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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

300–302

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bucer, Martin:

Titel/Untertitel:

Deutsche Schriften. Bd. 9,1: Religionsgespräche (1539-1541). Hrsg. v. W. Neuser. Bearbeitet v. C. Augustijn unter Mitarbeit v. M. de Kroon.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1995. 527 S. gr.8. Lw. Euro 115,00. ISBN 3-579-04386-2.

Rezensent:

Irene Dingel

Mit dem hier vorliegenden ersten Teil des um das Religionsgespräch von Worms und Regensburg zentrierten Bandes 9 der Deutschen Schriften Martin Bucers wird eine der bedeutendsten Etappen im Wirken des Straßburger Reformators erschlossen und quellenmäßig dokumentiert. Die edierten Stücke zeigen die Unermüdlichkeit Bucers im Bemühen um das Zustan- dekommen eines Religionsgesprächs. Seine Behutsamkeit im Ringen um die zeitweise in unmittelbare Nähe rückende lehrmäßige Einheit der seit dem Auftreten Luthers in zwei Lager zerfallenen Kirche, seine Integrität in den theologisch entscheidenden Fragen und seine sprachlich-begriffliche Kompetenz im Lateinischen, aber auch in eigenen deutschen Übersetzungen treten deutlich hervor.

Der Band vereinigt sieben Stücke, die entweder Bucer selbst abgefasst hat, an denen er federführend oder durch zustimmende Unterschrift beteiligt war oder die in unmittelbarem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Religionsgespräch von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41 stehen. Zu Recht be- ginnt die Edition mit dem Leipziger Reformationsentwurf von 1539, der auf die Federführung Bucers zurückgeht und in dem der Bearbeiter wegen seiner Ausrichtung auf eine Einigung der sich bildenden Konfessionen, freilich unter Zurückstellung von Fragen der Lehre und Bevorzugung einer gemeinsamen Basis in altkirchlich ableitbaren Zeremonien und kirchlicher Ordnung, den Auftakt für die Epoche der Religionsgespräche sieht. Diesen Schwellencharakter sieht er übrigens ebenso im Frankfurter Anstand von 1539 gegeben, hier wegen der explizit in Aussicht gestellten Veranstaltung eines Religionsgesprächs. Freilich sei diese mit dem Leipziger Religionsentwurf und dem Frankfurter Anstand eingeläutete Ära schon fünf Jahre später wieder zu Ende gewesen, denn bereits 1546, d. h. auf dem zweiten Regensburger Religionsgespräch, sei es zu eigentlichen Religionsgesprächen nicht mehr gekommen. Eine sehr eng gefasste Definition dessen, was man unter einem Religionsgespräch zu verstehen hat, bestimmt diesen Interpretationsansatz. Sie macht sich nicht nur an dem Phänomen der Reichsreligionsgespräche und damit an der kaiserlichen Initiative fest, sondern scheint darüber hinaus auch Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit in Einigungsabsicht und zu erreichendem Ziel als Kriterium vorauszusetzen. Neben verschiedenen Gutachten, einer von Bucer verfassten Flugschrift, bestehend aus zwei fingierten Briefen, die im Vorfeld des Hagenauer Konvents die Bedeutung eines "Nationalkonzils" als Mittel zur notwendigen und schließlichen "reformatio" der Kirche thematisieren (An statui/Vom tag zu Hagenaw), und einer sich mit dem Kontroverstheologen und entschiedenen Gegner des Religionsgesprächs Konrad Braun auseinander setzenden, pseudonym abgefassten Schrift (Per quos steterit/Vom tag zu Hagenaw) steht die Edition des Wormser Buchs eindeutig im Mittelpunkt. Hier liegt denn auch der Schwerpunkt des Bandes. Hervorgegangen ist es aus separaten Geheimgesprächen, zu denen Granvella, neben Veltwyck und Capito, Bucer und Johannes Gropper als Hauptkolloquenten zusammengebracht hatte und denen eine Vorlage Groppers zu Grunde lag. Augustijn identifiziert sie mit den 1545 gedruckt herausgekommenen "Artickelln", die als Beilage am Ende des Bandes ebenfalls ediert werden.

