteigert und ins philosophische Recht gesetzt wird, dass Bloch dieses Denken seit den Anfängen der Philosophiegeschichte in einer konsistenten "Denklinie" (65) sieht, die er selbst mit dem Begriff "Aristotelische Linke" geprägt habe (7).

In dieser Würdigung wird zugleich das Anliegen Z.s selbst deutlich. Als Naturphilosoph ist ihm wie Bloch daran gelegen, den vergessenen Teil der abendländischen Philosophie, die Natur, dem Denken neu zuzuführen, mehr noch, das Denken selbst als in dieser gegründet aufzuzeigen. Neben Korrekturen und Ergänzungen im Bereich der Philosophie selbst, sieht er in diesem Programm vor allem auch eine Rehabilitierung der empirischen wissenschaftlichen Theorien eingeleitet (9), die aus dem Überbau eines auf Verallgemeinerungen gehenden Materiebegriffs (63) gewonnen wird. Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie bilden eine Einheit, wobei allerdings Letztere in Ersterer gegründet gedacht wird (63). Insofern impliziert diese Materialisierung des Denkens zugleich eine Kritik des so genannten Vulgär-Materialismus. So sieht Z. zu Recht den Begriff Aristotelische Linke demjenigen der Hegelschen Linken nachgebildet, was neben der Ausrichtung auf den Materialismus im Begriff "links" auch den Hegelschen Systemanspruch meint. Bloch verstand sich im ausgezeichneten Sinne als Erbe der gesamten philosophischen Tradition, die über die Gegensätze von Materialismus und Idealismus (64) auch noch die Religionen mit einbegreifen sollte (79). Mittels dieser bemerkenswerten Erweiterung scheint ihm das Werk Blochs nicht nur in rechter Weise geeignet, die Kluft zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zu überwinden, sondern darüber hinaus einen leistungskräftigeren Ansatz zu bieten für eine philosophische Weltdeutung, die die Welt in ihrem An-sich-Sein, d. h. jenseits einer perspektivischen Subjektivität in ihrer "onto-epistemischen" Verfasstheit in Blick nehmen kann (106). So scheint für Z. Ernst Bloch der Gewährsmann einer materiell-ganzheitlichen Weltauffassung zu sein.

Die Aristotelische Linke, die ihren Gang über Spinoza, Schelling und dann Bloch erstreckt, ist dadurch gekennzeichnet, dass das Ganze des Seins in einem unvordenklichen Urgrund, der als Materie identifiziert wird, seinen Ausgang nimmt, der allem sich daraus Entwickelnden sein Gepräge gibt, auch dem Denken. Dem Duktus des hier gebildeten Gedankengangs entsprechend gliedert Z. seine Darstellung der Philosophie Blochs. In der Einleitung nimmt er deren Ganzes in Blick - ausgehend "vom Dunkel des gelebten Augenblicks hin zur spekulativen Identität" (15). Dieses Ganze wird dann zeittheoretisch aus der Sicht des gelebten Augenblicks, des Jetzt, entfaltet, und zwar in einem ersten Teil rückblickend ins Dunkel durch eine regressive, in einem zweiten Teil durch eine progressive Insichtnahme des Welthaften. Die regressive Insichtnahme gelingt durch den Blick auf die lebensweltliche Praxis, in der das bereits Existierende analysierend hervorgehoben wird, die progressive Insichtnahme nimmt dann von der Praxis ausgehend diese selbst reflexiv deutend als ein Sich-selbst-erfassen der Praxis wahr. So ist die Praxis das der Theorie Vorgängige und zugleich deren Ziel: "Theorie als in Praxis auslaufende" (127). Mit dieser Gliederung nimmt Z. die Denkintention des Systems Blochs auf, indem er die Systematik in ihrem inneren Aufbau wiedergibt und zugleich versucht, eine bloß illustrierende Entfaltung zu übersteigen in Bezugnahme zu heutigem Philosophieren. Dieses Anliegen wird architektonisch gekonnt durch ein Zwischenspiel Z.s profiliert, das zwischen erstem und zweitem Teil die theoretische Weichenstellung der Philosophie Blochs in den hermeneutischen und wissenschaftssystematischen philosophischen Kontext gegenwärtiger Philosophie einzeichnet: "Sprache und Erkenntnis oder die Metaphorisierung des Welthaften und seines Grundes" (87). Neben dem Vorzug, zu den existentialphilosophischen (Sartre) die neueren hermeneutischen, semiotischen und sprachanalytischen Theorien gegenwärtiger Philosophie (Ricur, Levinas, Derrida, Deleuze, Leroi-Gourhan u. a.) ins Spiel zu bringen, dient das Zwischenspiel vor allem dazu, Z.s eigene Intention noch einmal gebündelt hervorzuheben. Sein Konzept geht eine ungewöhnliche, eigentümliche Verbindung von Existenzialismus, Hermeneutik, Semiotik und Materialismus ein. Damit übernimmt er im Sinne Blochs die Verpflichtung zu einer das Ganze umfassenden Philosophie. Wie Bloch selbst verortet er diese Ganzheitlichkeit auf der Seite der Materie.

