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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

282–284

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Matthews, Christopher R.:

Titel/Untertitel:

Philip: Apostle and Evangelist. Configurations of a Tradition.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2002. XVI, 257 S. m. 1 Abb. gr.8 = Supplements to Novum Testamentum, 105. Geb. Euro 79,00. ISBN 90-04-12054-8.

Rezensent:

Wilhelm Pratscher

Die vorliegende Arbeit ist eine überarbeitete Version einer 1993 an der Harvard University angenommenen Dissertation. Die wesentlichste These ist die der Identität des Jüngers (Apostels) und des Evangelisten Philippus: "I will argue that all of the references to Philip in the New Testament and other early Christian literature are most properly interpreted with reference to traditions stemming from this single figure" (3). Der Hauptgrund ist "the unanimous testimony of the second-century witnesses" (ebda.). Gegenüber der üblichen Bevorzugung der lukanischen Darstellung betont der Vf. sogar, "Papias' testimony is practically contemporary and should be judged to be at least as reliable as Luke's" (ebda.). Auch wenn man die These, insbesondere die letztgenannte Begründung, nicht teilt, ist die Arbeit doch in der Konsequenz der Argumentation beeindruckend.

In der Einleitung (1-14) bietet der Vf. grundlegende Ausführungen über den Wandel des Apostolatsverständnisses, über die Philippustraditionen und über seine Methodik, die durch historisch-kritische Arbeit ebenso bestimmt ist wie durch literaturwissenschaftliche und sozialgeschichtliche.

Wichtig ist besonders Kap. 1 (15-34: Philip in the Second Century). Entsprechend dem angenommenen hohen historischen Wert dieser Quellen werden sie ausführlich dargestellt. Die wichtigsten diesbezüglichen Argumente für die These, es sei nur ein historischer Philippus vorausgesetzt, sind: es gebe in der gesamten Literatur des 2. Jh.s keinen Hinweis auf die Existenz von zwei Trägern dieses Namens im frühen Christentum (15); Philipp und seine Töchter legitimierten die Positionen verschiedener Gruppen, es müsse sich also um eine anerkannte Autorität gehandelt haben (ebda.); auch das begrenzte Vorkommen des Namens sowie die geringe Größe der frühchristlichen Gemeinden deuteten auf nur einen Philippus (18). Die Differenzierung zwischen dem Mitglied des Zwölferkreises (Apostel) und dem Evangelisten Philippus gehe auf das Konto des Lukas, der sie aus dem Vorkommen in zwei Listen erschlossen habe (ebda. u. ö.). Dabei sei die Herkunft der Liste Apg 6,5 nicht mehr feststellbar. "That it intended to indicate subordinates to the apostles, as Luke implies in 6:1-7, is already disproved by the ensuing scenes relating the activities of Stephen and Philip" (93).

M. E. ist die Grundentscheidung für die Bevorzugung der Zeugnisse des 2. Jh.s gegenüber dem lukanischen Verständnis keineswegs so sicher, wie der Vf. meint. Wenn er z. B. U. Körtner vorwirft, eine "ostensible presupposition that Luke provides the more reliable information" (33) zu haben, so kann dasselbe gegen ihn selbst gesagt werden. Warum sollen die späteren Belege glaubwürdiger sein?

Kap. 2 und 3 behandeln die Texte der Apostelgeschichte (Philip in Samaria: Acts 8:4-25; 35-70; Philip and the End of Earth: Acts 8:26-40; 71-94). In sorgfältigen traditionsgeschichtlichen Analysen mit der Herausarbeitung lukanischer Interessen (z. B. Parallelen zur Jesustradition oder Bezüge zur LXX, 39) ist ein wesentliches Ergebnis, der vorlukanische Bericht habe Philippus nicht als nebengeordnete, sondern als "a founding figure of some renown" betrachtet (48). Analog zu seinem sonstigen Akzentuieren und Umschreiben der Tradition habe Lukas die vom Apostel Philippus handelnden Erzählungen einem von ihm so genannten Evangelisten zugewiesen (65 u. ö.). Zu Recht weist er auf die Neuakzentuierung der Gestalt des Paulus hin. Ob man Lukas aber einen so gravierenden Eingriff in die Tradition zutrauen soll, bleibt m. E. fraglich. Interessant ist auch die Aussage: "The Philip traditions perhaps should be taken as evidence that, in fact, Jerusalem did not play such a centrifugal role in the first decades of the Jesus movements as various independent movements made their own way in diverse locations" (76). Ähnlich wichtig scheint auch die Beobachtung zu sein, Lukas hätte zwei ähnliche Berichte über die apostolischen Taten des Petrus und Philippus gegenüber Heiden zur Verfügung gehabt (90) und Philippus dem Petrus zugeordnet (93).

Kap. 4 (95-128) behandelt die Evangelien: Der fünfte Platz in den Jüngerlisten zeige die Bedeutung des Philippus; in Joh 1,43 ff.; 12,20 ff. sei ebenso wie in Apg 8 die Breite der Philippustradition erkennbar; letztere Stelle bewahre auch die Verbindung mit der Heidenmission; Joh 6,5 ff. und 14,7 ff. schließlich zeigten Philippus in der Situation des Missverstehens. Doch wie Petrus und Thomas, von denen Ähnliches berichtet werde, repräsentierten diese Namen bekannte Garanten der Authentizität der apostolischen Tradition (127 f.). Dass Johannes über die Quellen hinaus Zugang zur mündlichen Philippustradition gehabt habe, wird man zu Recht annehmen können.

Die beiden letzten Kapitel behandeln die weitere Philippustradition. Zunächst geht es Kap. 5 (129-155) um den gnostischen Philippus (Pistis Sophia, Philippusevangelium, Sophia Jesu Christi und Brief des Petrus an Philippus). Diese Dokumente zeigen, wie der Vf. natürlich zu Recht betont, die große Bedeutung des Philippus als eines entscheidenden Offenbarungsmittlers in gnostischen Kreisen. Die Rivalität zu Petrus sei ein auffallender Aspekt im genannten Petrusbrief und zeige den trotz aller Differenzen deutlichen Konnex mit der vorlukanischen Tradition. In Kap. 6 schließlich setzt sich der Vf. mit der apokryphen Tradition der Philippusakten auseinander (von denen er S. 198-215 ein Inhaltsreferat bietet). Hier liege die fortlaufende Bedeutung des Philippus in enkratitischen Kreisen vor, aber auch schon die lukanische Differenzierung in zwei Philippusgestalten.

Die Arbeit, die mit einer umfangreichen Bibliographie sowie Text-, Autor- und Sachregister schließt, hat das große Verdienst, die traditionelle Annahme von zwei frühchristlichen Persönlichkeiten namens Philippus (in Aufnahme älterer Überlegungen) sehr massiv in Frage gestellt zu haben. Selbst wenn man diese Grundthese des Vf.s nicht teilt, stimmen die Ausführungen doch nachdenklich und sollten für weitere Beschäftigung mit diesem Thema Anreiz sein.