Leider bleibt für den Benutzer der Edition das Verhältnis dieser "Artickell" zu dem "Enchiridion Christianae Institutionis" Groppers unklar, das Joachim Mehlhausen als weitere Vorlage stark gemacht hatte (ähnlich Stupperich) und das auch in der hier vorliegenden Edition durchaus an entsprechenden Stellen im Apparat herangezogen wird. Aber da in der Dis- kussion um die Vorlage Groppers Mehlhausens und Stupperichs Ergeb- nisse nicht mit einbezogen werden, bleibt diese Frage dem Urteilsvermögen des Benutzers überlassen, der freilich aus der Edition der kürzlich erschienenen Akten der deutschen Reichsreligionsgespräche I (hrsg. v. K. Ganzer u. K.-H. zur Mühlen) erheben kann, dass jene "Artickell" den Inhalt des Enchiridions in anderer Anordnung aufarbeiteten.

Auf diesem Hintergrund kann der Bearbeiter das Wormser Buch denn auch überzeugend als "Koproduktion" Bucers und Groppers bewerten. Da sich in der Komposition - weniger dagegen im Inhaltlichen - Anklänge an den Leipziger Reformationsentwurf zeigen, schließt sich denn hier auch der Kreis. Die auf Kompromiss und Ausgleich hin angelegten Züge der Wormser Verhandlungen zeigen sich vor allem im Abendmahlsartikel (Art. XIV) und in besonderem Maße in den Formulierungen des umfangreichen Artikels von der Rechtfertigung (Art. V) des Wormser Buchs, das insgesamt einen beträchtlichen Einfluss Bucers widerspiegelt. Hier wird mit dem Begriff einer "duplex iustificatio", d. h. einer Rechtfertigung aus dem ohne vorangehende Werke geschenkten Glauben und den daraus hervorgehenden, den Glauben konkretisierenden Werken, eine Verständigungsebene zwischen den entstehenden Konfessionen beschritten, wie sie zu keinem späteren Zeitpunkt je wieder erreicht wurde. Freilich ist dies in der darauf folgenden Umarbeitung zum Regensburger Buch - wie der schon jetzt an entsprechender Stelle eingeschobene parallele Abdruck des Rechtfertigungsartikels zeigt - sogleich wieder rückgängig gemacht worden.

Die unverzüglich beginnende Umarbeitung des Wormser Buchs durch Randbemerkungen und Korrekturen ist ansonsten aus den Anmerkungen im textkritischen Apparat zu erschließen. Da diese Tendenz zur Revision des Erreichten das Regensburger Buch insgesamt bestimmt, die dazu eingeschlagenen Wege und Phasen der Umarbeitung aber zu komplex sind, um ohne Einbuße der Lesbarkeit in einem Anmerkungsapparat repräsentiert zu werden, darf man auf die Fortsetzung der Edition in Bd. 9,2 mit dem Abdruck jenes Regensburger Buchs gespannt sein und sie sich für eine nahe Zukunft wünschen.

Der mit Teil 9,1 vorgelegte Religionsgespräche-Band stellt eine wichtige Bereicherung nicht nur für die Bucer-Forschung, sondern auch für all jene dar, die sich mit den Fragen ökumenischer Gespräche in Geschichte und Gegenwart beschäftigen. Die Edition der Texte ist solide, gewährleistet durch den parallelen Abdruck deutscher und lateinischer Fassungen eine flüssige Lektüre und bietet ein gut handhabbares Instrument für Forschung und Lehre. Die von Bucer für Landgraf Philipp von Hessen erstellte deutsche Übersetzung des Wormser Buchs wird hier sogar zum ersten Mal in einer Edition zugänglich gemacht.

Etwas bedauerlich ist allerdings, dass die Bearbeiter - freilich ganz im Sinne der Quellentreue - darauf verzichtet haben, die Artikel des Wormser Buchs mit einer Zählung zu versehen, wie man sie in eckigen Klammern den Überschriften hätte voranstellen können. Denn da verschiedentlich untergeordnete Überschriften vorkommen und die Absatzgestaltung keine Rückschlüsse zulässt, ist es für den Benutzer nicht leicht, die einzelnen Artikel auf Anhieb zu identifizieren. Aber dies fällt denn doch aufs Ganze gesehen kaum ins Gewicht.

Noch einmal: Die Edition der deutschen Schriften Martin Bucers hat mit Band 9,1 einen weiteren wichtigen Schwerpunkt im Wirken eines Reformators zugänglich gemacht, dessen Einfluss sich keineswegs auf die Grenzen des damaligen Reichs beschränkte, sondern auf Europa ausstrahlte, und dessen Schriften, angesichts auch heute im interkonfessionellen Gespräch diskutierter Fragestellungen, nicht nur von historischer Relevanz sind.