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Ausgabe:

März/2004

Spalte:

243–254

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Weder, Hans

Titel/Untertitel:

Auf Evidenz gegründet

Zur Bedeutung des Werkes von Ernst Fuchs für die Neutestamentliche Theologie und die Theologische Hermeneutik1

Einstieg

"Beim Fliegen fühle ich mich halt arg in Gottes Hand." Mit diesen Worten soll Ernst Fuchs seine Skepsis gegen das Besteigen von Flugzeugen zum Ausdruck gebracht haben. Sprüche dieser Art waren charakteristisch für ihn. Auf die Frage, was die Taufe sei, habe Ernst Fuchs geantwortet: "Die Taufe ist die Befreiung des Säuglings von der Philosophie." Die Sprüche überraschen, sie sind nicht ohne weiteres verständlich, obwohl sie sich auf elementare Lebenserfahrungen beziehen. Charakteristisch ist, dass sie diese Erfahrungen im Kontext theologischer Phänomene zur Sprache bringen und so auf überraschende Weise sowohl die Theologie als auch die Erfahrung erschließen können.

Mir ist es nicht vergönnt gewesen, Ernst Fuchs persönlich zu treffen. Manche sagen, seine Theologie könne besser verstehen, wer ihn nicht persönlich gekannt habe. Ich weiß es nicht. Mir jedenfalls blieben die Schriften Ernst Fuchs' während langer Zeit verschlossen. Im Zusammenhang mit meiner Dissertation über die Gleichnisse las ich sehr viel in seinen Aufsätzen, doch je mehr ich las, desto rätselhafter wurde mir diese hermeneutische Theologie. Eines Tages allerdings meinte ich, ihr Geheimnis entdeckt zu haben: In einem der Aufsätze sagte Fuchs etwas über Maria, und ich verstand nichts, bis ich merkte, dass es nicht um die Mutter Gottes ging, sondern um die Frau von Ernst Fuchs. Die intensive Berührung mit der Lebenswelt ist das Geheimnis dieser Hermeneutik; nicht theologische Termini trifft man hier an, sondern Wörter, die in die Höhen der Hermeneutik verweisen und zugleich in die Tiefen des täglichen Tuns und Erlebens.

Ernst Fuchs war, so würde ich sagen, Zeit seines Lebens darum bemüht, die Lebensnähe religiöser Sprache zu explizieren und die erschließende Kraft der Lebenserfahrung für die Sprache des Glaubens fruchtbar zu machen. Seine Hermeneutik ist mehrdimensional: Zunächst geht es um das Verstehen neutestamentlicher Texte, dann aber auch um fundamentaltheologische Einsichten, und schließlich um die Sprache überhaupt, in welcher der Mensch sein Zuhause findet - oder eben nicht. Im Respekt vor dieser Mehrdimensionalität wird heute an Einsichten von Ernst Fuchs erinnert, in drei Dimensionen, in den Dimensionen der neutestamentlichen Hermeneutik, der theologischen Grundlagenforschung und der Bedeutung für den Umgang mit Texten überhaupt. Ich werde mich auf drei Einzelaspekte beschränken, die für meine Arbeit wichtig sind; eine schöne und tiefsinnige Einführung in die Vielfalt der Theologie von Ernst Fuchs hat Gerd Schunack im soeben herausgekommenen Ernst Fuchs-Lesebuch vorgelegt.



I. Entdeckungen wiederentdecken



Im Fuchsschen Jesusbuch von 1971 fällt im Blick auf die Verkündigung Jesu ein bemerkenswertes Stichwort: riskieren. Mehrfach ist hier die Rede davon, welches Risiko Jesus mit seiner Art des Verkündigens eingehe. Ich greife einen Satz heraus: "Wenn Jesus [...] Gottes Zuwendung zu seinen Hörern jedermann zugänglich als Gegenwart voraussetzt, so riskiert Jesus Gottes Sein bei denen, die sein Wort verstehen."2 Warum soll ausgerechnet das Sein Gottes von Jesus riskiert worden sein? Vom Sein Gottes würde man annehmen, es sei das Gewisseste von allem und stehe außerhalb jedes Risikos. Was macht diese Rede von Gott risikoreich, und wie muss man sich eine risikolose Rede von Gott vorstellen?

Das Risiko besteht zunächst darin, dass die Zuwendung Gottes zum Menschen in der Verkündigung Jesu nicht postuliert oder proklamiert, sondern vorausgesetzt wird. Das Postulat dagegen ist ohne Risiko. Denn sein Wesen ist die Notwendigkeit: Im Postulat wird konstruiert, was denkerisch notwendig ist und also nicht gefährdet werden kann durch den Einspruch des Wirklichen. Wird Gottes Zuwendung dagegen vorausgesetzt, muss der Verkündiger es riskieren, sie im Wirklichen zu identifizieren.

Weiter: Das Sein Gottes wird im zitierten Satz als Gegenwart vorausgesetzt. Würde demgegenüber das Sein Gottes in die Zukunft gelegt, könnte risikolos davon gesprochen werden. Instruktives Beispiel ist das apokalyptische Reden von Gott. Mag in der Gegenwart noch so sehr die Erfahrung der Gottesferne im Vordergrund stehen, in der Zukunft wird die Nähe Gottes mit Händen zu greifen sein. Wer dagegen Gottes Sein als Gegenwart voraussetzt, muss es an die Evidenz des Gegenwärtigen riskieren.

