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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

253–527

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Depenheuer, Otto, Heintzen, Markus, Jestaedt, Matthias, u. Peter Axer [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Nomos und Ethos. Hommage an Josef Isensee zum 65. Geburtstag von seinen Schülern.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2002. X, 574 S. m. 1 Porträt gr.8 = Schriften zum Öffentlichen Recht, 886. Lw. Euro 84,00. ISBN 3-428-10776-4.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Der umfangreiche Band ist aus Anlass des 65. Geburtstages des Staatsrechtslehrers Josef Isensee entstanden. Er enthält Beiträge aus juristischer Feder, und zwar zu sechs Themenbereichen: Staat und Kirche; Grundrechte; Staatsorganisation; Beamtenrecht; Steuer- und Sozialrecht; Europarecht. Die Auswahl der Fragestellungen bringt es mit sich, dass das Buch nicht nur binnenjuristisch interessant ist. Auch die von Isensee selbst erörterten Fragestellungen standen und stehen im Schnittfeld zwischen Recht und Ethik oder auch zwischen heutiger Rechtswissenschaft einerseits und christlicher Tradition andererseits. Dies betonen die Widmung, die die Herausgeber dem Band vorangestellt haben, und der Titel des Aufsatzbandes, der eine Korrelation zwischen nomos und ethos herstellt. Isensees Denken sei als moralisch geerdeter Positivismus zu charakterisieren (V); davon abgesehen sei es dem Hobbesianismus und dessen Grundidee "auctoritas non veritas facit legem" verpflichtet (VI).

Nun ist an dieser Stelle nicht näher auf die Einzelbeiträge des Buches einzugehen. Zum Beispiel wird die Beamtenbesoldung nach Leistung kritisch in Frage gestellt; sie sei zwar nicht verfassungswidrig, aber systemwidrig, da der Beamte ohnehin verpflichtet sei, seine ganze Leistung dem Staat zur Verfügung zu stellen. Hinzu kämen praktische Probleme der Leistungsbewertung. Ein Vorzug des derzeitigen Beamtenrechtes sei die relative Unabhängigkeit des Beamten, die ihm die Tätigkeit zu Gunsten des Gemeinwohls erleichtert (Michael Güntner, 395 ff.). Die Öffnung des Berufsbeamtentums für EG-Ausländer wird als rechtlich akzeptabel dargestellt (Sebastian Jakobs, 538 f.). Eine im engeren Sinn sozialethisch relevante Thematik bildet die Frage der Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten im Sozialversicherungssystem (Florian Reuther, 461 ff.). Einen rechtsgeschichtlichen Akzent setzt der Beitrag über den Herrenchiemseer Konvent, der 1948 einen Vorentwurf für das Bonner Grundgesetz formuliert hatte (Angela Bauer-Kirsch, 229-256). Die Herrenchiemseer Versammlung stand vor der Verlegenheit, ob nur eine vorläufige, fragmentarische Übergangsregelung oder eine auf strukturelle Stabilität angelegte Verfassung entworfen werfen solle - eine Unsicherheit, die dann auf den Bonner Parlamentarischen Rat überging (249 f.).

Der Band greift drängende Grundlagenprobleme des heutigen Rechts- und Verfassungsverständnisses auf und rückt in den Blick, dass strukturelle staatliche Reformen überfällig sind und sich inzwischen eine beträchtliche Struktur-, Akzeptanz- und Stabilitätskrise des Staates ausgeprägt hat. Der Münchner Rechtsanwalt Wolfgang Ott veranschaulicht diese rechtspolitische Grundsatzproblematik an einem ausgewählten Beispiel, nämlich der Frage nach der Zeitspanne zwischen Verkündung und Inkrafttreten eines Gesetzes (322-339). Für die Akzeptanz des Rechtes und das Vertrauen in den Gesetzgeber ist z. B. das Rückwirkungsverbot relevant, das die nachträgliche Anwendung von Gesetzen zu Lasten Betroffener untersagt. Darüber hinaus ist aber auch der Zeitpunkt des Inkrafttretens von Gesetzen zu beachten, weil die Betroffenen bzw. die Rechtsanwender und Normadressaten sich auf neue rechtliche Konstellationen überhaupt erst einstellen müssen (323). Manchmal werden Gesetze überraschend und unplausibel "in letzter Minute" vor Inkrafttreten nochmals verändert (324 f.). Ein zu unvermitteltes Inkrafttreten kann die praktische Durchführbarkeit und Anwendbarkeit eines Gesetzes indes beeinträchtigen und dem rechtskonformen Verhalten der Bürger geradezu den Boden entziehen. Letztlich droht sogar die Rechtsakzeptanz generell ausgehöhlt zu werden: "Überrascht der Staat ... den Normadressaten mit einem in der Kürze der Zeit nicht beherrschbaren Regelwerk, so ist dies kaum ein konstruktiver Beitrag zu der ebenso sensiblen wie unverzichtbaren Akzeptanz des Rechtsstaates" (326). Angesichts dessen, dass die Regelungsautonomie des Gesetzgebers in Selbstherrlichkeit umschlage, müsse sie ihrerseits reguliert oder kanalisiert werden. Was den Zeitpunkt des Inkrafttretens von Gesetzen anbelangt, sollte der Vertrauensschutz, nämlich das "Einübungsvertrauen" berücksichtigt werden: "Wünschenswert und letztlich auch von der grundgesetzlichen Rechtsstaatlichkeit gefordert ist ein für den Normgeber verbindlicher Regeltatbestand, der dem Einübungsvertrauen verfassungsrechtlichen Rang verleiht" (338).

