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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

305–307

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schilling, Heinz:

Titel/Untertitel:

Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte. Hrsg. v. L. Schorn-Schütte u. O. Mörke.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2002. X, 703 S. gr.8 = Historische Forschungen, 75. Kart. Euro 114,00. ISBN 3-428-10865-5.

Rezensent:

Martin Brecht

Zum 60. Geburtstag des Frühneuzeithistorikers an der Humboldt-Universität zu Berlin sind im vorliegenden Band 20 für ihn repräsentative Aufsätze erneut zum Abdruck gebracht worden. Heinz Schilling, Vorsitzender des Vereins für Reformationsgeschichte und Herausgeber des Archivs für Reformationsgeschichte, hat sich unermüdlich für die moderne Einordnung der Reformation sowie der Konfessionalisierung in die Gesellschaftsgeschichte eingesetzt. Die Fülle der Abhandlungen wird hilfreich durch Abteilungstitel gegliedert.

Zunächst geht es um den "Charakter der Reformation". Den Anfang bildet die Berliner Antrittsvorlesung von 1993 "Am Anfang war Luther, Loyola und Calvin - ein religionssoziologisch-entwicklungsgeschichtlicher Vergleich". Von der Sache her, um die es jeder von diesen Gestalten ging, ist die perspektivische Ineinssetzung doch nach wie vor gewöhnungsbedürftig. Aber der Vf. möchte die Reformation nicht als Umbruch, sondern als "Gipfelpunkt eines Temps des Réformes" begreifen, der schon lange im Mittelalter beginnt. Ob sich damit die Neuartigkeit der Reformation in jeder Hinsicht fassen lässt, wird zu fragen sein. Die Religionsvergleiche von 1555 und 1648 werden als "acceptation de la diversité" im Europa der frühen Neuzeit und im Rahmen der Europäischen Union ausgelegt. Einen ersten Höhepunkt des Bandes bildet der große, materialreiche Aufsatz "Karl V. und die Religion - das Ringen um Reinheit und Einheit des Christentums".

Schon früh gehörte die Stadtreformation in Emden und in den Niederlanden zu den Forschungsfeldern des Vf.s. Drei Aufsätze arbeiten das bereits gegenüber dem Calvinismus eigenständige Profil des Stadtrepublikanismus heraus, der sich dem Fürstenstaat entgegenstellte. - Benachbart ist als Themengebiet das "Bürgertum in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland". Das Täuferreich von Münster wird als ein von breiten Schichten getragener stadtbürgerlicher Aufstand begriffen. Bis 1534 dürfte dies tatsächlich zugetroffen haben. Aber zur universalen traumatischen Erinnerung wurde das Geschehen erst mit der Übernahme der Stadt in allen Bereichen bis hin zur pervertierten Theologie durch die schwärmerischen Täufer.

Den Aufstand der Niederlande möchte der Vf., natürlich abgesehen von der spanischen Königsmacht, eher als einen niederländischen Elitenkonflikt von Calvinisten, Vertretern der humanistischen Mittelgruppe und Katholiken mit hoher Beteiligung des Adels und des Großbürgertums denn als eine bürgerliche Revolution verstehen. Entscheidend wurde dabei das unterschiedliche Verhältnis zur Krongewalt. Die Modernisierungstheorie an der Geschichte der nördlichen Niederlande zu exemplifizieren, erweist sich als recht komplex, und dies wird schließlich als Erkenntnisgewinn verbucht. Auf die Fortschritte im 17. Jh. folgten verschiedentlich später Zeiten der Stagnation. Möglicherweise kommt dabei jedoch zum Vorschein, dass das Kriterium nicht sonderlich angemessen ist, weil die frühneuzeitliche Gesellschaft eben keineswegs modern war, wie sich am Beispiel der Entwicklung des Calvinismus zeigt. Sorgfältig nachgezeichnet und in seiner exemplarischen Zukunftsbedeutung erörtert wird der gegen die Monarchie gerichtete "libertär-radikale Republikanismus der holländischen Regenten".