Schließlich wird nach Fuchs in der Verkündigung Jesu die Zuwendung Gottes als jedermann zugängliche Gegenwart vorausgesetzt. Es entfällt die Möglichkeit, das Sein Gottes auf eine bestimmte Gruppe zu beschränken. Es entfällt die Möglichkeit, das Sein Gottes an moralische oder intellektuelle Bedingungen zu knüpfen. All dies sind bekannte Strategien einer risikolosen Rede: Das Sein Gottes erschließt sich nur dem Gerechten, nur dem Weisen, nur dem Insider. Wer dagegen Gottes Sein als jedermann zugänglich voraussetzt, muss riskieren, dass jemand den Zugang nicht findet.

Das Risiko lässt sich genauer beschreiben: Wenn das Wort Gott eine Wahrheit bezeichnet, die gegenwärtig und allen zugänglich ist, dann hilft kein Postulat, kein dogmatischer Satz, kein Prinzip Hoffnung. Wer von dieser Wahrheit sprechen will, muss sie als Entdeckung zu verstehen geben, als eine Entdeckung am Wirklichen. Das macht zugleich die Nähe religiöser Verkündigung zur poetischen Sprache aus, die am Wirklichen Dinge entdeckt, die allen zugänglich sind, wenn sie einmal entdeckt sind. Die Sprache, die Jesus in dieser Welt geführt hat, hat nach Fuchs den grundlegenden Gestus, dass sie zu entdecken gibt. Diesen entdeckenden Grundzug der Sprache Jesu zu verstehen, betrieb Ernst Fuchs mit größter Aufmerksamkeit.

Dementsprechend gewinnt das Wort Jesu ein besonderes Verhältnis zum Hörer: Jesus führt eine Sprache, die ausschließlich das Einverständnis der Angeredeten sucht. In den Antithesen der Bergpredigt kann dieser Grundzug schön beobachtet werden. In seiner Entdeckung des Willens Gottes im Gesetz verzichtet Jesus ausdrücklich auf die Argumentation mit der Autorität von Mose und den Propheten, er verzichtet darauf, die Herzen der Zuhörer mit Schuldzuweisungen zu beschweren und sie so gefügig zu machen, er verzichtet darauf, sein Wort mit der Autorität des vermeintlich unausweichlichen Gottes auszustatten. Mit dem "Ich aber sage Euch" riskiert er die Wahrheit des Willens Gottes in den Zuhörern; er legt die Wahrheitsfrage in ihre Hände. Nichts anderes sucht er als das Einverständnis der Angeredeten, so sehr er dies nach Leibeskräften tut.

Weil Jesus die Zuwendung Gottes zu seinen Hörern als jedermann zugängliche Gegenwart voraussetzt, muss er das Sein Gottes bei seinen Hörern riskieren. Sein Wort ist also auf Verstehen angewiesen, und Verstehen ist - so sehr Jesus mit Händen und Füßen daran arbeitet - durch nichts zu erzwingen. Das Risiko hat den Preis, dass Jesus den Glauben der Angeredeten nicht in der Hand hat. Das Risiko hat den Ertrag, dass das Wort Jesu wahrhaftig Glauben finden kann, das freie Ja des verstehenden Menschen zu der für ihn entdeckten Wahrheit. Das Risiko hat den Vorzug, dass Jesus die Zuwendung Gottes zu seinen Hörern in seinem eigenen Reden wiederholt: Zuwendung, wenigstens wenn sie kein Wolf im Schafspelz ist und also keine maskierte Eroberung, geschieht dort in Wahrheit, wo nichts anderes gesucht wird als das Einverständnis des Menschen.

Einverständnis ist ein für die Hermeneutik Ernst Fuchs' zentrales Stichwort. Damit wiederholt er auf hermeneutischer Ebene einen Grundzug der Verkündigung Jesu und weist damit das Unternehmen Exegese und Theologie auf einen unverwechselbaren Weg. Wenn es zutrifft, dass Jesus die Wahrheit Gottes bei seinen Hörern riskiert hat, hat dies Konsequenzen für jene Wissenschaft, die sich mit der Erschließung der Verkündigung Jesu beschäftigt. Sie wird das Risiko, das Jesus mit seinem Wort eingegangen ist, nicht verflüchtigen dürfen. Daraus folgt: Die Theologie muss darauf verzichten, die Wahrheit ihres Gegenstandes denkerisch entweder sicherzustellen oder aber zu annihilieren. Sie muss eine Sprache sprechen, die ebenfalls nichts anderes sucht als das Einverständnis, eine Sprache, die auf jeden Versuch der Bemächtigung verzichtet. Es ist nicht einfach, diese Sprache im Haus der Wissenschaften zu finden, denn so sehr in diesem Haus die kritische Reflexion dominant gepflegt wird, so wenig ist man gewohnt, auf das Erzwingbare zu verzichten. So sehr in diesem Haus die Empirie zelebriert wird, so wenig ist man geübt, die Reflexion über eine erfahrene Entdeckung in eine Sprache zu kleiden, die wiederum etwas zu entdecken gibt. Als hermeneutisch arbeitender Exeget empfiehlt Fuchs der Theologie, sie möge ihre Arbeit hermeneutisch rechtfertigen. Dies tut sie, indem sie ihre Phänomene der Sprache überantwortet, welche die Texte sie lehren.3

