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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

263–265

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wischmeyer, Oda, u. Eve-Marie Becker [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Was ist ein Text?

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2001. X, 225 S. gr.8 = Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, 1. Kart. Euro 46,00. ISBN 3-7720-3151-X.

Rezensent:

Ralph Brucker

Der Band eröffnet eine neue Reihe: "Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie" (NET), herausgegeben von François Vouga, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp. Anknüpfend an "die großen theologischen Diskussionen der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts" möchte diese Reihe "den Dialog der neutestamentlichen Wissenschaft mit der Kirche und der Kultur wieder beleben" und speziell das Gespräch mit der Systematischen und Praktischen Theologie, mit Kirche, Gemeinde und Schule sowie mit den anderen Text-, Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaften suchen (V).

Im vorliegenden Band, der aus einem interdisziplinären Kolloquium in Erlangen hervorgegangen ist, wird dieses Anliegen der Reihe prototypisch vorgeführt: Es kommen Vertreter verschiedener theologischer Disziplinen, aber auch der Klassischen Philologie, der Romanistik, Germanistik und Linguistik zu Wort, die anhand der Leitfrage "Was ist ein Text?" zunächst jeweils einen Text aus ihrer eigenen Disziplin interpretierend vorstellen.

Die Einzelbeiträge zeigen eindrucksvoll die Vielfalt der in den Blick genommenen Textsorten und Interpretationsmethoden: Ludwig Schmidt führt Micha 5,1-5 als ein "Beispiel für die historische Auslegung alttestamentlicher Texte" vor - eine Interpretation, bei der die vom Interpreten zunächst rekonstruierten Überlieferungsstufen des Textes in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext betrachtet werden (15-27). Oda Wischmeyer demonstriert an 2. Korinther 12,1-10, wie sich bei Paulus autobiographische narratio und theologische Reflexion durchdringen (29-41). François Vouga arbeitet aus Matthäus 5,17-20 das "theologische und existentielle Programm der Bergpredigt" heraus und geht in einem eigenständigen Teil am ausführlichsten auf die Grundsatzfrage "Was ist ein Text?" ein (43-64). Wolfgang Wischmeyer bringt mit der Aberkios-Inschrift die epigraphische Perspektive in die Diskussion, in der die grundsätzlichen Probleme des Umgangs mit Texten besonders elementar begegnen (65-79). Hanns Christof Brennecke widmet sich dem "Programm der EKKLESIASTIKE ISTORIA des Euseb von Caesarea (Eus., h. e. I 1)", mit dem eine neue literarische Gattung eingeführt werde, die gerade nicht an die Tradition der antiken Historiographie anknüpfe (81-93). Severin Koster legt "Horaz, carm. 1,38 als Beispiel eines eindeutig mehrdeutigen Textes" aus, wobei er in der "kleinen, d. h. zweistrophigen" Ode mehrere Beziehungsebenen ausmacht (philosophisch, literarisch, politisch), die jeweils eine schlüssige Deutung zulassen (95-107). Oswald Bayer hat das kürzeste Textbeispiel ausgewählt, nämlich "Titel und Motto von Johann Georg Hamanns: Metakritik über den Purismum der Vernunft", und arbeitet besonders dessen Verweischarakter heraus (109-115). Kurt Kloocke beschäftigt sich mit dem Phänomen der Intertextualität von Texten, das er am Beispiel des in einem privaten Brief mitgeteilten Berufungserlebnisses von J. J. Rousseau (2. Brief an M. de Malesherbes) darstellt (117-130). Gunther Witting geht anhand von Friederike Kempners Gedicht "Das scheintote Kind" der Frage nach, wie die hier zu Tage tretende "unfreiwillige Komik" literaturwissenschaftlich beschrieben werden kann, und zeigt in Auseinandersetzung mit rein rezeptionsorientierten Interpretationsmodellen die Unverzichtbarkeit der Kategorie "Autorintention" auf (131-143). Mechthild Habermann stellt ein Nürnberger Flugblatt von 1583 als Beispiel für einen "Gebrauchstext" vor, das sie aus sprachwissenschaftlicher Sicht analysiert (145-157). - Die in den Einzelbeiträgen gegebenen Reflexionen und Definitionen zur Leitfrage werden anschließend von der Herausgeberin Eve-Marie Becker unter der Überschrift "Was ein Text sein kann" zu einem "Inventar" zusammengestellt (159-169).

