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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

312–315

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

1) Kröger, Heinrich: 2) Kröger, Heinrich: 3) Kröger, Heinrich:

Titel/Untertitel:

1) Plattdüütsch in de Kark in drei Jahrhunderten. Bd. 1: 1700 bis 1900.

2) Plattdüütsch in de Kark in drei Jahrhunderten. Bd. 2: 20. Jahrhundert.

3) Plattdüütsch in de Kark in drei Jahrhunderten. Bd. 3: Quellen und Lesetexte 18. bis 20. Jahrhundert.

Verlag:

1) Hannover: Lutherisches Verlagshaus 1996. 386 S. 8. Kart. ISBN 3-7859-0722-2.

2) Hermannsburg: Missionshandlung 2001. 480 S. 8. Kart. ISBN 3-87546-153-3.

3) Hermannsburg: Missionshandlung 1998. 232 S. 8. Kart. ISBN 3-87546-144-4.

Rezensent:

Christian Bunners

Die plattdeutsche Sprache in der Kirchengeschichte ist bisher nur in Ausschnitten erforscht und dargestellt worden. Nach Einzeluntersuchungen und skizzenhaften Übersichten (z. B. von Gottfried Holtz 1954/55, 1980, vgl. ThLZ 107 [1982], Sp. 880-882) hat Heinrich Kröger die erste ausführliche Darstellung für die Zeit von 1700 bis zur Gegenwart vorgelegt; sie wird mit den anzuzeigenden Bänden abgeschlossen.

K.s Darstellung wird den Stellenwert eines Standardwerkes gewinnen. Sie basiert auf umfangreichen Detailforschungen, mit denen K. viele Personen und Sachzusammenhänge seines Themenbereichs überhaupt erstmals näher erkundet und dabei auch entlegenste Quellenstücke aufgespürt hat. Abgesehen von der speziellen Thematik hat die Darstellung auch Bedeutung für die Geschichte der norddeutschen Kirchen und für die der Praktischen Theologie; sie fordert dazu heraus, hier manche bisherigen Sichten zu korrigieren oder zu komplettieren.

Die südliche Sprachgrenze der in sich vielgestaltigen niederdeutschen Sprache verläuft auf der Linie Berlin - Magdeburg - Düsseldorf. In weiten Teilen Norddeutschlands hatte in und nach der Reformation das Prinzip der Volkssprachlichkeit zum Gebrauch des Plattdeutschen in Predigt und Lied, in Gottesdienst, Seelsorge und Unterweisung geführt. Aus unterschiedlichen Gründen brachte das 17. Jh. die Entwicklung zur hochsprachlichen Monokultur in der Kirche. Dadurch entstanden gravierende Probleme für die Perzeption des Evangeliums durch solche Bevölkerungsteile, die des Hochdeutschen gar nicht oder nur teilweise mächtig waren. Wenn in Norddeutschland im Vergleich zu anderen Territorien eine höhere Unkirchlichkeit beobachtet worden ist, so haben Forscher einen Grund dafür in jenem soziolinguistischen Querstand gesehen. Um das Missverhältnis zwischen der hochdeutsch agierenden Kirche und dem überwiegend plattdeutsch sprechenden und empfindenden Volk zu mindern, kam es zu Forderungen nach dem Weiter- oder Wiedergebrauch des Plattdeutschen, programmatisch beispielsweise in einer akademischen Übung des Theologiestudenten Bernhard Raupach 1704 in Rostock (vgl. den Auszug bei K.: Bd. 3, 11-13). Entsprechende, freilich wenig resonanzreiche Initiativen im 18. und 19. Jh. sind von K. im ersten Band dargestellt worden.

Die Fülle des von ihm im zweiten Band für das 20. Jh. berücksichtigten und sorgfältig belegten Quellenmaterials reicht von plattdeutschen Bibelübersetzungen, Predigten, Gottesdienstordnungen und Liedern über Zeitschriften, Synoden-, Gemeinde- und Vereinsnachrichten bis zu Familiennachlässen, Briefen und oral history. K. hat folgende Entwicklungsetappen unterschieden: Vorgeschichte am Ende des 19. Jh.s (19-26), das erste Jahrzehnt des 20. Jh.s (27-67), neue Ansätze im Ersten Weltkrieg (68-114), die Zeit der Weimarer Republik (115- 229) und des Dritten Reiches (230-296), Wiederbeginn nach dem Zweiten Weltkrieg 1946-1962 (297-342), weitere Impulse 1963-1971 (343-356), Aufbruch in den siebziger Jahren (357-383), Entwicklung in der SBZ/DDR bis 1980 (384- 401), Intensivierung in den achtziger Jahren (402-449), Konsolidierung und Ausweitung in den neunziger Jahren (450-480). Die einzelnen Kapitel bieten Zeitgeschichte und Entwicklungstendenzen, Porträts über Personen und ihr Wirken, Schilderungen von organisatorischen Initiativen, Berichte über Gottesdienste, Konferenzen und wichtige Veranstaltungen bis hin zum MundARTzentrum auf Deutschen Evangelischen Kirchentagen; sie bieten Darstellungen zur Publikations- und Medienarbeit sowie zur Problemgeschichte und zu wissenschaftlichen Erträgen. Den Lesern wird eine bisher weithin im Verborgenen gebliebene Geschichte erschlossen, die erstmals dargestellt und mit differenzierenden Urteilskategorien verbunden zu haben ein großes wissenschaftliches Verdienst genannt werden kann.