Die Theologie hat sich um eine Sprache zu bemühen, in der das menschliche Leben so verstanden ist, dass es ein Zuhause finden kann. Nicht mit der Fraglichkeit konfrontiert diese Sprache den Menschen, sondern sie hält ihm einen Platz frei, zum Beispiel einen Platz am Tisch des Herrn, den er einnehmen kann. Nicht zur Entscheidung ruft sie ihn, sondern sie eröffnet einen Raum für entschiedenes Leben. Auf diesem Hintergrund ist der folgende, für die Fuchssche Hermeneutik grundlegende Satz zu verstehen: "Die Fraglichkeit der Existenz, von welcher Heidegger und Bultmann ausgingen, hat sich in das Phänomen der Sprachlichkeit der Existenz verwandelt."4

Werden die Phänomene, von denen die Theologie spricht - etwa Sünde, Vergebung, Gnade - dieser Sprache überantwortet, werden sie mit der Lebenswelt der Angeredeten verbunden und darin verankert. Damit stellt sich das Erfahrungsproblem auf neue und dringliche Weise. Die Wahrheitsfrage der Theologie ist nur auf der Ebene der Lebenserfahrung zu stellen und zu beantworten. Allerdings ist die Lebenserfahrung alles andere als frei zugänglich. Medien wie Wissenschaft geben vor, das Wirkliche zu vermitteln, in Wahrheit konstruieren sie es. Deshalb ist die Erfahrung in großer Gefahr, durch allerlei Konstrukte verstellt und verspielt zu werden. Gerade die Erfahrung der Liebe, welche für Fuchs zentral war, ist eminent gefährdet durch solche Verstellung: Die Erfahrung der Angewiesenheit beispielsweise, welche elementar zur Liebe gehört, wird als Abhängigkeit konstruiert und dann im Namen der unabhängigen Selbstwerdung des Menschen als lebensfeindlich diffamiert. Gewiss haben alle Zugänge zur Wirklichkeit - auch der theologische - ein konstruktives Moment in sich. Dennoch steht die Theologie, welche ihre Wahrheitsfrage auf der Ebene der Lebenserfahrung stellen will, vor der Aufgabe, eben diese Lebenserfahrung freizule- gen im Gemenge der Konstrukte.

Diese Arbeit an der Erfahrung verrichtet sie gewiss nicht allein, aber sie kann sie auch nicht einfach anderen Wissenschaften wie etwa der Soziologie oder der Psychologie überlassen. Elementare Erfahrung freizulegen, ist meines Erachtens die Hauptarbeit der Theologie, jedenfalls einer hermeneutischen Theologie, welche nichts anderes suchen will als das Einverständnis der Menschen. Diese Theologie spricht eine Sprache, zu welcher sich die Erfahrungswelt des Einzelnen gleichsam in Resonanz befindet. Kommt es zu dieser Resonanz, kann die Energie der theologischen Sprache sich auswirken und eben jene Phänomene in der Lebenswelt zum Schwingen bringen, auf welche der Mensch sich im Leben und im Sterben verlassen und bei welchen er ein Zuhause finden kann. Kommt es zu dieser Resonanz, stellt sich inmitten der Vieldeutigkeit des Lebens eine Eindeutigkeit ein, die nicht von dieser Welt ist und die dennoch dieser Welt am nächsten kommt. In summa: Das wahre Leben wird verankert im wirklichen.

Vielleicht kann man sagen, dieser hermeneutische Grundzug komme nicht nur der Sprache der Theologie zu, sondern er sei zu empfehlen für alle menschlichen Sprachvorgänge, jedenfalls für jene Sprache, die dem Leben gilt. Dies wäre dann ein Einspruch gegen Kommunikationsprozesse, welche den Menschen zu überwältigen suchen, sei es durch die Strategie der Verführung, sei es durch die Strategie der erzwungenen Zustimmung. Autoritäre Kommunikation ist lange nicht so selten, wie unsere der Beliebigkeit sich befleißigende Kultur uns glauben machen möchte. Dem Risiko, die Wahrheitsfrage in die Hände der Angeredeten zu legen, wird allzu häufig ausgewichen. Statt dessen wird der Versuch unternommen, durch die Unausweichlichkeit bewiesener Satzwahrheiten oder durch die Last zugewiesener Schuld über den Menschen zu verfügen. Es wird eine autoritäre Sprache gesprochen, welche aus der Theokratie herkommt und diese perpetuiert, aus einer Theokratie, die dem herrschenden Gott noch immer jene Unausweichlichkeit zuschreibt, die der Gott Jesu schon lange hinter sich gelassen hat. In Wahrheit produzieren die Redner nur ihre eigene Unausweichlichkeit, genau wie die Theokraten ihre eigene Herrschaft an die Stelle des göttlichen Herrn setzen. So neuartig diese Kommunikation auch sein mag, so alt ist ihr Gestus angesichts des Neuen Testaments: Dieses lehrt eine neue Sprache, die Sprache der Arbeit am menschlichen Herzen, die Sprache, die an der Überzeugung des Menschen arbeitet und ihm so eben jene Würde lässt, welche er in den Augen Gottes hat.

