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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

311 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Classen, Albrecht:

Titel/Untertitel:

Mein Seel fang an zu singen. Religiöse Frauenlieder des 15.-16. Jahrhunderts. Kritische Studien und Textedition.

Verlag:

Leuven-Paris-Sterling: Peeters 2002. XII, 395 S. gr.8 = Studies in Spirituality, Supplement 6. Kart. Euro 65,00. ISBN 90-429-1098-4.

Rezensent:

Martina Wehrli-Johns

Der an der University of Arizona (USA) lehrende deutsche Germanist Albrecht Classen legt hier eine weitere Anthologie von deutschen Frauenliedern des 15. und 16. Jh.s vor. Der Autor versteht darunter Lieder, die aller Wahrscheinlichkeit nach von Frauen gedichtet wurden und die somit als authentische Stimmen der in ihrer Bedeutung vielfach verkannten Frauenliteratur jenes Zeitraumes zu gelten haben. C. war bei seinen Studien zu deutschen Liederbüchern des 15. und 16. Jh.s auf diese Gattung gestoßen. Seither ist er bemüht, den Fundus weiblicher Lieddichtung ständig zu erweitern und in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit zu rücken. Der vorliegende Band ist das Ergebnis seiner Spurensuche im Bereich der geistlichen Liederbücher. Aufgenommen sind einerseits die bekannten Liederbücher aus den Frauenklöstern Wienhausen und Ebstorf, das Liederbuch der Catharina Tirs (1588) sowie eine große Anzahl von individuellen geistlichen Lieddichterinnen des 16. Jh.s. In allen Fällen kann sich C. auf ältere Texteditionen stützen, die aber teilweise anhand der Handschriften durchgesehen und verbessert wurden. Um die Texte in ihrer Unmittelbarkeit sprechen zu lassen, wurde bewusst auf Übersetzungen ins Neuhochdeutsche verzichtet und stattdessen wurden einzelne Worterklärungen am Rand hinzugefügt. Jeder Abschnitt erhält überdies eine nützliche Einführung zum historisch-biographischen Umfeld der Texte.

Nun handelt es sich bei den Liederbüchern von Wienhausen und Ebstorf unbestritten um höchst bedeutsame Zeugnisse weiblicher Klosterkultur. Ob sie aber geeignet sind, das Problem der Autorschaft zu Gunsten der Frauen zu entscheiden, bleibt eine offene Frage. C. vermutet, dass das Wienhäuser Liederbuch von der abgesetzten Äbtissin Katharina von Hoye (1433-1470) für private Zwecke zusammengestellt worden sei, um das im Kloster vor der Reform von Johannes Busch gepflegte Liedgut zu erhalten. Das würde die Entstehung der Sammlung in einem von Musik, Literatur, Malerei und Textilkunst geprägten kulturellen Ambiente nahe legen, wie es für Wienhausen vor der Einführung der Reform in Sinne der Devotio moderna bezeugt ist. Allerdings reflektiert C. hier eine Auffassung, die von der neueren germanistischen Forschung nicht mehr geteilt wird. So hat Johannes Janota in seinen beiden grundlegenden Artikeln zu den Lemmata Wienhäuser Liederbuch und Werdener Liederbuch im Verfasserlexikon (Bd. 8, 1998) eine neue Datierung vorgeschlagen. Sie gründet auf der Überlieferung des Liedes Maria zart, das erst um 1500 nachgewiesen werden kann und auch im Ebstorfer Liederbuch vertreten ist, dort jedoch mit der Verheißung von Ablass. Das Wienhäuser Liederbuch wäre demnach erst Anfang 16. Jh. entstanden, dasjenige von Ebstorf kaum vor 1520. Sie bilden zusammen mit der Deventer Liederhandschrift (um 1500), dem Werdener Liederbuch (um 1500/ 1530) den Liederbüchern der Anna von Köln (1540) und der Catharina Tirs (1588) eine Gruppe, die stark geprägt wurde von den Reformbestrebungen der späten Devotio moderna. Welche Gebrauchsfunktion das geistliche Lied in diesem Kreis hatte, welches Liedgut gepflegt wurde und inwieweit den Insassinnen dieser reformierten Klöster die Möglichkeit zu eigener literarischer Produktion gegeben wurde, sind Fragen, die erst ansatzweise untersucht sind. Wichtige Vorarbeiten dazu sind neben den zitierten Arbeiten von Janota auch eine Anzahl weiterer Artikel zu den einzelnen Liedern im Verfasserlexikon. C.s Diktum, dass die Liederbücher aus Nonnenklöstern bisher von der Germanistik wenig beachtet wurden, gilt jedenfalls heute nicht mehr.

Der schöne Titel des Buches Mein Seel fang an zu singen ist der ersten Zeile eines anonym überlieferten Ave Maria Liedes entnommen, das C. aus nicht ersichtlichen Gründen den Trebnitzer Psalmen, einer Handschrift von deutschsprachigen Psalmen aus dem Frauenkloster Trebnitz (14. Jh.) zuordnet. Hier beruht die Zuschreibung des Liedes an eine Frau auf einem Missverständnis, denn die Ich-Aussage in Strophe 4 ("Sieh, ich bin eine Magd des Herrn") bezieht sich eindeutig auf Maria und nicht auf die Verfasserin. Auf sichereren Boden begibt sich der Herausgeber mit der Verleihung des Etiketts "Frauenlied" bei Dichtungen von historisch bezeugten Frauengestalten des 16.Jh.s, wie etwa Elisabeth Crucigerin, der mit Luther befreundeten ehemaligen Prämonstratenserin und Gattin eines seiner engsten Mitarbeiters, oder Magdalen Haymairin, der für die protestantische Seite dichtenden Schulmeisterin aus Regensburg. Im letzten Kapitel ist vor allem viel interessantes Material zur Frömmigkeit regierender Fürstinnen zusammengetragen. Genannt seien auf katholischer Seite Maria von Ungarn, Schwester Karls V., und Margaretha, Fürstin zu Anhalt, sowie auf protestantischer Seite Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Calenberg, die maßgeblich an der Durchführung der Reformation in ihrem Land beteiligt war. Sie verfasste 15 geistliche Lieder, die hier erstmals als Korpus veröffentlicht werden.

Aus den Liedern dieser adligen Frauen, die alle als Mütter, Gattinnen oder Witwen eingebunden waren in die Auseinandersetzungen ihrer Zeit, spricht eine sehr persönliche Frömmigkeitshaltung, die geprägt ist von der Last der Verantwortung und der Suche nach Trost und Schutz. Mit kummer vnd schmertz/im Thon: Recht rew vnd klag, schreye ich alltag, in diesen Worten der Marie Cleopha, Gräfin von Sultz begegnet uns ein neuzeitliches religiöses Bewusstsein, das man im anonymen Liedgut der mittelalterlichen Frauenklöster noch nicht findet. Die vorliegende Anthologie regt dazu an, diesen Entwicklungslinien weiter nachzuspüren, auch wenn die im Titel ge- weckten Erwartungen nicht ganz erfüllt werden.