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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

319–321

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Faber, Richard, u. Enno Rudolph [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Humanismus in Geschichte und Gegenwart.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XIV, 246 S. m. Abb. gr.8 = Religion und Aufklärung, 10. Kart. Euro 49,00. ISBN 3-16-147711-1.

Rezensent:

Albrecht Beutel

"Humanismus in Geschichte und Gegenwart": Der Titel klingt enzyklopädisch. Doch steht er, anders als das "theologische Standardwerk fast gleichen Namens", nicht für ein mehrbändiges Handwörterbuch, sondern für einen "bescheidene[n] Sammelband" (VII), dessen 12 Einzelstudien sich allerdings als das "Pilotprojekt" (XIII) einer von den Herausgebern mitkonzipierten, fünfbändigen "Enzyklopädie des Humanismus" verstehen, die in einigen Jahren erscheinen soll.

Ein erster Teil bietet historische Fallstudien zum "Humanismus von Petrarca bis Sartre". Als Auftakt profiliert E. Rudolph den "Renaissance-Humanismus als Epochenstifter" (3- 15). Das integrative Moment jener zwischen Petrarcas Geburtsjahr (1304) und dem Verbrennungstod Brunos (1600) agierenden, sozial und weltanschaulich durchaus heterogenen europäischen Elitenbewegung erkennt Rudolph in dem gemeinsamen Ziel, die Menschen auf dem Weg einer "produktiven Aneignung der Literatur gewordenen Ideengeschichte" (3) zur Humanität zu erziehen. Neu war dabei nicht schon der - auch dem Mittelalter durchaus vertraute- Rückgriff auf das Altertum, wohl aber die traditionskritische Konsequenz und philologische Kompetenz, in der sich diese Renaissance der Antike vollzog. Eine absichtslose, aber effiziente Folge solcher vorbehaltlosen Textarbeit war der schleichende Strukturwandel des philosophischen Studiums: Unter humanistischem Einfluss veränderten die mittelalterlichen artes liberales teilweise ihre Rolle und Funktion (Rhetorik, Grammatik) und wurde der traditionelle Fächerkanon um die Disziplinen Poetik, Moralphilosophie und Geschichte erweitert. Gerade aus dem neuartigen Interesse an Geschichte erwuchs dem Humanismus ein ungemein produktives zeitkritisches Potential: Indem er der Geschichte verbindlich-eigenständige Autorität zuerkannte, konnte er "alle Ansprüche metahistorischer Autoritäten" (13) folgenreich relati- vieren. Beachtung dürfte insbesondere der Hinweis verdienen, dass das von Valla skizzierte und von Pico della Mirandola ausgeführte Freiheitsverständnis insofern eine epochale Umformung darstellt, als nun die Güte Gottes nicht mehr, wie dann wieder bei Leibniz, die fatalen Freiheitsfolgen deterministisch entschärft, sondern im Gegenteil die "risikoreiche Undeterminierbarkeit" (10) menschlichen Handelns garantiert und damit das Theodizee-Problem obsolet werden lässt. Für die Vermutung freilich, Vallas Schrift "De libero arbitrio" (1442) könnte der "eigentliche Adressat der lutherischen Kritik am humanistischen Freiheitsverständnis" gewesen sein (9), hätte man sich einige stichhaltige Indizien gewünscht.

Ein trotz einzelner Redundanzen lehr- und aufschlussreicher Beitrag zu "Giambattista Vicos kulturgeschichtliche[r] Anthropologie" stammt von A. Eusterschulte (17-43). Deutlich arbeitet sie das erkenntnistheoretische Fundament der Geschichtsphilosophie Vicos heraus. Gemäß seinem sog. "verum-factum- Prinzip" vollzieht sich die Kulturgeschichte primär durch menschliche Absichten, Handlungen und Produktionen. Damit weiß Vico zugleich den Gegenstandsbereich wissenschaftlicher Erforschung umrissen: Der Mensch vermag nur "dasjenige zu erkennen, was er selbst hervorgebracht hat" (19). Dagegen bleiben die ewigen Prinzipien der göttlichen Weltordnung seiner Einsicht entzogen. Anders als in cartesischer Denkspur sieht Vico das primum verum also nicht in der Selbstgewissheit der res cogitans, sondern in der göttlich-transzendenten Wahrheit. Indem Vico den allgemeingültigen Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften als eine selbstüberhebliche Fiktion enttarnt, erhält seine Erkenntnistheorie zugleich erkenntniskritische Relevanz. Nun wäre zwar durchaus daran zu erinnern, dass Vico keineswegs der einzige war, der im Zeitalter der Aufklärung die Grenzen des Erkennbaren gesehen und die Dialektik der Aufklärung erkannt hat - die Klügeren unter den Aufklärern kamen darin allesamt überein. Bemerkenswert ist gleichwohl das spezifische, humanistisch geprägte Motiv seiner Erkenntniskritik. Liegt doch die Pointe seiner Kulturtheorie genau darin, dass sie den Sinn für die Grenzen des Erkenn- und Machbaren zu schärfen sucht, um die geistigen Potentiale des Menschen aus der "Barbarei der Reflexion" (43) zu befreien und einer im Moralischen und Politischen zu verwirklichenden Humanität dienstbar zu machen.

