Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2004

Spalte:

279–282

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Légasse, Simon:

Titel/Untertitel:

L'Épître de Paul aux Romains.

Verlag:

Paris: Cerf 2002. 992 S. 8 = Lectio divina. Commentaires, 10. Kart. Euro 76,00. ISBN 2-204-06896-9.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

Innerhalb des denkbar kurzen Zeitraums von drei Jahren hat Légasse in der Reihe LeDivCom umfangreiche Kommentare zu den Thessalonicherbriefen (1999), zum Galaterbrief (2000) und nun auch zum Römerbrief (2002) vorgelegt. Der Autor, mittlerweile emeritierter Professor an der Theologischen Fakultät in Toulouse, schließt mit diesen Arbeiten empfindliche Lücken in der katholischen französischsprachigen wissenschaftlichen Kommentarlandschaft zu den Paulusbriefen.

Nähern wir uns dem Werk mit einigen formalen Bemerkungen: Dem Kommentar zum Römerbrief wurde eine Auswahlbibliographie vorangestellt. Weitere, größtenteils recht umfangreiche Bibliographien finden sich im Anschluss an die Besprechung einer jeden Perikope. Die Anmerkungen wiederum sind durch diese Bibliographien jeweils vom Haupttext getrennt und als großer Block nachgeordnet. Dies dient nicht der Lesefreundlichkeit (und Haltbarkeit) des Kommentars, aber auch nicht der Wertschätzung des in den Anmerkungen gesammelten breiten Wissens (überwiegend Verweise auf biblische und außerbiblische Belege, Begründungen philologischer Entscheidungen, reiche Hinweise auf altkirchliche, scholastische und reformatorische Auslegungen, knappe und informative Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur).

Das Register (983-988) beschränkt sich, ohne zu differenzieren, auf die wesentlichen Orte, Namen und Sachen. Die durchgehende Kommentierung des Römerbriefs wird durch Exkurse unterbrochen, die in der Regel auf leicht zu übersehene Besonderheiten der paulinischen Argumentation aufmerksam machen oder eine Sachfrage einer abweichenden Betrachtung zuführen (etwa im Anschluss an Röm 1,24-32 Gott als der Ursprung der menschlichen Perversionen; im Anschluss an Röm 2,1-16 Gewissen bei Paulus; Röm 7,14 f. als literarisches Motiv und seine Adaption; der Exkurs zu Röm 13,1-7 Paulus und die Unterordnung unter die säkulare Gewalt ist in das Inhaltsverzeichnis nicht aufgenommen worden). L. hat die Sekundärliteratur in großer Breite gesichtet und eingearbeitet, ohne Vollständigkeit bieten zu wollen, hinsichtlich der Kommentare verweist er (21) auf die insgesamt 41 Seiten umfassende Zusammenstellung bei J. A. Fitzmyer. Dennoch muss das Fehlen der neueren Kommentare von W. Schmithals (zumal im Text S. 50, Anm. 81 beachtet), M. Theobald, D. Moo und K. Haacker und der reformatorischen Auslegungen von M. Luther und Ph. Melanchthon (ebenfalls in den Anmerkungen bedacht) befremden. O. Kuss ist an falscher Stelle eingeordnet. Auch andere wesentliche, vorwiegend deutschsprachige Literatur der Römerbrief-Exegese fehlt (H. D. Betz, D. A. Koch, F. Wilk, D. Sänger u. a.).

L. hat eine informative Einführung vorangestellt, die zeitgeschichtliche, einleitungswissenschaftliche und theologische Probleme des Römerbriefs vorstellt und Lösungen bietet. Die Anfänge der christlichen Gemeinde in Rom sind im Umfeld der römischen Diasporasynagogen zu suchen (29). Abgewiesen wird die von M. Goguel begründete und von R. E. Brown erneuerte Hypothese, der zufolge die römische Gemeinde unter einem starken Einfluss der Jerusalemer christlichen Gemeinde gestanden habe, möglicherweise sogar in den 40er Jahren von Jerusalem aus gegründet worden sei (37).

Den Abfassungszweck des Römerbriefs bestimmt L. vordergründig mit der geplanten Spanienmission. Paulus habe auf dem Weg von Jerusalem nach Spanien Rom nicht übergehen dürfen (39). Die Adressierung dieses umfangreichen Schreibens an diese ihm überwiegend nicht bekannte Gemeinde wird mit der Überlegung zu erklären versucht ("... qui peut être suggérée ..."), dass Kuriere von Rom aus den Brief in alle Provinzen des Reichs bringen sollten (40). Paulus unterbreite in ihm "un exposé de sa doctrine" (38). Soll mit dieser Erwägung die Rundschreiben-Hypothese wieder aufleben? Aber was deutet auf die Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit dieser erhofften Verbreitung des Römerbriefs hin? L. stützt seine These durch eine inhaltliche Bestimmung des Röm: Dieses Schreiben sei eine Apologie pro doctrina sua (41 u. ö.), sowohl und vornehmlich vor sich selbst ("il écrit aussi pour lui, pour ordonner, préciser et surtout défendre sa propre pensée") (40) und im Blick auf die unmittelbar zurückliegenden israelkritischen Ausführungen im Galaterbrief als auch vor den Gemeinden, vor allem vor den konvertierten Juden in ihnen (41). Im Zentrum dieser Apologie steht die Frage der Verlässlichkeit Gottes zu den gegebenen Verheißungen sowie die Stellung des Gesetzes. "Il est bien clair que Paul continue de vouloir sauver la Tora" (839 zu Röm 13,10).

