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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

275–277

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Aletti, Jean-Noël:

Titel/Untertitel:

Saint Paul Épître aux Éphésiens. Introduction, traduction et commentaire.

Verlag:

Paris: Éditions J. Gabalda 2001. VIII, 351 S. gr.8 = Études bibliques. Nouvelle Série, 42. Kart. Euro 43,00. ISBN 2-85021-130-3.

Rezensent:

Ulrich Luz

Aletti legt mit diesem Band einen ausführlichen Kommentar zum Epheserbrief vor, der seinem bereits früher vorgelegten Kommentar zum Kolosserbrief (J. N. Aletti, Lettre aux Colossiens, EtB, Gabalda, Paris 1993) zur Seite tritt. Sein Hauptinteresse liegt einerseits auf der synchronen Struktur, andererseits auf der Erfassung der theologischen Metaphern und Bilder des Briefes. Weniger wichtig sind ihm literarkritische und religionsgeschichtliche Fragen. Am allerwichtigsten aber ist ihm das Anliegen, die offenen Fragen nicht durch vorschnelle Hypothesen zu beantworten: Äußerste Vorsicht und Behutsamkeit sind das wichtigste Kennzeichen dieses Kommentars. Lieber stellt sein Autor fest, dass herkömmliche Fragen völlig offen sind, dass viele Argumente zirkulär sind und dass man in gutem Glauben so oder so urteilen könnte, als dass er sich selbst festlegt. Das macht die Lektüre einerseits mühsam, andererseits erfrischend: Mühsam ist sie darum, weil man gern wissen möchte, wo der Autor selbst steht. Aber A. sagt es zunächst meist nicht, vor allem in der ausführlichen Kommentareinleitung (1- 38) nicht, sondern vertröstet seine Leser auf den Kommentar. Aber auch im Kommentar muss man eindeutige Aussagen oft mühsam suchen; erst in der "conclusion" (321-326) deutet er seine eigene Position umrisshaft an. Erfrischend ist sie darum, weil A. immer wieder das eigene Urteil des Lesers suspendiert, indem er mit der Grundvermutung "es muss ja gar nicht unbedingt so sein" seine Leser zwingt, eigene lieb gewordene Vermutungen fürs Erste einmal fahren zu lassen und eigene Gewissheiten zu hinterfragen.

Der Aufbau des Briefes wird in der Forschung unterschiedlich gesehen. Eindeutig scheint für A., dass 1,1 f. und 6,21 f. zum "cadre épistolaire" gehören. Schwierig ist die Frage, was als Exordium zu beurteilen ist. Rein inhaltliche Kriterien genügen nicht für die Gliederung (10 f.). Ebenso wenig Sympathie hat A. für eine formale Gliederung nach dem Schema ABCDE E'D'C'B'A', wie sie z. B. P. Cameron vorgeschlagen hat. Aber auch eine eindeutige Gliederung nach rhetorischen Kategorien ist nicht möglich; für den Epheserbrief gilt, was für alle paulinischen Briefe gilt: "Aucune des lettres pauliniennes ne peut être réduite à un seul des trois genres rhétoriques" (14). Ganz vorläufig entscheidet er sich für eine Disposition, welche 1,3-14 als "bénédiction inaugurale" vom eigentlichen Brief abhebt. Dieser wird eingeleitet durch die "Fürbitteerinnerung" 1,15-23, welche zum in 1,20-23 formulierten Thema überführt. Das "Geheimnis": 2,1-3,13 werden überschrieben mit "Révélation du mystère comme réalité à connaître", 4,1-6,20 (S. 130 schreibt A. offenbar irrtümlicherweise: 6,17) mit "Vivre le mystère".