Weitere historische Fallstudien schließen sich an: A. Geisenhanslüke liest Goethes "Iphigenie auf Tauris" und Novalis' "Hymnen an die Nacht" als neuhumanistische Dichtungen (45-56). Ch. Schoell-Glass berichtet über "Das humanistische Projekt Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (1926- 1929)" (57-75). Das Verständnis der "Psychoanalyse als humanistische[r] Mythologie" bei Freud und Th. Mann analysiert W.-D. Hartwich (77-102). Schließlich gehen A. Arndt bei Feuerbach (103-117) und V. v. Wroblewsky bei Sartre (119-137) auf humanistische Spurensuche.

Die Beiträge des zweiten Teils suchen die zwischen den großen Weltreligionen und "dem" Humanismus waltenden Wechselverhältnisse zu bestimmen. In exemplarischer Absicht analysiert Ch. Schulte ein prominentes "Beispiel für die Verteidigung des Universalismus aus den Quellen des Judentums" (141- 166), indem er die von H. Cohen aufgestellte Behauptung, die Noachidischen Gebote der Rabbinen seien als "Vorläufer des Naturrechts und damit eines universal gültigen Rechtsbestandes" (142) anzusehen, historisch-kritischer Prüfung unterzieht. Für Cohen repräsentiert die Figur des Noachiden insofern den Prototypen des unabhängig von seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit gleichberechtigten Mitmenschen, als jeder Mensch Noachide, d. h. ein Nachkomme Noahs ist. Diese These überprüft Schulte am einschlägigen Traditionsbestand: an Gen 6, dem Talmud sowie an vier der einflussreichsten jüdischen Philosophen (Maimonides, Spinoza, Uriel da Costa und, besonders ausführlich, Moses Mendelssohn). Derart fundiert, gelangt Schulte zu dem Resultat, dass sich die Behauptung Cohens, die Noachidischen Gebote seien Vorläufer des Naturrechts, historisch nicht erhärten lässt, und verbindet damit den argumentationsstrategisch erhellenden Nachweis, dass den Noachidischen Geboten in Cohens "Religion der Vernunft" (1919) keinerlei systematische Begründungsfunktion zukommt, sie vielmehr lediglich die "Entdeckung des Menschen als Mitmenschen" aus den Quellen des rabbinischen Judentums historisch illustrieren. Im Rückgang auf die Noachidischen Gebote hat Cohen - nicht zuletzt in zeitkritischer Absicht - gezeigt, dass für das rabbinische Judentum die Anerkennung universaler Mitmenschlichkeit "an die Anerkennung bestimmter ethischer Grundnormen" (166) gebunden und damit keinesfalls voraussetzungslos war. E. W. Stegemann konkretisiert das Verhältnis von "Humanismus und Religion" für das Christentum (167- 186), K. Sitzler für den Islam (187-211), U. Baatz für den Buddhismus (213-225).

Der Band schließt mit der Eröffnung eines neuen Problemfeldes: J. Fischer deutet die philosophische Anthropologie der 1920-60er Jahre als "Platzhalterin des Humanismus" (229- 239). Das unterstreicht noch einmal den Pilotcharakter dieser vielseitigen, instruktiven Anthologie. Bedauern mag man am Ende nur, dass das Sachregister (241 f.) so dürftig bestückt und ein Personenregister sogar gänzlich entfallen ist.