II. Die Arbeit der Sprache

Es gibt eine bemerkenswerte Aussage von Ernst Fuchs zur Gegenüberstellung von Jesus und Johannes dem Täufer: "Hatte Johannes einen Bruch mit dem bisherigen Leben gefordert, so feierte Jesus bereits den Beginn des neuen Lebens, eines Lebens schon im Bereich des Reiches Gottes."5 Johannes forderte die Umkehr, Jesus feierte die Gegenwart des Gottesreiches. Feiern sind bestimmt durch den Grund zum Feiern, durch die Gegenwart dessen, was Anlass zum Feiern gibt. Und das Feiern als solches ist die Einstellung auf eben diese Gegenwart. Eine Hochzeit zum Beispiel gibt Grund zu feiern. Und die Gäste nehmen teil an der Gegenwart, die durch die Einladung, die Musik, das Essen, das Hochzeitspaar qualifiziert ist. (Darum die Frage Jesu: Können denn die Hochzeitsgäste fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? Im Fasten würde die Gegenwart der Hochzeit gerade verspielt.) Die hermeneutische Tragweite dieses Gegenübers von Jesus und Täufer kann nicht hoch genug veranschlagt werden.

Da ist zunächst ein topologischer Unterschied: Der Täufer erwartete die Leute in der Wüste, Jesus kam in die Städte und Dörfer Galiläas (vgl. Mk 1,14). Die Topologie ist alles andere als äußerlich, denn das Leben wird stets geprägt durch seinen Ort. Vielleicht ist die Frage, wo wir leben und wirken, viel entscheidender als die Frage, wie wir leben sollen. In der Ortsdifferenz verbirgt sich die grundlegende Verschiedenheit zwischen Jesus und dem Täufer, die Fuchs mit dem Begriffspaar "fordern" und "feiern" beschrieben hat.

Dem Ruf des Täufers in die Wüste entspricht ein Gott, der sich von den Sündern distanziert; die Distanz zu ihm können sie nur noch durch den weiten Weg in die Wüste überwinden. Der Bewegung Jesu in die Dörfer und Städte entspricht ein Gott, der die Nähe zu den Verlorenen sucht. Diese Nähe vollzieht Jesus, indem er Sünden vergibt und so die Sünder aus ihrer Verkehrtheit herausführt.

Zu den Insignien des Täufers gehört die Worfschaufel, welche die Spreu vom Weizen scheidet. Zu den Insignien Jesu gehören die Sandalen, ein Symbol des unter die Füße genommenen Weges zu den Menschen. Die Worfschaufel steht für die Scheidung, die das Kommen Gottes bringen wird, die Sandalen stehen für die Sammlung, die Jesus an der Stelle Gottes vollzieht. Die Sammlung hat die konkrete Gestalt der Einladung zu einer Feier, die im Gange ist. Beim Täufer macht der Mensch sich auf den Weg, um durch Umkehr und Buße Vergebung der Sünden zu erlangen. Jesus dagegen macht sich selbst auf den Weg, um Gott in der Nähe der Menschen zu entdecken. Und die überraschende Wirklichkeit dieser Nähe ist es dann auch, die eine neue Situation schafft. Sie ist es, die so etwas wie Umkehr möglich macht.

Wir sehen, dass hier eine Umkehrung der Bewegungsrichtung stattgefunden hat. An die Stelle der Bewegung des Menschen in die Wüste tritt die Bewegung Jesu auf die Menschen zu. An die Stelle des drohenden Feuergerichts Gottes tritt die heilsame Nähe Gottes, eine Wirklichkeit, die des Menschen selbstverschuldete Distanz zu Gott überwindet. Dieser Unterschied wäre bis heute lehrreich. Denn auch in heutigen theologischen Kreisen wird nicht selten - mit einem Seitenblick auf die so genannte bürgerliche Theologie der Rechtfertigung - darauf hingewiesen, dass Jesus die Menschen nicht einfach so akzeptiert habe, wie sie waren, sondern dass er sie verändert habe. Das ist wohl wahr. Aber wie leicht wird aus dem Jesus, der seinerseits die Menschen verändert hat, die große Forderung an die Heutigen, sich selbst zu ändern. Eben dieser hermeneutische Absturz ist historisch gesehen der Rückschritt von Jesus zum Täufer, beziehungsweise der Regress von der Feier zur Forderung.

Anders als Johannes hat Jesus nicht getauft. Statt das Sakrament zu spenden, verstand er - so eine wichtige Entdeckung von Ernst Fuchs - seine ganze Existenz als sakramental. Die sakramentale Dimension der Existenz Jesu nahm Ernst Fuchs insbesondere in der Gleichnisverkündigung wahr. Was teilt das Gleichnis aus? Es lässt vor unseren Augen ein Reich Gottes entstehen, das die Wirklichkeit der Welt übersteigt. Im Reich Gottes wird Schuld vergeben, statt dass Schulden zurückgezahlt werden. Das mag eine Fiktion sein, doch sie hat einen starken Realitätsbezug. Was im Gleichnis als traumhaftes Reich der Liebe erscheint, macht aufmerksam auf das jetzige Fragment der Liebe und sorgt dafür, dass dieses Fragment erkannt wird als etwas, das Zukunft hat. Was im Gleichnis als Wahrheit des Reiches Gottes aufscheint, stellt die Wirklichkeit der Welt in ein neues Licht und lässt erkennen, wo die wahrhaft aussichtsreichen Fragmente sind, wo die Lichter vom großen Licht Gottes und wo die Tropfen vom Meer der Wahrheit sind.

