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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

321–323

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

1) Heinrich, Elisabeth: 2) Schröder, Winfried:

Titel/Untertitel:

1) Religionskritik in der Neuzeit. Hume, Feuerbach, Nietzsche.

2) Moralischer Nihilismus. Typen radikaler Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche.

Verlag:

1) Freiburg-München: Alber 2001. 366 S. 8 = Alber-Reihe Thesen, 5. Geb, Euro 38,00. ISBN 3-495-47919-8.

2) Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2002. 283 S. gr.8 = Quaestiones, 15. Lw. Euro 56,00. ISBN 3-7728-2190-1.

Rezensent:

Magnus Schlette

Nietzsches "toller Mensch" (Fröhliche Wissenschaft, 125) lief auf den Markt, verkündete den Tod Gottes ("Wir haben ihn getötet ...") und artikulierte die Erfahrung eines existentiellen Orientierungsverlustes im Gefolge der Meucheltat. Seine Zuhörer aber schwiegen befremdet. Da sah der tolle Mensch ein, dass er zu früh gekommen war und die Menschen noch nicht reif waren für seine Nachricht und ihre ungeheuerlichen Konsequenzen.

Die Ignoranz des Marktes würde Nietzsche mittlerweile zumindest dem akademischen Forum nicht mehr vorwerfen können, denn viele Philosophen und Theologen sind Nietzsche darin gefolgt, einen inneren Zusammenhang zwischen der atheistischen Kritik des Gottesglaubens und der Erosion grundlegender moralischer Orientierungen zu behaupten. Daher lag es nahe, dass Winfried Schröder nach seiner material- und lehrreichen Studie über die Ursprünge des Atheismus (Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromann-Holzboog, 1998) nun eine Arbeit hat folgen lassen, in der er sich mit der Geschichte des moralischen Nihilismus auseinander setzt. Darunter versteht Schröder eine Position, welche die Grundnormen einer Minimalmoral negiert, die in allen kodifizierten Rechtssystemen enthalten sind, nämlich das Verletzungsgebot und das Gebot der willkürlichen Ungleichbehandlung. So mancher Leser wird denn auch erwarten, etwas über den Zusammenhang zwischen der Destruktion verbindlicher religiöser Deutungsmuster unter dem radikalisierten Autonomie- und Begründungsanspruch der Moderne einerseits sowie dem Geltungsverlust der Moral andererseits zu erfahren. Diese Erwartung wird in drei Punkten auf instruktive Weise enttäuscht.

Sch. zeigt erstens in der Auseinandersetzung mit der Spätphilosophie Nietzsches, dass sich aus der Religions- und Metaphysikkritik logisch keineswegs das nötige Instrumentarium beziehen lässt, um auch die Moral zu demontieren. Das genealo- gische Argument, mit dem Nietzsche radikaler als jeder seiner Vorgänger die Herkunft der Moral gegen ihre Geltung ausspielt, treffe allenfalls einen moralischen Objektivismus, an den Vertretern des Kontraktualismus pralle es dagegen ab. Nietzsches Überbietungsargument wiederum, demzufolge das Leben einen höheren Wert darstellt als die moralischen Normen, lasse sich nicht intersubjektiv begründen.

Der zweite Punkt betrifft das gängige Vorurteil, die radikalen Atheisten der europäischen Aufklärung seien moralische Nihilisten gewesen, deren anti-autoritäre Philosophie in letzter Konsequenz zu dem hedonistischen Amoralismus eines Marquis de Sade führe. Sch. kann zeigen, dass de Sades sexuelle Aberrationen keinesfalls dem Hedonismus, sondern vielmehr dem gnostischen Antinomismus verpflichtet gewesen seien, während noch die verwegensten der free thinkers mindestens eine Minimalmoral vertraten.

Damit nicht genug, denn drittens schließlich repliziert Sch. die Attacke einer konservativen, der christlichen Wertegemeinschaft verbundenen Aufklärungskritik, indem er in der Bibel Quellen für den moralischen Nihilismus aufweist, durch die sich dann auch keineswegs die radikalen Atheisten, sondern im Gegenteil der christliche Denker Sören Kierkegaard zu einer "teleologischen Suspension des Ethischen" ermächtigt glaubte. Nietzsches Verherrlichung einer machiavellistischen virtù, welche die Geltung der Moral im Namen des Lebens bricht, findet bei Kierkegaard eine Parallele in dem Gedanken, der Anruf Gottes vermöchte die Stimme des ethischen Gewissens zu suspendieren und die moralische Verpflichtung subjektiv aufzuheben. Damit trifft er allerdings einen Nerv des Christentums, dessen deistische Verballhornung als Bilderbuchversion einer aufklärerischen Universalmoral er mit seiner Zuspitzung des Widerstreits zwischen ethischem und religiösem Gebot denn auch vor Augen hatte. Doch Kant hat gleichfalls Recht: Wenn "Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals wissen, daß es Gott sei, der zu ihm spricht" (Der Streit der Fakultäten, Akad.-A. VII, 63). Darauf beruht eben das Paradox des Glaubens, von dem das Christentum vielleicht schwer lassen kann, das es aber andererseits moralisch problematisch macht.