Die letzte Abteilung "Konfessionalisierung und nationale Identitäten" befasst sich mit vielfältigen Themen. Zunächst findet sich hier der wichtige programmatische Aufsatz über "die Zweite Reformation als Kategorie der Geschichtswissenschaft". Der Vf. gehört zu den Historikern, die darunter energisch den bereits von Zeitgenossen so bezeichneten erheblichen Vorgang der Calvinisierung in den verschiedenen deutschen Territorien fassen, obwohl die Begrifflichkeit ursprünglich gleichfalls für eine Intensivierung der Frömmigkeit im Luthertum verwendet worden ist. Welchen Preis die Engführung mit ihren Ausschließungen kostet, wird man allerdings im Auge behalten müssen. Die Begriffsbildung befindet sich hier in partieller Spannung mit den Quellen. Der Vf. sucht drei Phasen bis zur Konfessionalisierung des Reformiertentums auszumachen. Ob und wie weit die Zweite Reformation einem modernen Unionismus vorgearbeitet hat, wird nochmals zu überprüfen sein. Überzeugend ist die Charakterisierung der Zweiten Reformation weitgehend als Fürstenreformation. Gesellschaftsgeschichtlich gilt der frühmoderne Fürstenstaat als Profiteur der Zweiten Reformation.

Programmatisch sind gleichfalls die "Überlegungen zur Gesellschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Kirchenzucht", mit denen die Erörterung über die Problematik der Sozialdisziplinierung aufgenommen wird. Schon als Herausgeber der Emder Kirchenratsprotokolle ist der Vf. auf diesem Feld einer der Experten. Unterschieden wird dabei an sich zutreffend zwischen "Sündenzucht" und Strafzucht. Den ersten dieser Begriffe halte ich allerdings nach wie vor für eine neu geprägte sprachliche Missbildung, gemeint ist dabei die Kirchenzucht, die nicht ohne weiteres mit der staatlichen Kriminalgerichtsbarkeit zusammenfällt und noch in anderen Konnotierungen steht. Die eigenständige Bezogenheit der Kirchenzucht auf die Gemeindeebene wird durch weitere Forschungen vermutlich noch weiter zum Vorschein kommen. Entsprechend plädiert auch der Vf. in einer Auseinandersetzung mit Heinrich Richard Schmidt über "Disziplinierung oder Selbstregulierung der Untertanen" für die Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie hinsichtlich der frühmodernen Kirchenzucht.

Eine gute Zusammenfassung der nicht zuletzt vom Vf. von der Sozialgeschichtsforschung her neu in den Blick gefassten Epoche zwischen 1555 und 1620 bietet der Aufsatz über "die Konfessionalisierung im Reich". Der heute nicht mehr allgemein bewusste Zusammenhang zwischen "Nationaler Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit" wird in einem breiten Panorama vorgeführt. Daneben sind die Ausführungen über die Einwirkung der Konfessionen auf die "Formung und Gestalt des internationalen Systems in der werdenden Neuzeit" bis zur Verselbständigung des Staatsinteresses sehr anregend. In der Außenpolitik fast eines jeden europäischen Landes waren, wenngleich nie allein bestimmend, auch konfessionelle Kräfte am Werke. Analog wird auch der Zusammenhang der konfessionellen Glaubenskriege mit der Formierung des frühmodernen Europas reflektiert. Den Schluss bildet ein weiter und zugleich eindringlich differenzierender Essay "Das konfessionelle Europa".

Der Aufsatzsammlung ist zu bescheinigen, dass es ihr geglückt ist, das vom Vf. sozialgeschichtlich erfasste Phänomen der Konfessionalisierung in vielen Facetten überzeugend zu präsentieren. Die kirchengeschichtliche Disziplin wird das zur Kenntnis zu nehmen haben, sich davon anregen lassen und sich damit auseinander setzen müssen. Auf jeden Fall hat sie dem Vf. zu danken.