Auf einen anderen Problempunkt der Rechtsstaatspraxis, der in besonderem Maß sozialethisch relevant ist, macht der Mitherausgeber des Buches Matthias Jestaedt aufmerksam: Inzwischen werden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts stärker beachtet als der Verfassungstext selbst. Der Verfassungsgesetzgeber sei durch das Bundesverfassungsgericht derart in den Hintergrund gedrängt worden, dass ein "Verfassungsgerichtspositivismus" entstanden sei, der zur "Invisibilisierung und Marginalisierung des Verfassungsgesetzgebers" geführt habe (188). Denn die staatliche Realität der Bundesrepu- blik Deutschland ist von der Mentalität "Karlsruhe locuta, causa finita" gekennzeichnet (207). Zwischen Verfassungsgericht und Parlament habe eine Hierarchisierung Platz gegriffen, in deren Bann die Autorität des Verfassungsgerichts die Authentizität von Gesetzgeber und Parlament überlagere. Jestaedt weist darauf hin, dass der hohe Stellenwert verfassungsgerichtlicher Voten sachlich z. B. darin begründet sein kann, dass das Verfassungsgericht sich differenzierter äußern kann, als der Gesetzgeber selbst dies vermag (215 ff.). Zudem vermag das Verfassungsgericht der Normkonkretisierung und dem Verfassungswandel Ausdruck zu verleihen (194 ff.). In der Bundesrepublik Deutschland sei diese Entwicklung freilich in ein Stadium eingetreten, die auf eine Schwächung und Entmachtung des Gesetzgebers hinausläuft (vgl. 225 ff.).

Es ist in der Tat außerordentlich bedenklich, dass das Bundesverfassungsgericht faktisch in eine Lage gerückt worden ist, gesetzgeberische Unklarheiten und Stillstände kompensieren zu müssen. Ein solcher Sachverhalt sollte nicht nur rechtswissenschaftlich, sondern ebenfalls sozialethisch ernst genommen werden. Denn hierzulande drohen rechtsstaatlicher Vertrauensverlust, eine Akzeptanzkrise des Staates und politische Entschei- dungsimmobilismen. Es ist unverkennbar, dass die zurückliegenden Jahre von gesetzgeberischem Zögern oder Leerlauf z. B. in der Biomedizin oder im Zusammenhang der Gesundheits- und Rentenstrukturreform geprägt gewesen sind; anders als in Nachbarländern kamen bislang (bis 2003) kein Reproduktionsmedizingesetz, keine Ratifikation der Biomedizinkonvention des Europa- rates oder keine wirkliche Reform der Sozialsysteme zu Stande.

Krisenphänomenen von Staat, Kultur und Rechtsordnung widmen sich eine Reihe von Aufsätzen, die in dem Band enthalten sind. Hierbei sind freilich auch recht einseitige Einschätzungen anzutreffen. Einen kritischen Kommentar findet der Zustand der Medien und der TV-Unterhaltung (Andreas Pütt- mann: Menschenbild und Medienwirkung, 69-101). Es irritiert allerdings, problematische Auswüchse heutiger Unterhaltungsprogramme ausgerechnet an Zitaten zu bemessen, die von dem die kulturelle und theologische Debatte wiederholt allzu stark polarisierenden Kardinal Meisner stammen. Selbst wenn Gewaltdarstellungen in den Medien in der Tat nachdrücklich zu kritisieren sind, zumal unter Gesichtspunkten des Kinder- und Jugendschutzes, bleibt eine Analyse, die lediglich die "Deformation des Menschen als sittliches und soziales Wesen" in den Medien betont (91), zu sehr einem einlinigen Wertverfallsschema verhaftet. - Auf der Grundsatzebene geht der Kölner Rechtswissenschaftler Otto Depenheuer der derzeitigen gesellschaftlichen Wertekrise nach ("Religion als ethische Reserve der säkularen Gesellschaft? Zur staatstheoretischen Bedeutung der Kirche in nachchristlicher Zeit", 3-23). Dabei weist er auf den Widerspruch hin, dass in der Bundesrepublik Deutschland die rechtliche Stellung, Privilegierung und öffentliche Geltung der Kirchen "im internationalen Vergleich geradezu unvergleichlich günstig" ist. Trotzdem sei ein gesellschaftlicher Werteverfall vorhanden, den staatliche, darüber hinaus aber gerade auch die kirchlichen Verantwortungsträger beklagen (4, vgl. 20 f.). Depenheuers These zufolge ist es freilich gar nicht die Aufgabe "der Kirche" (womit durchweg die katholische Kirche gemeint ist - ein Indiz dafür, dass diese hierzulande stärker wahrgenommen wird als die evangelische Kirche?), zur gesellschaftlichen Integration, zu relativen rechtspolitischen und ethischen Kompromissen und zu politischen Urteilsfindungen beizutragen. Ein derartiges ethisch-normatives Engagement der Kirche laufe lediglich auf deren Selbstsäkularisierung hinaus (19). Innerstaatlich, innerweltlich sei die Kirche nur ein gesellschaftliches Subsystem neben anderen (15). Sie sei besser beraten, wenn sie "politische Abstinenz" übe (19), ihrem "Monopol", nämlich der "Vermittlung des ewigen Heils ihrer Mitglieder" nachkomme (17) und den persönlichen Glauben ihrer Mitglieder stabilisiere, die dann ihrerseits die gesellschaftlichen und politischen Akteure seien (23).

