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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

295–297

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Herzog, Markwart [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Der Streit um die Zeit. Zeitmessung - Kalenderreform - Gegenzeit - Endzeit. Mit Beiträgen v. K. Bayer, R. Eichler, G. Haeffner, M. Heinzmann, M. Herzog, R. Jehl, H. Maier, M. Meinzer, A. E. Müller, R. Schaeffler, u. W. Wallenta.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2002. 214 S. m. Abb. gr.8 = Irseer Dialoge, 5. Kart. Euro 19,00. ISBN 3-17-016971-8.

Rezensent:

Antje Jackelén

Dieser fünfte Band der Irseer Dialoge "Kultur und Wissenschaft interdisziplinär" vermittelt interessante Schnappschüsse aus der Entwicklungs- und Wirkungsgeschichte des abendländischen Kalenders. Die elf Verfasser behandeln Zeitverständnis und Kalender in der Antike und im Mittelalter, Konflikte um die Gregorianische Kalenderreform sowie Endzeiterwartungen um die erste und zweite Jahrtausendwende. Bei aller Vielfalt werden die Aufsätze durch ein Leitthema zusammengehalten: Zeitmessung und Kalenderbildung haben mit dem Erfassen von Rhythmen zu tun, wobei rechnerische Probleme (Astronomie) keineswegs stets Hauptthema waren; vielmehr haben politische und wirtschaftliche Interessen sowie religiöse Minenfelder den Kurs der Kalenderreformen entscheidend beeinflusst.

Gerd Haeffners Entwurf einer geschichtlich-philosophischen Genealogie des Zeitbewusstseins baut auf die These, dass die Idee einer einzigen homogenen Zeit eine Konstruktion aus dem Bewusstsein der Pluralität der Zeiten ist. Leider tritt diese Dialektik zwischen der Zeit und den Zeiten im weiteren Verlauf des Buches oft in den Hintergrund. Karl Bayer schildert in seinem Beitrag die antike Zeitmessung. Auf rühmenswerte Leistungen der Griechen folgen blamable Einsätze der Römer in der Zeit vor der Julianischen Kalenderreform. Ausführliche Zitate aus dem 14. Kapitel des ersten Saturnalienbuches des Macrobius bringen dem Leser Caesars Verwandlung des 355-tägigen Mondjahres in ein Sonnenjahr mit 365,25 Tagen nahe.

Im Anschluss an die Präsentation eines detaillierten Festkalenders beschreibt Michael Heinzmann die wichtigsten Fest- und Gedenktage im Judentum. Charakteristisch ist die Strukturierung der Weltzeit nach dem unverwechselbaren Rhythmus der Feste. Als Religion der Geschichte manifestiert sich das Judentum damit als Gedächtniskultur. Schade, dass Heinzmann hier nicht näher auf das Ineinander von zyklischem und linearem Zeitverständnis eingeht, da diese beiden Aspekte oft fälschlich gegeneinander ausgespielt werden.

Unter dem Titel "Eine Zeit in der Zeit?" beschreibt Hans Maier die christliche Zeitrechnung (d. h. eigentlich: die Zeitrechnung des christlichen Westens!) als ein sukzessives tieferes Einsinken des Christlichen in das Irdische durch die Verbindung von religiösen Gedenktagen und Naturzeiten. Obwohl der christliche Kalender das Zeitgefühl und Ewigkeitsbewusstsein vieler Generationen geformt hat und trotz der berühmten Mühen des Dionysius Exiguus, setzte sich die retrospektive Inkarnationsära erst endgültig durch, als sich zur Zeit der Aufklärung viele Bereiche bereits von christlicher Dominanz emanzipierten. Andreas E. Müller lässt in "einem kurzen Streiflicht auf dieses gewaltige Reich im Osten" die Byzantiner zu Wort kommen, indem er die Vielzahl lokaler Zeitrechnungen kommentiert und das System der Indiktionen erklärt.

Am Beispiel des Augsburger Kalenderstreits in den Jahren 1583-84 zeigt Wolfgang Wallenta, wie die Einführung des Gregorianischen Kalenders beinahe zum Bürgerkrieg geführt hätte. Dabei war der Kalender selbst nur der Anlass; die tieferen Gründe der Unruhen waren politischer, ökonomischer und konfessioneller Art. In den meisten Teilen Deutschlands wurde der neue Kalender erst im Jahr 1700 angenommen. In England währten die politisch-religiösen Debatten um den neuen Kalender von 1583 bis zu seiner Einführung 1752. Die oft zitierten gewaltsamen Proteste wegen der beim Übergang "verlorenen" 11 Tage sind jedoch laut Rolf Eichler nur Legende. Wahr hingegen sei das Wachsen der kulturellen Kluft zwischen Elite und Volk im Zuge der Kalenderkämpfe.

Zwischen 1793 und 1806 experimentierte Frankreich mit dem Revolutionskalender, einem Produkt aus Vernunftglauben, Dechristianisierungstendenzen und dem Willen zur Volkserziehung. U. a. wurde die Siebentagewoche durch die Dekade (Zehntagewoche) ersetzt. Michael Mainzer weist darauf hin, dass das Scheitern dieses Kalenders sowohl interessante Machtfragen als auch die Grenzen historischer Forschung anspricht. Chronobiologie könnte hier wohl mehr erklären als Geschichtsschreibung.

Im letzten Teil des Buches behandeln Rainer Jehl Endzeiterwartungen um das Jahr 1000 und Richard Schaeffler die christliche Botschaft im Wettbewerb der Endzeiterwartungen. Leider greift die Apologetik des letzten Kapitels nicht recht. Einige Unklarheiten und Mängel, die das ganze Buch unterschwellig prägen, werden hier besonders deutlich.

Der thematische Schwerpunkt pendelt zwischen "Streit um die Zeit" und "Streit um den Kalender". Auch wenn dem Format nach Begrenzungen in der Materialwahl notwendig sind, bleibt die Auswahl doch zu kommentarlos auf Griechen, Römer, Juden und christliches Abendland beschränkt. Der lobenswerte Blick auf Byzanz kitzelt diese Hegemonie, greift sie aber nicht wirklich an. Ebenso erstaunlich ist die massive männliche Dominanz bei Verfassern, Referenzen und Beispielen, obwohl Alternativen zugänglich sind. Gerade Zeit und Kalender, zwei Phänomene, die so stark mit Macht verbunden sind, bedürfen dringend einer Behandlung aus Genus-Perspektive. Auch die Rolle von Technologie und Naturwissenschaft erfährt kaum Berücksichtigung. Besonders das letzte Kapitel büßt an Relevanz ein, weil es sowohl die Natur als auch das qualifizierte Wissen über die Natur außen vor lässt.

In dieser Begrenzung sieht Schaeffler es als Aufgabe des Christen, Erfahrungen und Deutungen der Mitwelt kritisch zu sichten, um durch eindeutige Auslegung über Hoffnung zu entscheiden. Obwohl das vorliegende Buch darin weitgehend einer monologischen Existenz verhaftet bleibt, bietet es eine Fülle von gut zugänglicher Information sowie reichlich Hinweise auf weiterführende Literatur und kann somit durchaus für den weiteren Dialog empfohlen werden.