Eine Leitfrage K.s im Blick auf den Einsatz von Plattdeutsch ist die nach den kirchlich-kerygmatischen Anliegen einerseits und nach sekundären Motiven andererseits. Letztere speisten sich u. a. aus Heimat- und Heimatkunstbewegung, aus neuniederdeutschen, nationalistisch-völkischen, deutschchristlichen und sprachkulturell-konservativen Positionen. Die kirchlichen, sozialen und geistesgeschichtlichen Hintergründe für den, wie K. zeigt, nicht unerheblichen Einfluss sekundärer Motive, hätte man gerne noch deutlicher ausgeleuchtet gesehen; K. hat sich in dieser Hinsicht aber Beschränkung auferlegen müssen (18). Sekundäre Motive konnten umso mehr eine Rolle spielen, als im 20. Jh. auf Grund gewachsener Schuldbildung, steigender Mobilität und moderner Massenmedien das Hochdeutsch sich als Alltagssprache auch in Norddeutschland zunehmend durchsetzte. Damit wurde die frühere Differenz zwischen Kirchensprache und Volk weithin überwunden und für die Forderung nach Plattdeutsch in der Kirche entstand ein zusätzlicher Legitimationsbedarf, erst recht angesichts der Tatsache, dass die Kenntnis des Plattdeutschen rückläufig war. Auf ideologisch aufgeladene Sekundärbegründungen konnte dort verzichtet werden, wo man der neuen Situation durch ein duales Konzept von Kirchensprache begegnete. Ein solches ist bereits um 1920 u. a. von dem Loccumer Studiendirektor Paul Fleisch und dem mecklenburgischen Pastor Friedrich Köhn vertreten worden (109.150.177). In ähnlicher Weise gehen heutige Konzeptionen für Plattdeutsch in der Kirche von Mehrsprachigkeit "als Bereicherung und Chance" aus. (479). Die spezifischen Elemente plattdeutscher Kommunikation sollen als ein eigengeprägtes zweites Programm kirchlichen Sprachhandelns eingesetzt werden. Der einst institutionskritisch und emanzipatorisch eingeforderte, dann lange umstrittene Gebrauch von Plattdeutsch in der Kirche ist, wie K. zeigen kann, heute weithin akzeptiert. Er hat regionale und überregionale Organisationsformen gefunden, wird von Kirchenleitungen gefördert, hat beachtliche eigene Literaturgattungen hervorgebracht, stellt schließlich einen Beitrag zur Verbindung von Kirche und Kultur dar, vollends seitdem von den siebziger Jahren an europaweit eine Revitalisierung von Kleinsprachen stattgefunden hat und nachdem vom Deutschen Bundestag Niederdeutsch als Regionalsprache anerkannt und 1999 die "Europäische Charta der Regional- und Minderheitssprachen" für die Bundesrepublik in Kraft gesetzt worden ist. Damit ist Plattdeutsch aus einem langen "Aschenbrödeldasein" (451) befreit worden und wird in seinem Eigenwert gewürdigt und gefördert.

Neben den kirchengeschichtlichen Entwicklungen ist K. auch auf die forschungsgeschichtlichen eingegangen (besonders 9- 22.224-227.317-319.380-391.437-447). Während sich einst Ernst Christian Achelis (1838-1912) in seinem einflussreichen "Lehrbuch der Praktischen Theologie" (II. Bd., 3. Aufl. 1911, 450) gegen die kirchliche Verwendung von Plattdeutsch ausgesprochen hatte, weil seit Luthers Bibelübersetzung für das evangelische Volk die hochdeutsche Sprache die heilige Sprache sei, haben andere Universitätstheologen als ausdrückliche Förderer und Sympathisanten von Plattdeutsch gewirkt. K. nennt dafür aus dem 20. Jh. u. a. die Professoren Ernst Sellin (1867-1946), Eduard Frh. von der Goltz (1870-1939), Wilhelm Jannasch (1888-1966), Gottfried Holtz (1899-1989), Volkmar Herntrich (1908-1958), Hans-Günter Leder (geb. 1930), Manfred Josuttis (geb. 1936) und Bernd Jörg Diebner (geb. 1939). Die jüngere Forschungsgeschichte jedenfalls zeigt, dass nach den Pionierarbeiten gelehrter Pastoren zunehmend eine Vernetzung mit universitär angebundener Forschung stattgefunden hat.

Die praxisbewegenden Impulse für plattdeutsche kirchliche Arbeit im 20. Jh. sind freilich weder von theologischen Fakultäten noch von Kirchenleitungen ausgegangen, sie kamen von Laien und Ortspastoren, durch parochiale und regionale Initiativen. Wenn K. dies heraushebt, so kennzeichnet das ein inneres Programm seiner Darstellung, nämlich "niederdeutsche Kirchengeschichte" (19) zu vermitteln als Geschichte einer "Karke van unnen" (479).