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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

291–293

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Talbot, Michel:

Titel/Untertitel:

"Heureux les doux, car ils hériteront la terre". (Mt 5, 4 [5]).

Verlag:

Paris: Gabalda 2002. VIII, 454 S. gr.8 = Études bibliques. Nouvelle Série, 46. Kart. Euro 62,00. ISBN 2-85021-139-7.

Rezensent:

Heinz Giesen

Die dem MtEv eigene Seligpreisung der Sanftmütigen zählt zu den besonders schwer zu interpretierenden Texten, wie unterschiedliche Deutungen beweisen. Um hier größere Sicherheit zu gewinnen, untersucht Talbot in seiner Dissertation am Collège dominicain de philosophie et de théologie in Ottawa nach der Darstellung des Forschungsstands (1. Kap.) zunächst den weiteren Gebrauch von praus (sanftmütig) in Mt 11,29 (2. Kap.), Mt 21,5 (3. Kap.) und in 1Petr 3,6 (4. Kap.). Das Substantiv prautes, das 11-mal im Neuen Testament vorkommt, und seine Variante prausatia (2Tim 6,11) tragen ebenfalls zum Verständnis des Makarismus bei (5. Kap.). Dem hebräischen Substrat für praus und prautes im Alten Testament widmet sich T. im 6. Kap., bevor er in einer "Conclusion Générale" die Ergebnisse zusammenträgt.

Die Seligpreisung der Sanftmütigen steht in der Textüberlieferung des MtEv meist an dritter Stelle der Makarismenreihe; es gibt indes auch eine beträchtliche Anzahl bedeutender Handschriften, die sie an zweiter Stelle bringen. Einige Autoren sehen diese Textüberlieferung dadurch gestützt, dass ptochoi und praeis auf dieselben hebräischen Äquivalente zurückgehen. Denn der Makarismus nimmt Ps 37(36),11 auf, wo praeis das hebr. Wort 'anawîm übersetzt, das anderswo mit ptochoi wiedergegeben wird. Da die Nuancen der Demut und der Sanftmut des hebräischen Substrats nicht durch ein einziges griechischen Wort ausgedrückt werden könnten, habe der Evangelist den Makarismus verdoppelt (so J. Dupont und viele in seinem Gefolge). Ein vermeintlicher Einfluss von Jes 61 und eine Strukturanalyse sollen die Platzierung an zweiter Stelle untermauern. T. selbst spricht sich wegen des Chiasmus zwischen dem Makarismus der Armen im Geist und der Sanftmütigen zwar für die ursprüngliche Zusammengehörigkeit der beiden Makarismen aus, bestreitet aber, dass das den Inhalt beeinflusst. Die Verheißung des Landes verstehen die meisten Interpreten eschatologisch.

Den Makarismus hält man entweder für ein Trostwort oder für eine paränetische Aussage. In einer soziologischen Interpretation erscheinen die Sanftmütigen als bedürftige Opfer reicher Ausplünderer, als Demütige, Schwache und Unterdrückte, andererseits aber als Gerechte. Spirituell sieht man in der Sanftmut eine Seelenhaltung, wobei umstritten ist, ob es eine Haltung Gott oder den Nächsten gegenüber ist.

Um die strittigen Fragen zu entscheiden, wendet sich T. zunächst Mt 11,29b zu, wo Jesus sich selbst als "sanftmütig und demütig von Herzen" bezeichnet. Eine Interpretation, die den Kontext von Mt 11,28-30 berücksichtigt, und eine Analyse auf dem Hintergrund der Struktur des Textes kann überzeugend zeigen, dass Jesu Sanftmut eine Haltung anderen gegenüber ist. Denn im Gegensatz zu den Schriftgelehrten und Pharisäern bürdet er den Menschen keine unerträglichen Lasten auf, die eine penible Interpretation des mosaischen Gesetzes mit sich bringt. Während die Schriftgelehrten und Pharisäer sich gegenüber dem Willen Gottes, der im Gesetz enthalten ist, als untreu erweisen, ist Jesus voll von Mitgefühl zumWohl der verlassenen Schafe. Darin drückt sich seine Demut und sein Verlangen aus, den Willen Gottes zu erfüllen. In dem Hendiadyoin "sanftmütig und demütig von Herzen" sind somit zwei Aspekte derselben Wirklichkeit miteinander verbunden: Der Sanftmütige ist nicht nur gewaltlos, jemand, der keinem anderen etwas Böses tut; er ist auch ganz davon durchdrungen, den Willen Gottes zu erfüllen, was sich in einer Haltung kundtut, die von einem Mitgefühl beseelt ist, das das Wohl des anderen im Blick hat.