Das Gleichnis leistet selbst eine Arbeit, es leistet Arbeit dafür, dass das Reich des Möglichen in der Wirklichkeit zum Zuge kommt. Zum Reich des Möglichen gehört etwa die Vergebung. Das Gleichnis vom Schalksknecht sorgt dafür, dass der Mensch Vergebung als seine eigene Lebensgrundlage erkennt und insofern geneigt ist, seinerseits - wenigstens im Fragment - zu vergeben. In diesem Zusammenhang hat Wolfgang Harnisch die Sprache der Gleichnisse Sprache des Möglichen genannt, eine Sprache, in welcher das Mögliche selbst aktiv wird in der Wirklichkeit, und damit eine Sprache, die gerade nicht der Arbeit des Menschen die Verwirklichung des Möglichen aufbürdet. Die Arbeit des Menschen bekommt dann einen anderen Ort: Sie verwirklicht nicht das Wahre, sie entspricht vielmehr der Wahrheit, die je und dann im Wirklichen erscheint.

Das Mögliche in diesem Verständnis ist freilich nicht mehr, wie man gewöhnlich denkt, die Fortsetzung des Wirklichen, die Extrapolation der Wirklichkeit. Das Mögliche ist die große Alternative zur Wirklichkeit, eine Alternative freilich, die nicht etwa als Gegenstück zur Wirklichkeit besteht, sondern eine echte, in keiner Beziehung zur Wirklichkeit stehende Alternative ist. Die Vergebung ist eine Möglichkeit, die ihre eigene Wahrheit hat, sie lebt weder von einem positiven Trend im Wirklichen noch von dessen Defiziten. Es gibt deshalb verpasste Möglichkeiten. Die Liebe ist eine Möglichkeit, die direkt von der Zukunft in die Vergangenheit gehen kann, vorbei an meinem Leben, weil ich niemanden habe, der sie in meine Wirklichkeit bringt. Die Gleichnisse arbeiten an der Verwirklichung jener großen Möglichkeit. Die Gleichnisse machen meine Zeit wahr, indem sie Partei ergreifen für die wahren Möglichkeiten jeder Zeit.

Die sakramentale Dimension der Sprache Jesu stellt die Theologie vor die Aufgabe, das fremde Werk des Textes zu identifizieren und unsere Aufmerksamkeit für die Arbeit der Sprache zu wecken. Theologie wäre demzufolge eine Sprachlehre im Spannungsfeld von Geist und Buchstaben. Ein und dasselbe Wort kann beides sein, tötender Buchstabe und lebendig machender Geist. Offenbar ist es von der Wahrnehmung eines Textes abhängig, ob ich ihn als Geist oder als Buchstabe lese.6 Es ist vom Lesen der Buchstaben abhängig, ob in ihnen der Geist am Werk bleiben kann oder ob der Buchstabe die Adressaten zum Wirken zwingt. Die theologische Hermeneutik hat an diesem Punkt eine besondere Sensibilität entwickelt. Sie muss sorgfältig darauf achten, ob sie die Wirklichkeit der Texte in der Auslegung verflüchtigt oder zum Leuchten bringt. Sie weiß, dass der Geist, wo immer er sonst sein mag, auch im Buchstaben begegnet. Darum kann sie sich nicht in die schwärmerischen Gefilde unsäglicher Geister flüchten, sondern muss die gute Deutung des "vesten Buchstabs"7 so weit vorantreiben, dass sie dem aus ihm wirkenden Geist nicht im Wege steht:

"... der Vater aber liebt,/Der über allem waltet,/Am meisten, dass gepfleget werde/Der veste Buchstab, und bestehendes gut/Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang." So endet Hölderlins Patmoshymne. Unter den Händen der Ausleger kann die vis aliena exegetisch verflüchtigt und der Adressat dazu verpflichtet werden, jeden Text als Anstoß, als Anruf, als challenge zu eigenem Wirken zu verstehen. Dies ist der erkenntnistheoretische Impuls, den die Theologie durch den Gedanken der sakramentalen Dimension der Existenz und Sprache Jesu erhält. Gewiss hat es keine Wissenschaft in der Hand, die Texte zum Verstehen und also zum Wirken am Menschen zu bringen. Ihr muss es wohl genügen, auf das Wirken des Wortes zu warten. Zur Gestaltung dieses Wartens dienen die methodischen Regeln, und im Warten auf das unverfügbare Ereignis des Verstehens,8 auf die Stunde des Verstehens, wie Fuchs sagte, besteht die ganze wissenschaftliche Kunst.

Vielleicht könnte man sagen, hier sei eine grundlegende hermeneutische Problematik jeder Wissenschaft entdeckt worden, die Kunstwerke auslegt. Die Spannung von Geist und Buchstabe wäre zu erkennen im Vorgang der Auslegung. Am einen Pol wird das Kunstwerk zu einer Forderung an den Menschen gemacht, zu einer Forderung etwa, dem apokalyptischen Drohschwarz zu widerstehen und sich zum Retter der Welt zu machen, oder zur Forderung, aus der Geschichte zu lernen, wie man es besser macht, oder zur Forderung, selbst einen Pfad durch das Dickicht des Lebens zu schlagen, dessen Wirrwarr einem in vielen Büchern vor Augen gehalten wird. Am andern Pol wird alles getan, um der Wirkung des Werkes nicht im Wege zu stehen. Die Bilder des Textes werden stark gemacht, denn es ist ihre Arbeit, dem Leben der Adressaten eine Wende zu geben. Die Sprache des Textes wird so umschrieben, dass ihre Dynamik erhalten bleibt, zu lehren, Einsicht zu schaffen. Die Gedanken des Textes werden so bedacht, dass ihre oft verhaltene Klarheit zum Leuchten kommt und das Dickicht erträglicher macht. Sie fordern nicht Vitalität, sie geben Anlass, in der Feier lebendig zu sein.

