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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

287–289

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rusam, Dietrich:

Titel/Untertitel:

Das Alte Testament bei Lukas.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2003. XIV, 570 S. m. Tab. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 112. Lw. Euro 128,00. ISBN 3-11-017524-X.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Bei aller Offenheit für das Bildungsniveau der hellenistisch-römischen Welt bleibt die Theologie des lukanischen Doppelwerkes in alttestamentlich-jüdischer Frömmigkeit verwurzelt. Diese Einsicht, die in der Lukas-Exegese gegenwärtig wieder stärker in den Blick rückt, wird gerade durch die zahlreichen Bezugnahmen des Autors Lukas auf "die Schrift" sichtbar untermauert. Von jeher hat deshalb auch die konkrete Gestalt von Zitaten und Allusionen in Evangelium und Apostelgeschichte ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erfahren. Die Arbeit von Rusam, eine Bonner Habilitationsschrift, kann somit auf einer langen Forschungstradition aufbauen.

Ein kurzer Überblick informiert einleitend über den Stand der Diskussion, die sich in den zurückliegenden Jahren vor allem auf die drei Felder der Quellenbenutzung, der Auslegungsmethodik und der Funktion der lukanischen Schriftbezüge konzentriert hat. Das Hauptinteresse der Arbeit gilt dann dem dritten Bereich: Es geht in der Folge vor allem um die Frage nach der Funktion von Zitaten und Anspielungen, wobei der Text des Doppelwerkes als eine literarische Einheit vorausgesetzt wird. In methodischer Hinsicht bietet sich dafür das Konzept der "Intertextualität" an, das - zunächst in der Literaturwissenschaft entwickelt und erprobt - zunehmend auch Einzug in den Bereich der biblischen Exegese hält. Ohne die Methodendiskussion umfänglich aufzurollen, schließt sich R. wenigen ausgewählten Modellen an (z. B. G. Genette oder K. Stierle). Zunächst bedarf es jedoch im Blick auf den zu bearbeitenden Text einer differenzierten Bestimmung von Zitat und Allusion: Grundlegend wird jede Bezugnahme eines Posttextes auf einen Prätext ohne Einleitungsformel als Allusion, das Zitat mit Einleitungsformel wiederum als ein Spezialfall der Allusion bestimmt (35). Weitere formale Präzisierungen der Allusion erfolgen dann im Verlauf der Ausarbeitung: Hier wird unterschieden zwischen analeptischen und proleptischen, zwischen diegetischen, narrativ-kompositionellen und verbalen Allusionen, während für Zitate die Unterscheidung von Erzählfigurenzitaten und auktorialen Zitaten Bedeutung gewinnt. Eine wichtige Rolle spielt in der Untersuchung auch der Terminus der "zuverlässigen Erzählfigur", die - im Anschluss an W. C. Booth - als Protagonist des Erzählers dessen Intention auf der Ebene der erzählten Welt pointiert zur Sprache bringt. Als solche zuverlässigen Erzählfiguren treten konkret Jesus, Petrus, die Jerusalemer Gemeinde, Philippus, Paulus und Jakobus in den Blick. Dabei wird stets das Spiel der verschiedenen Textebenen berücksichtigt. Neben den intertextuellen Bezügen erfahren zudem auch die vielfältigen intratextuellen Vernetzungen im Rahmen des lukanischen Doppelwerkes eine sorgfältige Nachzeichnung.

Nach dem kompakten Forschungsüberblick und der akzentuierten Methodenreflexion liegt alles Gewicht auf der Analyse der relevanten Textkomplexe. Deren Anordnung folgt weder der Erzählchronologie noch möglichen formalen Kriterien - sie orientiert sich vielmehr an den verschiedenen Funktionsweisen von Schriftbezügen, wobei Allusionen und Zitate querschnittartig bzw. aus bestimmten Kernbereichen zusammengestellt werden. Kap. I konzentriert sich auf die lukanische "Vorgeschichte" und arbeitet deren Funktion heraus, die Jesusgeschichte als Teil der graphai darzustellen. Kap. II geht der Bedeutung des nomos anhand der präzeptiven Schriftzitate nach und macht deren normative Bedeutung für die Theologie des Lukas sichtbar. Unter der Wendung "panta dei plerothenai" untersuchen dann die Kap. III und IV zum einen die vorwiegend proleptische, zum anderen die vorwiegend analeptische Konstatierung der Schrifterfüllung in Evangelium und Apostelgeschichte. Anhand von Apg 28,17-28 kommt in Kap. V abschließend das Thema der "Verstockung" (sollte man nicht besser von Verhärtung sprechen?) zur Sprache. Die Funktion des lukanischen Schriftgebrauches erfährt dann in Kap. VI noch einmal eine schärfere Profilierung durch den Blick auf weitere narrative Texte antiker Autoren. Dabei handelt es sich neben 1-4Makk und Jos Bell um Texte griechischer und lateinischer paganer Autoren vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. Ihre summarische Darstellung und ein zusammenfassender Vergleich mit Lukas zeigen des Letzteren Einordnung in die literarischen Konventionen seiner Zeit ebenso wie eine Reihe überraschender Eigenheiten. Auf 496 Seiten Text folgen noch einmal 73 Seiten Literaturverzeichnis, Autoren- und Bibelstellenregister.