Sch. kann überzeugend dafür argumentieren, dass weder die (atheistische) neuzeitliche Religionskritik zwingend in den moralischen Nihilismus führt, noch - so in seinem systematischen Schlusskapitel in Auseinandersetzung mit Susan Wolf und Bernard Williams - die Moral selbst eine nihilistische Schattenseite hat, sofern sie nicht gerade als Anleitung zu einem supererogatorischen Exercitium missverstanden wird, das den Menschen überfordert und an sich selbst verzweifeln lässt. Statt eines moralischen Perfektionismus plädiert er für ein austariertes Verhältnis zwischen gutem und moralischem Leben. Nur wie es richtig austarieren? Diese Frage markiert eine Klippe, die Sch.s Argumentation elegant umschifft.

Wer Sch.s Buch entnommen hat, dass Nietzsche durch die unzulässige Anwendung seiner genealogischen Methode der Herkunftsergründung religiöser Objektivationen auf Fragen der Moral zu dem Philosophen mit dem Hammer geworden ist, dessen starke Thesen noch heute die Gemüter erregen, wird vielleicht interessiert sein zu erfahren, dass der genealogische Blick auf die Kultur durchaus nicht immer destruktiv motiviert gewesen ist. Elisabeth Heinrich untersucht in ihrer Studie Religionskritik in der Neuzeit anhand von Hume, Feuerbach und Nietzsche die verschiedenen Funktionen, welche die genealogische Methode in der neuzeitlichen Religionskritik jeweils zu erfüllen hatte.

Hume dient sie der Rekonstruktion einer Religionsgeschichte, die ohne anthropologische und soziologische Fundierung unerklärlich bliebe, da er den dogmatischen Gehalt der Religionen bereits logisch-empirisch glaubte widerlegt zu haben. Wo er der Religion als Genealoge begegnet, geht es ihm also längst nicht mehr um ihre Kritik. Die genealogische Betrachtungsweise steht vielmehr im Zeichen einer beginnenden, wertfreien religionswissenschaftlichen Professionalisierung. Anders bei Feuerbach, der sie - Bloch folgt ihm darin - einspannt in den emanzipatorischen Aufbruch der Menschheit zu ihrem gattungsgeschichtlichen Vermögen, das unter der Herrschaft der Religion zwar gedeihen konnte, aber leider auch nutzlos verwelken muss, wenn die Menschen es sich nicht diesseitig zueignen, sondern weiterhin seine Eigenschaften auf Gott und eine religiöse Hinterwelt (Nietzsche) projizieren. H. zeichnet richtig nach, dass sich Feuerbach in der Religion zunächst das humanum in entfremdeter Gestalt entbirgt, in der Spätphilosophie dagegen stärker die eudämonistischen Bedürfnisse der Individuen, die, verstünden sie die religiösen Objektivationen richtig, zu einer allerdings auch gattungsgeschichtlich förderlichen Selbstaufklärung gelangten. Auch Nietzsche hat in seinen mittleren Werken gelegentlich Gutes über die kulturschaffende und identitätsbildende Wirkung der Religion zu sagen, wenn es ihm auch an dem vormärzlichen Enthusiasmus Feuerbachs mangelt. Die kritischen Töne, die allerdings auch immer da sind, gewinnen im Spätwerk die Oberhand und führen ihn schließlich in eine destruktive Kritik. Entdeckt Feuerbach in der Religion noch das humanum in chiffrierter Form, so bleibt Nietzsche auf der Suche einer Sinngebungsinstanz nach seinem Gott und Moral gleichermaßen einbeziehenden Zerstörungswerk nur noch die Idee gleichsam eines super-humanum, des Übermenschen.

H.s Studie bietet keine wirklich neue Interpretation. Was sie auszeichnet, ist eher ihre Anlage als einer synoptischen Rekonstruktion vor allem der genealogischen Religionskritik Humes, Feuerbachs und Nietzsches in ihrem jeweiligen werkgeschichtlichen Kontext.