Von diesem Doppelaspekt bestätigt Mt 21,5 insbesondere den der Gewaltlosigkeit. Auf dem Hintergrund von Sach 9,9 erscheint der sanftmütige König Jesus im Gegensatz zum kriegerischen als der gewaltlose König. Der sanftmütige König ist wesentlich friedfertig. Der zweite Aspekt besteht im Kontext seines Einzugs nach Jerusalem darin, dass Jesus als der souveräne Herr mit den Kranken und Schwachen, die er heilt, mitfühlt. Als der von Gott Erwählte erfüllt er Gottes Absichten, die auf das Wohl seines Volkes zielen. Somit ist der König von Mt 21,5 ebenfalls "sanftmütig und demütig von Herzen".

Der einzige Text des Neuen Testamentes außerhalb des MtEv, in dem sich das Wort "sanftmütig" findet (1Petr 3,6), lässt dieselben beiden Aspekte wie im Evangelium hervortreten. Der negative Aspekt liegt hier im Verzicht auf Widerstand gegen das erlittene Böse. Begründet wird ein solches Verhalten mit dem Vorbild Christi (vgl. 1Petr 2,23). Die Sanftmut Christi wird konkret zum Vorbild der christlichen Frauen, die so ohne das ausdrückliche Wort der Verkündigung ihre heidnischen Männer für das Wort gewinnen können. Darin liegt der zweite, der positive Aspekt der Sanftmut: das Trachten nach dem Wohl des anderen.

Die Untersuchung des Substantivs prautes im Neuen Testament bestätigt das bis dahin erreichte Ergebnis: Unter negativem Aspekt bedeutet die Sanftmut Gewaltlosigkeit. Als solche steht sie gegen Gewaltanwendung, Zwang, Zorn und Bosheit. Die Sanftmut ist die Qualität dessen, der nicht provoziert, nicht aufbraust, nicht aggressiv ist, niemandem etwas aufbürdet, sich nicht erhebt und dem Bösen nicht Widerstand leistet. Unter positivem Aspekt betrachtet, ist sie eine Herzensneigung, die durch Wohlwollen, Nachsicht, Zuvorkommenheit, liebende Aufmerksamkeit und Mitgefühl bestimmt ist. Indem der Sanftmütige so handelt, erfüllt er den Willen Gottes. Der Umstand, dass "die Sanftmut und Nachsicht Christi" in 2Kor 10,1 sich aus den vorausgehenden Kollektenkapiteln (2Kor 8-9) erklären, ist zudem ein gewichtiges Argument gegen deren ursprüngliche Selbständigkeit, wie Teilungshypothesen annehmen.

Die Analyse der Texte der LXX ergibt, dass deren Übersetzer das hebräische Substrat an den entsprechenden Stellen bewusst mit praus und prautes wiedergeben, so dass Hypothesen, die "sanftmütig" und "arm" geradezu für auswechselbar halten, keine Grundlage im Sprachgebrauch des Alten Testamentes haben. Ps 37, der in Mt 5 aufgenommen ist, aber auch alle anderen Texte zeigen, dass die Sanftmütigen einerseits durch Gewaltlosigkeit und andererseits durch Gesetzesbeobachtung zum Wohl des anderen charakterisiert sind. Das zeigt sich vor allem in Ps34(33),19b, wonach der Sanftmütige zugleich der "Demütige im Geist" ist. Das Hendiadyoin in Mt 11,29 fasst somit deutlich alle im Alten Testament gefundenen Nuancen des griechischen Wortes praus zusammen: "sanftmütig und demütig von Herzen". In nicht zu überbietender Weise besitzt Jesus diese Qualität. In ihm ist Gottes Sorge um die Kleinen inkarniert.

Auf diesem biblischen Hintergrund ist der Makarismus des MtEv zu verstehen: Die Sanftmütigen sind keine Variante der "Armen im Geist", sondern Gewaltlose und Gesetzesbeobachter zum Wohl der anderen. Beide Aspekte sind im Kontext der Bergpredigt sehr gut dokumentiert. Der zweite Aspekt findet sich nicht nur, aber in herausragender Weise in der so genannten goldenen Regel (Mt 7,12). Die Sanftmut ist somit eine Seelenhaltung, die sich dem Nächsten zuwendet, aber auch eine Beziehung zu Gott kennt, insofern die Seliggepriesenen religiöse Menschen, Gottsuchende, sind.

Mit seinen gründlichen Analysen aller einschlägigen Texte des Neuen Testamentes und des Alten Testamentes ist es T. gelungen, eine schlüssige Interpretation des Makarismus der Sanftmütigen vorzulegen. Das Buch ist zudem durch mehrere Register gut erschlossen. Weniger hilfreich dagegen ist ein überdifferenziertes Literaturverzeichnis.