III. Auf Evidenz gegründet

Ein zentraler Beitrag von Ernst Fuchs zur Theorie der Gleichnisauslegung war seine immer wieder vorgetragene Beobachtung, dass bei den Gleichnissen Jesu eine Unterscheidung in Bild- und Sachhälfte unmöglich sei. Traditionell hatte man unter der Sachhälfte eine Art theoretische oder allgemeine Einsicht verstanden, welche in der Bildhälfte des Gleichnisses veranschaulicht wird. Die Sache wäre dann die Deutung des Bildes. Dagegen fragt Fuchs: "Will nicht das Gleichnis ... selber Deutung sein? Ein Gleichnis sollte also keiner Deutung bedürfen, denn das hieße, die Deutung deuten."9

In seinem innersten Kern besagt der Abschied von der Unterscheidung in Bild- und Sachhälfte, dass das Reich Gottes ganz und ausschließlich als Bild zur Sprache kommt und dass es keine theoretische Sprache gibt, die präziser über das Reich sprechen könnte als die Bildsprache. Der Abschied von der Unterscheidung besagt, dass das Reden von Gott ganz und aus- schließlich in Bildern erfolgt, in welchen die Erfahrungen der Welt verdichtet und geklärt vergegenwärtigt werden. Dies wiederum bedeutet, dass Jesus das, was er von Gott zur Sprache bringen wollte, allein auf die Evidenz der Lebenserfahrung gegründet sah. Fuchs erkannte in beeindruckender Klarheit, dass Jesus einen Paradigmenwechsel in der Rede von Gott vollzogen hatte: Waren vorher die Bilder fast ausnahmslos Illustrationen einer abstrakt oder theoretisch erkannten Wahrheit Gottes gewesen, sind sie jetzt die einzigen Interpretationen jener Wahrheit, die mit dem Wort Gott gemeint ist. Und zwar dient ausschließlich die Welterfahrung als der Stoff für jene Interpretationen der Gotteserfahrung.

Man muss sich freilich davor hüten, diesen überraschenden Sachverhalt zu schnell mit dem Hinweis auf die Schöpfungstheologie zu domestizieren. Welterfahrung ist theologisch nicht identisch mit Schöpfungserfahrung, denn die Welt ist theologisch gesehen nicht identisch mit der Schöpfung.10 Zwar besteht kein radikaler Dualismus zwischen Schöpfung und Welt, da sich in der Welt gleichsam Spuren der Schöpfung finden lassen. Aber dennoch könnte man die Welt nicht einfach Schöpfung nennen. Eine Metapher, die Ernst Fuchs für das Verhältnis von Natur und Welt geprägt hat,11 dass nämlich die Welt in der Natur verschwindet wie ein Garten in der Wildnis, diese Metapher des verwilderten Gartens kann man auf das Gegenüber von Schöpfung und Welt anwenden: Die Welt gleicht einem verwilderten Garten. Im Gemenge der Wildnis erahnt man noch immer den Garten, der von dieser Wildnis überwuchert wird.

Dieser Unterschied zwischen Schöpfung und Welt ist stets in Erinnerung zu halten, wenn es um eine auf die Evidenz der Welterfahrung gegründete Aussage über Gott geht. Die Evidenz kommt nicht ohne die Erfahrung der Differenz aus; sie evoziert die Erinnerung an den Garten, die im Gemenge der Wildnis noch immer lebendig ist. Dies geschieht im Bild des Gleichnisses so, dass dieses der Welt eine Eindeutigkeit gibt, welche der verwilderte Garten nicht mehr hat.

Die Einsicht, dass Metaphorik das entscheidende Merkmal religiöser Sprache ist, hat sich in der modernen Theologie weithin durchgesetzt. Wenn unter Theologie die wissenschaftliche Reflexion dessen zu verstehen ist, was der christliche Glaube zu denken gibt, wird man gewiss sagen können, die Theologie spreche eine andere Sprache als der Glaube. Theologie spricht in Begriffen, der Glaube dagegen spricht in Bildern und Metaphern. Es wäre nicht sinnvoll, diesen kategorialen Unterschied der Sprachen zu überspielen. Dennoch müsste die Theologie sich als metaphorische entwerfen und sich zuerst und vor allem Gedanken machen darüber, wie das Verhältnis beider Sprachen genauer zu bestimmen sei.

Die Metapher erlaubt es, präziser vom Reich Gottes zu sprechen als jede noch so hoch entwickelte Theorie des Transzendenten. Wenn dem so ist, dann ist eine verlustfreie Transformation metaphorischer Einsichten in begriffliche Sprache nicht möglich. Die theoretische Sprache der Theologie wird also, auch wenn sie mit höchster Sorgfalt erarbeitet wird, stets weniger präzise sein als die Sprache des Glaubens. Diese Einsicht durchzieht das ganze Werk von Ernst Fuchs; er führt deshalb eine Sprache, die durchaus poetische Dimensionen hat: Er spricht von Maria und meint damit nicht die Mutter Gottes.

Wer die Gleichnisse Jesu theoretisch auszulegen versucht, steht ständig am Abgrund, durch seine theoretische Interpretation genau das zu verflüchtigen, was er, etwa in einem wissenschaftlichen Kommentar, zu erklären und zu verstehen sucht. Seine Sprache steht in der Gefahr, sich vor das Erklärte zu stellen, oder - mit einem Bild gesagt - sie steht in der Gefahr, die Erklärung von Witzen an die Stelle der Witze selbst zu setzen.