Der zweite Teil des Kolloquiums bestand in der gemeinsamen Interpretation eines neutestamentlichen Textes, und zwar 1. Korinther 15 ("Der Traktat des Paulus über die Auferstehung der Toten"). Diese ist im längsten Beitrag des Bandes von der Herausgeberin Oda Wischmeyer dokumentiert, die zunächst die gegenwärtige exegetische Forschungslage zum Text beschreibt, dann eine zusammenfassende Darstellung der Diskussionen (in Arbeitsgruppen und im Plenum) gibt und darauf aufbauend schließlich eine "eigene Textbeschreibung" vornimmt und "weiterführende Perspektiven" formuliert (171-209).

Gerahmt sind die genannten Beiträge durch eine "Einführung" in "Ziele, Ablauf, Ergebnisse und Perspektiven" des Kolloquiums (1-14) sowie ein Resümee, in dem die Leitfrage "Was ist ein Text?" erneut aufgegriffen und auf die Interpretation neutestamentlicher Texte zugespitzt wird (211-225), beides aus der Feder der Herausgeberin Oda Wischmeyer.

Der Band ist professionell gesetzt und angenehm zu lesen. Die Einzelbeiträge laden nicht nur durch die Vielfalt ihrer Perspektiven, sondern schon äußerlich durch ihren moderaten Umfang (durchschnittlich 13,5 Seiten) zum Lesen ein. Auf Register wurde verzichtet, was jedoch durch die zusammenfassenden Abschnitte z. T. aufgewogen wird (ein Bibelstellen-Register würde freilich von 2Kor 12,1 ff. nicht nur auf S. 29 ff., sondern auch auf S. 120 ff. [Rousseau] führen, und ein Autoren-Register wäre für das Wiederfinden der nur in den Fußnoten aufgeführten spezielleren Literaturangaben hilfreich gewesen).

Da es im Band um "die Arbeit der Interpretation, die mit dem Entziffern von Buchstaben beginnt und auch bei der kritischen Auseinandersetzung mit Gestalt und Sinn des Textes nicht endet" (2), geht und das Stichwort "Kohärenz" sich wie ein Leitwort durch das ganze Buch zieht, sei ein kritischer Hinweis auf einen Mangel an Kohärenz erlaubt, der das flüssige Lesen erschwert: Die grundsätzliche Entscheidung der Herausgeberinnen, auf eine orthographische Vereinheitlichung des Bandes zu verzichten, ist insofern legitim, als Autoren über die Schreibweise ihrer Texte selbst entscheiden können sollten. Freilich führt die in einigen Beiträgen gewählte "Neue Rechtschreibung" (nicht nur in diesem Band) zu zahlreichen Fehlern allein bei der ss/ß-Regelung. Zwar jetzt erlaubte, aber wenig nützliche Worttrennungen (1Kor 6,12; 10,23!) wie "Dis-tanz" (11.126), "Di-alog" (59), "Grabe-pigramm" (70.74) sind glücklicherweise selten. Sehr irritierend ist allerdings, wenn die Schreibweise nicht nur von Autor zu Autor wechselt, sondern auch zwischen verschiedenen Beiträgen derselben Autorin (O. Wischmeyer, vgl. einerseits S. 29-41 und 171-209, andererseits S. 1-14 und 211-225) oder gar innerhalb desselben Beitrags (klar umgrenzt bei Brennecke, vgl. S. 87-90 innerhalb von S. 81-93; ohne erkennbares System ständig wechselnd bei Vouga, 43-64, und Becker, 159-169). Hier ist man versucht, die im Band erwähnten literarkritischen Methoden der Exegese (18 ff.173) auf ihn selbst anzuwenden und verschiedene Autoren und redaktionelle Schichten zu eruieren - vermutlich reicht jedoch eine einfache "Sekretärinnen-Hypothese" bzw. eine "Word-Versions-Hypothese" bereits aus, den Befund hinreichend zu erklären. Etwas mehr Bemühen um Kohärenz (d. h. gründlicheres Korrekturlesen) hätte der "Endgestalt" des Bandes nicht geschadet.

Insgesamt liegt hier ein anregender Band vor, der einen fruchtbaren interdisziplinären Dialog dokumentiert (immer wieder ist zu spüren, was auf S. 2 konstatiert wird: "Alle Teilnehmer des Kolloquiums waren gleichermaßen strenge und begeisterte Textinterpreten") und bereits neugierig macht auf die Dokumentation eines für 2003 in Aussicht gestellten Folgekolloquiums (vgl. S. 3). Auch auf weitere Bände der Reihe NET darf man nach diesem Einstand gespannt sein.