Zu Recht ist Z. darum bemüht ein philosophisches Weltbild zu ermöglichen, in dem Mathematik und Naturwissenschaften selbst zur Weltdeutung beitragen und nicht nur einen für diese allenfalls peripheren, wenn nicht gar kontrainduzierenden Charakter gewinnen (107 f.). Er sieht in der Aufwertung des materiell-rechnerischen Welthaften gegenüber einem in geistigen Sphären sich verflüchtigenden Spekulieren den Anspruch auf eine adäquatere, der Natur der Sache gemäßeren Zugang zum Selbstverständnis des Menschen und seiner Welt und nach Z. der Welt überhaupt (187). Die Anbindung des Denkens an ein ihm Vorgegebenes, das in Bezug auf die von ihm vorgetragenen hermeneutischen und semiotischen Ansätze als deren eigentliches Anliegen festgehalten wird, dient ihm dazu, der Mathematik und den empirischen Naturwissenschaften philosophisches Gewicht zu verleihen, indem diese es sind, die der Vorgegebenheit der Natur in ihrem Denken und Forschen Rechnung tragen. Es scheint Z. jedoch zu entgehen, dass diese Art Ganzheitlichkeit zwar von Bloch, nicht jedoch von den von ihm referierten vor allem französischen Vertretern der Hermeneutik, des Strukturalismus und der Semiotik angestrebt wird. Die von ihm etablierte "objektiv-reale Hermeneutik" (187) hält Z. auch gegen die philosophischen Ansätze Georg Pichts - hier dessen ethische Überlegungen zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie - und Martin Seels, der einen ästhetischen Zugang zur Naturphilosophie wählt, fest. In beiden sieht er gleichermaßen misslungene Ansätze, die Natur als vergessene Seite der Philosophie ins Spiel zu bringen. Beide setzen auf je verschiedene Weise eine Abhängigkeit des Verständnisses der Natur vom Menschen voraus. Für Z. hingegen ist Natur das, was uns immer schon voraus ist, ja was uns selbst unser Verständnis der Natur und sogar die Art ihrer Erfassung nahe legt (105).

Ethik und Ästhetik sind nun aber genau die beiden Disziplinen, die in der progressiven In-Blicknahme des Welthaften das im Handeln begründete Surplus gegen eine rein kontemplativ theoretische Betrachtung der Welt einklagen. Diese sind am ethischen Impetus Blochscher Philosophie als konkreter Utopie orientiert (191-205 u. 207-223). Sie werden so in der Auseinandersetzung mit Picht und Seel im Zwischenspiel eingeführt. Sowohl Pichts ethische (103-106) als auch Seels ästhetische (109-111) Reflexionen bieten nun aber nach Z. eine subjektivitätstheoretisch verengte Sicht auf Natur. Z. selbst sieht die Natur als onto-epistemische Grundlage auch unseres Denkens an: "somit wäre der Mensch wie eines ihrer [der Natur] Organe" (106). In der Verkennung dieser Tatsache scheint für Z. "eine neue Form von Anthropozentrik zu liegen" (106).

