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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

308 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Tobias, Ilse:

Titel/Untertitel:

Die Beichte in den Flugschriften der frühen Reformationszeit.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2002. 318 S. 8 = Europäische Hochschulschriften. Reihe 3, 919. Kart. Euro 45,50. ISBN 3-631-38797-0.

Rezensent:

Martin Ohst

Der Titel der Essener geschichtswissenschaftlichen Dissertation (Gutachter: P. Münch und H. Lutterbach, angenommen 2001) markiert exakt ihren inhaltlichen Schwerpunkt: Die Vfn. stellt eingehend und mit viel Liebe zum Detail eine große Zahl von literarischen Zeugnissen aus der frühen Reformationszeit dar, die sich der Beichte und den mit ihr verbundenen Problemen widmen. Die im Titel indizierte Zuspitzung auf das Genus der Flugschrift (vgl. auch 38-46) handhabt die Vfn. eher großzügig, so zieht sie etwa auch Melanchthons frühe Loci (85-87) ebenso heran wie die voluminösen Arbeiten altgläubiger Kontroverstheologen - Ecks "Enchiridion" oder die "Assertio VII Sacramentorum" Heinrichs VIII. von England wird man füglich kaum als Flugschriften bezeichnen können. Da das Interesse der Vfn. jedoch sehr viel stärker kirchengeschichtlich denn literargeschichtlich ausgerichtet ist, ist das sicher vertretbar.

Im corpus der Arbeit werden, beginnend mit Luther, zunächst die einschlägigen Texte von zehn reformatorischen Theologen dargestellt. Es folgen zehn anonyme Flugschriften sowie acht weitere von Handwerkern und anderen Laien. Schließlich werden altgläubige Stellungnahmen referiert - allerdings nicht im Durchgang durch Einzelschriften, sondern, thematisch geordnet, eher summarisch. Vorteilhaft ist daran, dass gattungsmäßig zusammengehörige Texte jeweils im selben Kontext besprochen werden. Ein gravierender Nachteil liegt allerdings darin, dass dialogische bzw. polemische Konstellationen nicht angemessen zur Geltung kommen (symptomatisch 42; s. auch 118-123 [Ökolampad] und 246 [Latomus] sowie 69-75 [Luther] und 259 [Dietenberger]).

Die Vfn. will also auf breiter Quellengrundlage ein möglichst differenziertes, tiefenscharfes Bild der Diskurse zum Thema "Beichte" in den frühen Jahren der Reformation geben. Entscheidend dafür, ob das gelingen kann, ist dabei, in welchem Maße die Voraussetzungen dieser Diskurse und ihr auslösendes Moment, also das spätmittelalterliche Bußwesen und dessen zugleich grundstürzende und grundlegende Kritik, die Luther in der Folge des Ablassstreits geleistet hat, hinreichend deutlich dargestellt werden. Diese Frage ist im Falle der vorliegenden Arbeit leider nur mit deutlichen Einschränkungen zu bejahen.

Ein einleitender Abschnitt stellt "Buße und Beichte in ihrer geschichtlichen Entwicklung" dar (20-37). Er konzentriert sich allzu ausschließlich auf den Vollzug der Beichte selbst; dessen sinngebender Zusammenhang, das Bußverfahren bzw. das Bußsakrament und dessen theoretische Reflexion in der Bußtheologie und in der Gnadenlehre, kommt einfach zu kurz. Dass dieser Abschnitt nicht auf eigener Quellenarbeit beruht, sondern lediglich den Forschungsstand referiert, ist legitim. Allerdings: Die Literaturauswahl, auf die sich die Vfn. stützt, ist recht beschränkt und durchgängig weder streng an Aktualität noch an Qualität orientiert.

So ist ihr nicht nur R. Seebergs Dogmengeschichte entgangen, die immer noch die beste zusammenfassende Darstellung mittelalterlicher Gnaden- und Bußtheologie enthält, sondern auch R. Schwarz' Untersuchung über die Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie. - Zwangsläufig beeinträchtigt diese perspektivische Schwäche auch die Darstellung Luthers (46-81): Weil sich die Vfn. die tiefe Problematik der Forderung der richtigen Disposition für den Empfang der Absolution im Bußsakrament nicht wirklich klargemacht hat, kann sie nicht herausarbeiten, in welchem inneren Zusammenhang Luthers Klosterkämpfe und seine "reformatorische Wende" eben mit dem Bußsakrament und der Beichte gestanden haben - die beiden Lutherbiographien, die hier mit Vorrang zu konsultieren wären, nämlich die von O. Scheel und R. Schwarz, kennt sie nicht. Warum die 95 Thesen nur genannt, aber nicht interpretierend vorgestellt werden (50), ist unverständlich. Die bußtheologischen Implikationen der folgenden Schriften Luthers zum Thema werden zwangsläufig nicht deutlich genug herausgearbeitet; dass der wichtigste Text in diesem Zusammenhang, die VII. Resolutio zu den Ablass-Thesen, keine Erwähnung findet, ist symptomatisch. Die Besprechung von "De Captivitate Babylonica Ecclesiae" (65-67) konzentriert sich allein auf deren der Buße gewidmeten Teil, dessen eigentlich entscheidendes systematisches Widerlager, nämlich Luthers reformatorische Neuinterpretation der Taufe, wird vernachlässigt- überflüssig zu erwähnen, dass auch O. Bayers Buch "Promissio" nicht konsultiert worden ist.

Diese Fehlanzeigen sind schwer mit dem Befund übereinzubringen, dass die Vfn. außergewöhnlich viel Mühe und Fleiß an Luthers einschlägige Schriften gewandt hat - der ganze Abschnitt ist wirklich aus den Quellen gearbeitet. Geradezu schmerzhaft ist ein weiterer Kontrast: Beiläufig (108) und nochmals ausführlicher (222-225) betont die Vfn. treffend, dass die reformatorische Auffassung von Buße und Beichte nicht mehr und nicht weniger impliziert als ein neuartiges Gottesbild - aber gerade ihre Luther-Darstellung geht so oft an entscheidend wichtigen Pointen vorbei, dass diese Behauptung in der konkreten Arbeit an den Texten nicht wirklich abgegolten wird.

Die Unterbestimmung des Neuaufbruchs in Luthers Schriften zur Buße und zur Beichte beeinträchtigt folgerichtig auch die Interpretation der Schriften der anderen Autoren. Es wird durchgängig nicht deutlich genug herausgearbeitet, welche der neuen Gedanken Luthers von den Autoren wirklich angeeignet, verstanden und geltend gemacht worden sind und wo sie wiederum eigene Akzente setzten bzw. auf ältere kritisch-polemische Stereotypen zurückgriffen. Signifikant ist jedenfalls, dass die anderen reformatorischen Autoren, anders als Luther selbst, intensiv die schon in der spätmittelalterlichen Literatur wieder und wieder verhandelten spezifischen Gefahren und Missstände der herkömmlichen Beichtpraxis (Verführung von Frauen durch Geistliche, unfreiwillige Verbreitung der Kenntnisse über sexuelle "Sünden", Geldschneiderei) als Argument wider diese ins Feld führen (s. die tabellarische Übersicht 218 f.).

Es ist der Vfn. zu bescheinigen, dass sie ein äußerst wichtiges Thema mit großer Mühe und mit großem Fleiß bearbeitet hat. Ausgeschöpft hat sie es allerdings bei weitem nicht.