Zu einer Grundlegung metaphorischer Theologie würde es deshalb gehören, einen Unterschied zu machen zwischen Theorie und Theorie. Der verflüchtigende Effekt entsteht nur, wenn die Theorie sich selbst an die Stelle des theoretisch Beschriebenen setzt. Gewiss gibt es Theoriebildung, in welcher die Erklärung das Ziel ist, nicht das Erklärte. Daneben wäre auch eine theoretische Arbeit denkbar, die ganz dem Erklärten gewidmet ist, die also ganz den Phänomenen zugewandt ist, welche sie bedenkt. Theorien, die der Interpretation von Kunstwerken (Texten, Bildern, Musikstücken) gelten, sind nicht um ihrer selbst willen interessant. Sie sind ganz dem Zugang zum Kunstwerk verpflichtet. Sie unternehmen alle möglichen Anstrengungen, um die Wahrnehmung des Werkes zu steigern. Gesucht wäre eine Theorie, die ganz darauf konzentriert ist, die Aufmerksamkeit für den Gegenstand zu steigern.

Eine theoretische Interpretation, welche den metaphorischen Charakter des Interpretierten respektiert, hat die Gestalt des Nachdenkens, eines Nachdenkens, das in aller kritischen Freiheit zu ermessen sucht, was die Tragweite der Sprache des Glaubens ist, das aber in keinem Falle so tut, als ob es die Wahrheit des Gesagten allererst begründen und legitimieren müsste. Die kritische Prüfung der Tragweite religiöser Aussagen geschieht im Bewusstsein, dass keine Theorie sich den Stoff ihres Nachdenkens selbst erschaffen kann. Gerade eine metaphorische Theologie müsste sich dieser fundamentalen Asymmetrie stets bewusst sein. Der Johannesprolog trägt genau diesem Sachverhalt Rechnung, indem er den göttlichen Logos als unvordenklichen Ursprung zu verstehen gibt, als einen Ursprung, der viel zu denken gibt, der aber denkerisch nicht hintergangen werden kann.

Eine solche Theologie weicht der Wahrheitsfrage nicht aus, aber sie stellt diese Frage in genauer Analogie dazu, wie sie sich bei Metaphern stellt. Was ist die Wahrheit eines Bildes? Was ist die Wahrheit zum Beispiel des Gleichnisses von der selbstwachsenden Saat? Evident ist, dass Wahrheit hier nicht gemessen werden kann an dem, was der Fall ist. Das Gleichnis beschreibt nicht die bloße Wirklichkeit der Kornfelder. Es gibt vielmehr die Kornfelder, die zwar auch der Fall sind, neu zu verstehen als Bilder des Gottesreiches, eines Reiches, das hienieden aber nicht der Fall ist. Wahrheit kann hier nicht adaequatio intellectus et rei heißen, obwohl sie durchaus etwas zu tun hat mit dem Realitätsgehalt des Bildes. Das Gleichnis bildet den wogenden Kornfeldern die Kunde von göttlicher Kreativität ein, es spricht von einer Sache, die prinzipiell transzendiert, was in der Welt der Fall ist; und zugleich könnten die Kornfelder, von denen es spricht, weltlicher nicht sein.

Was ist überhaupt die Wahrheit der Bilder? Wahrheit erscheint hier als etwas, das in der Tiefe des Wirklichen wohnt, als das, was das Leben der Menschen trägt. Wahrheit ist das Verlässliche, auf dessen Grundlage Leben gelingen kann. Als Lebensgrundlage ist es auf eine Weise fundamental und unvordenklich, dass es nicht wieder durch Reflexion sichergestellt werden muss. Es trägt vielmehr seinerseits die Reflexion. Deshalb ist es dem begründenden Zugriff der Wissenschaft entzogen. Dies bedeutet indessen keineswegs, dass die Theologie sich solcher Wahrheit sozusagen blind anzuvertrauen habe. So wie das Gleichnis an die Erfahrungen appelliert, um auf das Tragende aufmerksam zu machen, so gehört es zur intellektuellen Aufgabe der Theologie, dass sie die Tragfähigkeit zu ermessen sucht, auch wenn sie sie nicht begründen kann. Ihre Aufgabe ist die Erprobung fremder Gegebenheiten, nicht die selbst fabrizierte Letztbegründung. Sie kann immerhin prüfen, ob sich das Denken auf solcher Grundlage bewährt, genauer: ob das Denken auf dieser Grundlage lebensfreundlich sei.

Zum Schluss

Die Metapher verbindet, was die Theologie von Ernst Fuchs zusammenzubringen unternahm: Welterfahrung mit Gotteserfahrung. Die Metapher lebt von der weltlich verstandenen Welt. Eine an ihr orientierte Theologie findet deshalb zu einer Rede von Gott, welche die neuzeitliche Weltlichkeit der Welt als ihre positive Voraussetzung hat. Dennoch vermag sie den weltlichen Stoff theologisch zu interpretieren, wenn sie etwa das Wachs- tum oder das Brot als Denkmal göttlicher Kreativität zu verstehen gibt. Und sie bringt damit eine doxa, eine Würde des Weltlichen zur Sprache, die dieses nur in den Augen Gottes hat, also: wahrgenommen als Geschöpf, das nicht nur von sich selbst, sondern von seiner Beziehung zum Schöpfer und damit vom Schöpfer selbst Zeugnis ablegt. So wie die Christologie nach Ernst Fuchs den Menschen Jesus schmückt, so schmückt die theologische Metapher die geschöpflichen Spuren im verwilderten Garten der Welt. Diese auf Evidenz gegründete Rede von Gott ist der cantus firmus der hermeneutischen Theologie von Ernst Fuchs.