Auch im Blick auf die Autorschaft des Epheserbriefes ist A. mehr als vorsichtig, obwohl er schließlich die Pseudonymitätshypothese für gut begründet hält (32.321-324). Alle Hypothesen werden sorgfältig erwogen und geprüft. Sondervokabular des Epheserbriefes kann auch mit dem besonderen Thema des Briefes zusammenhängen. Der redundante Stil erinnert an den asianischen Stil der Epoche (27.46 u. a.), hat aber keineswegs alle paulinischen Eigenarten verloren. Die Berührungen mit dem Kolosserbrief lassen nicht zwingend auf Abhängigkeit des längeren Epheserbriefes vom kürzeren Kolosserbrief schließen, was A. exemplarisch an Kol 4,7 f. und Eph 6,21 f. aufzeigt (20f.): ta peri emon in 6,22/Kol 4,8 passt zwar gut zur doppelten Autorenangabe des Paulus und des Timotheus in Kol 1,1, aber warum dann das singularische ta kat eme in Kol 4,7? Der Plural in Eph 6,22 ist dagegen als "briefliche Erweiterung" in dem von Paulus allein geschriebenen Epheserbrief leichter zu erklären als durch eine Abhängigkeit vom Kolosserbrief. Dass der Kolosserbrief neben anderen Paulusbriefen als bekannt vorausgesetzt ist, gibt A. zu; für den Gedankengang zumal von Eph 1-3 ist der Kolosserbrief aber nicht hauptsächlich bestimmend. Auch anderen diachronen Hypothesen gegenüber bleibt A. vorsichtig: Eine zweistufige Redaktion des Epheserbriefes (Boismard) wird vehement abgelehnt; von der Möglichkeit, im Epheserbrief traditionelle christliche Bekenntnisformeln zu rekonstruieren, hält A. im Allgemeinen wenig. Von durch die Theologie des Briefes begründeter Pseudonymität hält A. nichts; am stärksten wiegen die stilistischen Gründe für die Pseudonymität (316.323). Eine besondere Nähe des Epheserbriefes zu Qumran braucht man nicht anzunehmen; nur der allgemein-jüdische Hintergrund des Briefes ist unbezweifelbar. Sehr vorsichtig ist A. auch hinsichtlich des Zusatzes en Epheso in 1,1. Wenn hier, wie man das üblicherweise sagt, eine Lücke bestand, in welche die jeweiligen Empfänger des Zirkularschreibens gesetzt werden konnten, warum ist dann nur en Epheso erhalten? (42)

Zur Exegese ausgewählter einzelner Texte: Eph 1,3-14 wird nach einer "disposition en cascade" gegliedert (50 f.), d. h. durch Subordination der vielen Nebensätze, was die Rekonstruktion eines gut gegliederten und zielgerichteten Gedankengangs ermöglicht. Auffällig ist neben Hinweisen auf das vorzeitliche Handeln Gottes der völlige Ausfall der Geschichte Israels; auch ein deutlicher biblischer Hintergrund des Textes ist nicht zu rekonstruieren (84 f.). Mit dem Folgenden ist der hymnische Anfang nicht als "Anfang der Reflexion", sondern nur als "toile de fond des développements" (86) verbunden.

Der eigentliche Hauptteil des Briefs beginnt mit 1,15 ff.; 1,15-19 wird von A. nicht als Fürbitte, sondern nur als "attestation d'une prière" ("prayer report", 88) verstanden. Das Thema des Briefes wird mit 1,20-23 eingeführt; zu vergleichen ist der Aufbau von Kol 1,3-20 (92): Es ist die Kirche als "Fülle", welcher ihr Haupt Christus deutlich vorgeordnet ist. A. spricht von "christologisation de l'ecclésiologie" (111.324). Die Gegenwart der Auferstehung und Erhöhung auch der getauften Christen in Eph 2,1.5-7 erklärt A. einerseits durch selektive Berührungen mit Kol 2,13 (117); viel wichtiger ist aber eine syn- chrone Erklärung: Die gegenwärtige Realität des Leibes Christi (1,23) leitet von selbst über zu einem gegenwärtigen Verständnis auch von Auferstehung und Erhöhung der Gläubigen ("glissement des motifs", 133). Dies ist überhaupt eine der Grundthesen des Kommentars: Weder durch diachrone Quellen- scheidungen noch durch Hinweise auf besondere Bedürfnisse der Adressaten noch durch solche auf religionsgeschichtliche Hintergründe wird der Brief verständlich, sondern der Autor wollte "montrer la richesse heuristique de la métaphore tête-corps, et par là du statut inouï de l'Eglise", und es sind die "catégories nouvelles et riches" (203) dieser christologisierten Ekklesiologie, welche durch den ganzen Brief strahlen. Der Übergang zum ethischen Teil wird so ganz leicht verständlich: Die Ethik des Epheserbriefes ist kirchliche Ethik. "La méditation sur le mystère du Christ et de l'Eglise est ... le lieu privilégié où naît une éthique saine" (228).

Natürlich bleiben Fragen. Weil A. aber so zurückhaltend ist und den Epheserbrief nur vorsichtig abtastet, keineswegs ausquetscht und schon gar nicht eigenen Interpretationsideen unterwirft, wird auf Fragen meistens schon die entsprechende Gegenfrage mitgeliefert. Ich stelle deshalb keine, hoffe aber, einen Eindruck von diesem vorsichtigen und zurückhaltenden Kommentar vermittelt zu haben. Er wird für die Exegese des Briefes lange unentbehrlich bleiben, im französischen Sprachgebiet, wo Kommentare Mangelware sind, sowieso, und im deutschen Sprachgebiet auch deswegen, weil der in Rom lehrende Verfasser reichlich Zugang zu französischer und italienischer exegetischer Literatur vermittelt, die sonst hierzulande wenig beachtet wird.