Die gegenwärtig diskutierten Fragen nach rhetorischer Disposition und epistolographischer Gestalt des Schreibens und seiner Rezeptionsästhetik werden großzügig beiseite geschoben. Paulus orientiere sich nicht an einem vorgegebenen Schema (43). Der Entstehungsprozess des Briefes wird als sich in mehreren Anläufen vollziehend vorgestellt, die sich über einen Zeitraum von mehreren Wochen erstreckt haben. In diesem wurden Retuschen und Hinzufügungen angebracht (43). So sei z.B. Röm 7,7-25 in einem zweiten Anlauf zwischen Röm 7,6 und Röm 8,1 geschoben worden, und der als Glosse verdächtigte Vers Röm 7,25b sei der Versuch einer Übergangsformulierung (471). Dennoch, vielleicht auch deshalb, ist der Römerbrief eine Einheit: "Les citations bibliques et les argumentations à partir de la Bible constituent des ensembles doués d'unité" (43). Der von L. der Kommentierung zu Grunde gelegte Aufbau des Römerbriefes ist denkbar schlicht. Eine section théorique (Röm 1,16-11,36) stehe einer section pratique (Röm 12,1-15,13) gegenüber, in beiden finde sich Indikativ und Imperativ (757). Röm 1,1-15 wird als préalable und Röm 15,14-16,27 als épilogue verstanden. Innerhalb der section théorique werden drei Abschnitte (Röm 1,16-3,20 bzw. 4,25; 3,21-8,39; 9-11) voneinander abgehoben.

Uneinheitlich bestimmt L. die Abgrenzung der mittleren contrepartie positive zum Eingangsteil, insofern er mehrfach zwischen Röm 3,20 und 4,25 als Begrenzung des ersten Teils bzw. Röm 4,25 und 8,39 des Mittelteils wechselt (43 f.990). Ungenau stellt sich auch die Abgrenzung der section pratique dar (757). Hier (und in vielem anderen) sind wohl Nachlässigkeiten der Schlussredaktion zu beklagen. Während die neuere Literatur zum Römerbrief in breiter Mehrheit zur These der ursprünglichen Zugehörigkeit von Röm 16,3-16 zum Brief zurückgekehrt ist und die Adressierung nach Ephesus aufgegeben hat, spricht L. sich nach sorgsamem Abwägen der Argumente wieder dafür aus, in diesem Teil das Fragment eines Briefs an die ephesinische Gemeinde zu erkennen (946-948). Röm 16,17- 20a wird als nachpaulinische Interpolation bewertet.

In der Auslegung der für den gesamten Brief geltenden These in Röm 1,16 f. werden in der Regel die Weichen für das Folgende gestellt. L. betont, dass die dikaiosyne theou Offenbarungsgegenstand ist, sachlich dem Begriff der dynamis theou parallel gestellt, und sich auf Gott als Richter beziehe. Scharf wird die augustinisch-lutherische Auslegung abgewiesen, die allein an 2Kor 5,21 einen Anhalt habe (genitivus auctoris), nicht aber an den Belegen des Römerbriefes. Nun wird man für die Genitivverbindung schlecht in Abrede stellen können, dass sie im Römerbrief in Aufnahme des Topos der offenbar werdenden Gerechtigkeit Gottes vorwiegend als Bundestreue Gottes zu verstehen ist (so zuletzt deutlich M. Theobald, Der Römerbrief, EdF 294 [2000], 206-212). Bleibt man allerdings im ausschließlichen Blick auf die Genitivverbindung bei einer juridischen Auslegung stehen und vernachlässigt die von E. Käsemann eingeführte Wertung der Gerechtigkeit Gottes in ihrer Dialektik von Macht und Gabe, die im Blick auf den weiteren Sprachgebrauch von dikaioun, dikaiosyne bei Paulus noch zu vertiefen wäre, dann läuft man doch Gefahr, den Römerbrief letztlich als Versuch der Rechtfertigung Gottes im Sinne einer Theodizee zu interpretieren.

Doch versucht L. nicht, eine alles umfassende Gesamtsicht des Römerbriefes durchzusetzen. Sein Augenmerk gilt der philologischen Gewissenhaftigkeit gegenüber der jeweiligen Einzelaussage des vorgegebenen Textes. "Autres contextes, autres nécessités et arguments différents" (175) - dieser Grundsatz findet nicht nur im Blick auf die paulinischen Briefe insgesamt, sondern auch in der Auslegung des Römerbriefes mehrfach Anwendung. Demgegenüber werden religions- und traditionsgeschichtliche Aspekte bewusst vernachlässigt und die Gestalt der von Paulus rezipierten alttestamentlich-jüdischen Tradition nicht in letzter Konsequenz erfragt.

In vielem steht seine Auslegung sperrig zu und unabhängig von gegenwärtigen Tendenzen der Römerbriefauslegung. Zu Röm 10,4 bemerkt L.: "il est impossible d'accorder une signification positive au mot telos dans ce contexte. Seule la volonté opiniâtre de faire de la pensée de Paul une construction parfaitement homegène peut harmoniser des perspectives en réalité differentes" (643). Zu Röm 11, 25-27: "Elle implique une résponse qui, on l'a vu, ne peut être que de foi en la rédemption accomplie par le Christ" (731).

Es ist nicht der Raum gegeben, weitere Einzelheiten aufzuzählen und zu würdigen. Dieser Kommentar vermittelt Wissen ohne Apodiktik, er belehrt, indem er Argumente ausbreitet. Leider haben viele Fehler den letzten Korrekturgang passiert. Dies stellt zwar eine Beeinträchtigung des opus magnum dar, wird aber das Gesamturteil, dass das Erscheinen dieses dritten großen Kommentars von L. zu einem paulinischen Brief vor allem wegen seiner philologischen Ausrichtung vorbehaltlos zu begrüßen ist, nicht schmälern.