Nun kann es jedoch weder theologisch noch kultursoziologisch überzeugen, die religiöse und die ethisch-gesellschaftliche Funktion der Kirchen gegeneinander auszuspielen. An Depenheuers Sicht leuchtet ein, dass katholische oder evangelische Stellungnahmen zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen in der Tat einer kritischen Analyse bedürfen. Wenig sachgerecht ist es, wenn kirchliche Voten Verbindlichkeit, Eindeutigkeit und gar Absolutheit beanspruchen. Dies war Anfang der 1980er Jahre auch auf evangelischer Seite der Fall, nämlich beim damaligen "Nein ohne jedes Ja" gegenüber dem NATO-Doppelbeschluss, und zeigt sich oft auf katholischer Seite, unter anderem beim katholisch-lehramtlichen normativistischen Nein zur hormonellen Kontrazeption, zur künstlichen Befruchtung bei Ehepaaren oder zur embryonalen Stammzellenforschung. Das Bestreben der katholischen Kirche, ethische Fragen durch lehramtliche Aussagen verbindlich entscheiden zu wollen, ist auf der Basis evangelischer Theologie indes nicht nachvollziehbar. Prinzipiell könnte eine gewichtige Funktion der Kirchen darin bestehen, ethisches Problembewusstsein zu schärfen, Abwägungsargumente vorzutragen und - als einer der gesellschaftlichen Diskurspartner - den kulturellen Diskurs über ethische Fragen aus ihrer traditionell gewachsenen normativen Kompetenz heraus möglichst sachgerecht mitzugestalten. Historisch hat sich gerade auch die katholische Kirche in der Promulgation des Subsidiaritätsprinzips oder bei medizinethischen Abwägungen, etwa zur Transplantationsmedizin oder zur indirekten Sterbehilfe, eigentlich Verdienste erworben. Aus einer argumentativen, an der Sachlichkeit und den Menschenrechten orientierten Gemeinwohlverantwortung sollten die christlichen Kirchen jedenfalls nicht so rasch entpflichtet und entlassen werden, wie Depenheuer dies vorschlägt.

Religionssoziologisch bleibt der Sammelband auf die christlichen Konfessionen fokussiert. Es wird eine "Bekenntnisfeigheit" und "Bekenntnisfaulheit" der Christen beklagt (99), wohingegen die kulturelle Bedeutung anderer Bevölkerungsgruppen und der neu entstehende weltanschauliche Pluralismus kaum zur Sprache gelangen. Eine Ausnahme bildet der Aufsatz "Ethik oder Religion?" (Gitta Werner, 43-66). Er bezeichnet die Fächer, die in den Schulen inzwischen als Alternative zum konfessionellen Religionsunterricht angeboten werden, freilich mit dem alten, abschätzig klingenden Begriff Ersatzunterricht. Ganz zu Recht wird dann allerdings eine angemessene Lehrerausbildung für diese Fächer eingefordert (66). Dass diese bisher flächendeckend fehlt, ist ein bildungspolitisch nicht hinnehmbares Desiderat.

Insgesamt veranschaulicht der Sammelband die kritische Diskussion der Rechtswissenschaften zum Verhältnis von Recht und Ethik, zu den heutigen schwerwiegenden, ja krisenhaften Akzeptanzproblemen des Rechtsstaates, aber auch zu religionstheoretischen Problemen. Solche rechtswissenschaftlichen Analysen bieten für die theologisch-sozialethischen Urteilsfindungen interessante Anknüpfungspunkte.