Das Recht einer metaphysisch-ontologischen Theorie scheint für Z. insofern in der Basalität der Naturverfasstheit des Menschen zu liegen. Dieses Anliegen sieht er etwa im Ansatz Gernot Böhmes aufgenommen, der "in der Schönheit der Natur ein Vorzeichen der Versöhnung" erkennen will (173). Damit erscheint das Welthafte mittels einer "objektiv-realen Hermeneutik" auf dem Boden von Ästhetik (187) greifbar. Damit ist die Grundlage vorbereitet, Blochs wissenschaftstheoretische Konzeption darzulegen, in der auch Naturphilosophie als ganzheitliche systematisiert werden kann. Theorie und Praxis als "Materieformen" wären dann "skeptisch[e] auf das Welthafte bezo- gen" und "spekulativ[e] auf dessen Grund" in Physik und Logik (181). Die Ethik ist dabei nachgängig in "irreduzibler Hierarchisierung", wobei Ästhetik "der Logik [als Grundlage der Erkenntnis von allem] ... bereits immanent" sei (181).

Die eigenwillige Verschränkung von Z.s Konzept eines naturwissenschaftlichen Denkens mit einem problem- und differenzorientierten hermeneutischen Ansatz dient nun offensichtlich doch nur dazu, ein naturwissenschaftlich-empirisches Denken als metaphysisch valent zu etablieren. Z. selbst intendiert einen "Rückgewinn der Metaphysik", die er wesentlich in den Formen der "Risikoabschätzung" zu betreiben nahe legt, die aus einem konkreten Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft auf dem Boden eines Konzeptes der "Selbstnarration" des Welthaften erwächst (226). Damit könnte sie nach Z. auch wieder an die aktuelle Forschung in der Physik (GUT [Grand Unifying Theorie]; TOE [Theory of Everything]) anknüpfen sowie Annäherungen an das Unternehmen einer "expressiven Semiotik" im Sinne der Errichtung einer "perfekten Sprache" (Eco) als einzig epistemisch angemessene Erfassung der Welt durch den Menschen (228) erreichen.

Z.s ernst zu nehmender und metaphysisches Denken einklagender hermeneutischer Ansatz wird damit aber leider auf einen monistisch-materialistischen verengt. Man hätte sich gewünscht, Z. hätte die hermeneutischen Ansätze selbst auf den ihm eigenen materialistischen Ansatz, der auch derjenige Blochs ist, angewendet. Dann hätte der weitsichtige, innovative Ansatz Ernst Blochs, der Metaphysik nicht verabschieden, sondern in einer die Natur umfassenden Weise als objektiv-reale Hermeneutik (182) neu begründen wollte, im Sinne des Pragmatismus konstruktiv weitergeführt werden können. So wäre das Anliegen Blochs gewahrt, das Denken vorgängig zu begründen. Zugleich wäre aber die sackgassenartige Engführung einer materiellen Begründung produktiv überwunden worden, indem gezeigt würde, dass wir uns nicht einer dumpfen bewusstseinslosen Materie verdanken, sondern in ein unhintergehbares Wechselspiel von Materie und Geist immer schon eingebunden sind, gründend in der Vorgängigkeit des Tuns vor dem Denken. Genau das aber ist das Unternehmen eines Pragmatismus in weitem Sinne.

Diese Sicht ist diejenige, die der Philosophie Blochs zwar fehlt, die aber ihr Anliegen, das Erbe der spekulativen Philosophie weiter zu führen in adäquaterer Weise zur Geltung hätte bringen können. Die naturwissenschaftliche Ausrichtung von Z.s philosophischem Denken hat diese Öffnung der Naturphilosophie zum Pragmatismus jedoch nicht mitmachen wollen. Dennoch ist gerade wegen seiner vielfältigen Anstöße, vor allem die breite Diskussion philosophisch-hermeneutischer Ansätze, das Buch Z.s informativ und bietet eine tiefgehende Darstellung Blochscher Philosophie in systematischer und konstruktiv-weiterführender Absicht.