Ein Vorzug dieser Untersuchung liegt darin, dass sie das Phänomen des Schriftbezuges im gesamten lukanischen Doppelwerk unter einer einheitlichen Methodik theologisch fruchtbar zu machen versteht. Spekulative Thesen zu großflächigen intertextuellen Beziehungen, wie sie in den letzten Jahren gerade hinsichtlich der sog. "central section" entworfen worden sind, werden vermieden. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage, was man aus der Präsenz der Schriften und ihrer Aktualisierung über die Theologie des Evangelisten Lukas am konkreten Ort lernen kann. Dazu finden sich zahlreiche wertvolle, detaillierte Beobachtungen. So gelingt es etwa auf überzeugende Weise, die pauschale Behauptung, dass der Messias gemäß den Schriften habe leiden müssen, im Kontext der Petrusrede Act 3 aus einer Verschränkung von Passionsgeschichte und Schriftallusionen nachzuweisen (339-344). An anderen Stellen kann auf Grund der Materialfülle dann die Problematik wiederum nur angerissen werden, wie etwa im Falle des Eunuchen Apg 8 (382 f.). Auch das komplexe Geflecht von Schriftallusionen im Magnifikat (65-68) gestattet angesichts des begrenzten Rahmens keine Tiefenbohrungen. Dafür treten die großen Linien deutlich hervor, die das letzte Kapitel noch einmal bündelt: Die graphe kann 1. als Handlungsanweisung, 2. zum Zweck der Illustration und 3. als Vorankündigung des Jesus- und Missionsgeschehens fungieren. In formaler Hinsicht vermag die Gesprächsfähigkeit des intertextuellen Ansatzes über die Grenzen des engeren Fachgebietes hinaus zu überzeugen, wenngleich die verwendete Terminologie im Blick auf ein weiteres Methodenspektrum auch manche Fragen offen lässt. Inwiefern etwa die Beschreibung einer "diegetischen Allusion" den Sachverhalt präziser erfasst als das Instrumentarium formgeschichtlicher Analyse, verdiente zumindest eine Erläuterung. Interessant ist der Vergleich mit weiteren jüdischen und paganen Autoren. Hier zeigt sich, dass Lukas - ganz im Gegensatz zu den untersuchten Texten - auktoriale Zitate zu Gunsten der von ihm favorisierten Erzählfigurenzitate nahezu völlig zurücknimmt. Finden sich Erzählfigurenzitate auch bei anderen Autoren, dann bleibt ihre Funktion meist auf einen engeren Kontext beschränkt, während sie bei Lukas darüber hinaus gehen und weite Horizonte eröffnen. Das hat natürlich mit der besonderen Autorität des Prätextes zu tun, wodurch bei Lukas eine grundsätzlich andere Relation entsteht: "Nicht die Darstellung soll durch die Zitate gesichert werden, sondern die Zitate durch die Darstellung, d. h., das Verständnis der graphai, als prophetische Hinweise auf die Darstellung der Jesus- und Missionsgeschichte" (495).

Das Gespräch zwischen Prä- und Posttext entwickelt ein Spiel, in dem sich die lukanische Theologie entfaltet. Es tritt nicht als schmückendes Beiwerk zu der Erzählung hinzu, sondern erweist sich als ein Strukturelement jenes "festen Grundes", den der Evangelist vermitteln will. Insofern kann die Bedeutung der "Schrift" bei Lukas gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Dafür hat die Untersuchung von R. einen wichtigen Beitrag geleistet.