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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

270–272

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ro, Johannes Un-Sok:

Titel/Untertitel:

Die sogenannte "Armenfrömmigkeit" im nachexilischen Israel.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2002. XII, 238 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 322. Lw. Euro 68,00. ISBN 3-11-017471-5.

Rezensent:

Rainer Kessler

Mit seiner bei Karl-Friedrich Pohlmann in Münster gearbeiteten Dissertation wendet sich der koreanische Verfasser dem viel diskutierten Thema der Armenfrömmigkeit im nachexilischen Israel zu. Dass er sein Hauptstichwort in Anführungszeichen setzt und mit dem vorangestellten "sogenannt" noch einmal relativiert, weist auf seine Hauptthese hin. Ro will zeigen, dass in den von ihm untersuchten Texten die Bezeichnungen für Arme und Armut nichts mit materieller Not zu tun haben, sondern als Ausdruck einer geistlichen Demutshaltung gegenüber Gott zu verstehen sind.

Seine Untersuchungen beginnt R. bei der Qumrangemeinde. Anhand der in den Hodayot vorkommenden Armentermini macht er eine Beobachtung, die für seine weiteren Analysen wichtig wird: "Jedesmal, wenn einer der Armentermini als Selbstbezeichnung des Beters auftaucht, werden dabei die Verfolgungsaktionen der Gegner und das darauffolgende Rettungshandeln Gottes gleichzeitig berichtet" (14). Es entsteht so eine Dreieckskonstellation, gebildet aus dem Beter, den Gegnern und Gott. Dabei ist in der Selbstbezeichnung des Beters "die Einschätzung arm gegenüber Gott der Einschätzung arm den Gegnern gegenüber übergeordnet" (21). Aus diesem Befund im Zusammenhang mit weiteren Erkenntnissen über die essenische Gemeinschaft zieht R. den Schluss: "Die Frontstellung ist somit religiös motiviert; sie resultiert aus gegensätzlichen, einander die Rechtgläubigkeit bestreitenden Positionen und keineswegs aus der Konstellation hier reiche Oberschicht - da arme, ausgebeutete Unterschicht" (23).

Von den Hodayot aus fragt R. zurück nach Vorläufern in der biblischen Überlieferung, wobei er zu Recht eine Einschränkung auf den Psalter ablehnt, "sondern auch die entsprechenden Thematisierungen im prophetischen Schrifttum" mit berücksichtigen will (35). Dies führt ihn zunächst zu Jes 66. Im Vergleich mit den Qumran-Texten kann man R. zufolge "hier geradezu strukturparallele Phänomene wahrnehmen: Auch für Jes 66,1-17 ließ sich zeigen, daß hier nicht eine Konfrontation von Oberschicht und Unterschicht ... vor Augen steht. Bemerkenswert ist, daß hier eine Konfliktsituation mit deutlichen Parallelen zur Situation der Qumran-Essener angesprochen ist: Hier wie dort Gesetzestreue, eschatologische Orientierungen und Erwartungen im Gegenüber zum Tempel und dem Tempelkult" (68). Auch der zweite prophetische Text, Zef 3, gehört für R. in die "Vorgeschichte der qumran-essenischen Frömmigkeit" (109). Genauer noch sei "die sich in den Zefanjatexten artikulierende Armenfrömmigkeit als Vorläuferbewegung der sog. Chassidim bzw. der Asidäer der Makkabäerzeit ... einzustufen" (110).

Damit ist R. bei den Armenpsalmen angekommen. Allerdings untersucht er nicht alle Psalmen, die das Motiv der Armut enthalten, sondern sortiert nach vier Kriterien aus: a) Die Armentermini müssen als Selbstbezeichnung verwendet werden. b) Es muss eine innerjüdische Konfliktsituation vorliegen. c) Es müssen eschatologische Positionen erkennbar sein. d) Die Texte müssen zum jüngeren Gut im Psalter gehören (128). Das führt zur Auswahl der Pss 12; 25; 34; 35; 37; 40; 62; 69; 73; 76; 102; 109; 140 und 149. Das Ergebnis von R.s Analyse im Einzelnen überrascht danach nicht mehr: "Zahlreiche Indizien ... deuten darauf hin, daß die entsprechende Menschengruppe trotz der Selbstbezeichnung die Armen etc. eindeutig nicht mit sozio-ökonomisch verelendeten Unterschichtszirkeln in Verbindung zu bringen ist, sondern sich aus religiös-weisheitlich interessierten und theologisch gebildeten Personen zusammensetzt" (181). Nachdem er schon die Psalmen in drei diachrone Entwicklungsstufen unterteilt hat, versucht R. schließlich die "Geschichte der Armenfrömmigkeit im nach-exilischen Israel" (189) zu skizzieren. Dies ergibt eine Linie von Jes 66 über die Psalmen und Zef 3 bis hin zu den Qumran-Essenern. Dabei "läßt sich als Fazit festhalten: Für die behandelten Texte ist auszuschließen, daß sich die hier eingesetzten Armentermini auf materielle Armut beziehen; es handelt sich durchweg um traditionell vorgegebene Kennzeichnungen einer bewußt vertretenen Demutshaltung, eines theologisch durchreflektierten Niedrigkeitsbewußtseins Jahwe gegenüber" (204).

Um R.s Arbeit gerecht zu werden, muss man verschiedene Ebenen seiner Argumentation unterscheiden. 1) R. zeigt, dass es in nachexilischer Zeit eine wichtige Strömung im Judentum gibt, in der Armentermini nicht notwendig mit materieller Armut gleichzusetzen sind, sondern auf eine geistliche Demutshaltung hinweisen. Diese Einsicht ist freilich nicht grundsätzlich neu. Und ob alle von R. beigezogenen Texte dieser Strömung entstammen, ist im Einzelfall zu diskutieren. 2) Bei dem Versuch, eine Geschichte der Armenfrömmigkeit zu skizzieren, setzt eine Engführung der Kriterien ein. Genau besehen ist einziges Kriterium für die zeitliche Anordnung der Texte, "daß sich der Konflikt verschärft hat" (191). Hier hängt eine schwere Konstruktion an sehr dünnen Fäden. 3) Am problematischsten aber ist, dass R. ganze Textbereiche, die eindeutig Armentermini verwenden, gleichsam en passant ausklammert. So konzediert er, "daß in bestimmten Psalmen von Armut im materiellen Sinn die Rede ist" (127), behandelt diese aber nicht. Auch Psalmen, die "möglicherweise Israel als die Gemeinschaft der Armen Gottes ansehen", sind R. zufolge "für unsere Fragestellung kaum von Belang" (128). Das ist das Eingeständnis, dass der Titel der Arbeit: "Die sogenannte Armenfrömmigkeit im nachexilischen Israel" nicht eingelöst ist. Zudem vermag R. die von ihm untersuchte Form spirituell verstandener Armenfrömmigkeit so nicht in der nachexilischen Frömmigkeitsgeschichte zu positionieren und setzt sich der Gefahr zirkulärer Argumentationsgänge aus.

Trotz dieser Kritikpunkte sind der Doktorand, sein Betreuer und die im Vorwort genannten Helfer dafür zu loben, dass es dem christlichen Angehörigen einer ostasiatischen Kultur gelungen ist, über alle Kultur- und Sprachgrenzen hinweg eine respektable Dissertationsleistung in deutscher Sprache vorzulegen.