Die elementare Relativität, die alles Weltliche in unseren Augen hat, wird gesteigert durch die Relation zum Göttlichen, welche ein Licht auf sie fallen lässt, das nicht von dieser Welt ist. Die Kontingenz wird in der Religion keineswegs bewältigt, wie man religionssoziologisch anzunehmen pflegt, sie wird vielmehr gesteigert: Der Zufall wird davon befreit, ein bloßer Zufall zu sein; er wird wieder ein wesentlicher Zufall, ein der Welt Zugefallenes, eine Wahrheit, die von sich aus erscheint, grundlos wie das Kreative selbst, das seinen Grund ausschließlich in sich selbst hat und deshalb als Zufall zur Wahrnehmung kommt.

Diese Grundstruktur des Denkens verbindet die metaphorische Theologie mit dem Herzen des christlichen Glaubens: mit der Inkarnation des Wortes Gottes im Menschen Jesus. Die Inkarnation überträgt das Wort Gottes ganz auf die weltliche Wirklichkeit Jesu und sieht in der Wirklichkeit Jesu die Würde des höchsten Gottes. Die Metapher wiederholt sprachlich die in der Inkarnation festgehaltene Zuwendung Gottes zur Welt, Gottes Eingehen in die Wirklichkeit der Welt. In der Metapher kommt der ganz und gar nicht weltliche Himmel auf die ganz und gar weltliche Welt zu, indem er die Tiefendimension des Wirklichen je und dann neu erschließt. Es steht zu vermuten, dass eine an der Inkarnation orientierte Theologie eine grundsätzlich metaphorische Struktur hat. Zu vermuten steht auch, dass Ernst Fuchs seine Freude an einer metaphorischen Theologie gehabt hätte.

Und wenn sich die Tiefendimension der Welt erschließt, beginnt diese Welt ein neues Lied zu singen, das kreatürliche Lied vom creator. Was das heißt, steht geschrieben in einer Strophe Eichendorffs:

"Schläft ein Lied in allen Dingen,

Die da träumen fort und fort,

Und die Welt hebt an zu singen,

Triffst du nur das Zauberwort."

Niemand verfügt über das Zauberwort, weder die beschreibende Natur-Wissenschaft noch die metaphorische Theologie. Doch ubi et quando mundus cantare incipit, da können alle wissen, dass das Zauberwort getroffen ist.

Summary

Hans Weder recalls the importance of the work of Ernst Fuchs for New Testament theology and hermeneutics on Fuchs' hundredth anniversary, June 11, 2003. Fuchs has always emphasised the proximity of religious language to life and experience. He understood Jesus' proclamation to presuppose God's presence to everyone, but a presence that had to be discovered. It is everyday life and reality that discloses the truth of God's Word. It is not the task of language, understood as human activity, to transform mere possibility into actual truth. Rather language corresponds to divine truth as it comes to illumine reality. This is why theological hermeneutics cannot as such make the biblical texts be understood, but must wait for the word to become effective. The art of waiting for this is the very point of hermeneutical rules and methods.

The interpretation of parables is a central application of these considerations: Fuchs rejects the usual distinction between picture and content for God's Kingdom as expressed in parables and metaphors. There can be no theoretical language which describes God's Kingdom more precisely than pictorial language. The widely shared insight of much recent theology that metaphor is essential to religious language owes a great deal to Ernst Fuchs.

Fussnoten:

1) Vortrag auf Einladung des Fachbereichs Evangelische Theologie der Universität Marburg anlässlich des 100. Geburtstags von Ernst Fuchs am 12.Juni 2003 in der Aula der Universität.

2) Fuchs, Jesus. Wort und Tat, Tübingen 1971, 101.

3) Fuchs, Das Neue Testament und das hermeneutische Problem, in: Ders., Glaube und Erfahrung. Zum christologischen Problem im Neuen Testament (Gesammelte Aufsätze III), Tübingen 1965, 136-173; 169: "Und die Dogmatik? Nun, befindet sie sich nicht ebenfalls im Umbruch? Wir sind Exegeten. Deshalb rechtfertigen wir unsere Arbeit nur hermeneutisch, indem wir unsere Phänomene der Sprache überantworten, welche uns unsere Texte lehren."

4) Fuchs, Marburger Hermeneutik, Tübingen 1968 (HUTh 9), 53.

5) Fuchs, Das Neue Testament (siehe oben Anm. 3), 146.

6) Vgl. Hans Weder, De la loi à l'évangile. Le légalisme dans la perception de l'évangile, in: Pierre Bühler/Clairette Karakash (ed.), Quand interpréter c'est changer. Pragmatique et lectures de la Parole. Actes du congrès international d'herméneutique (Neuchâtel, 12-14 septembre 1994), Genève 1995 (Lieux théologiques 28), 55-76.

7) Hölderlin: Sämtliche Werke (Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe), hrsg. v. F. Beissner, Bd. 2, Stuttgart 1951, 172. Zu Hölderlins Plädoyer für die Pflege des "vesten Buchstabs" und ihr Verhältnis zum Geist vgl. W. Killy, Der veste Buchstab - gut gedeutet. 2. Korinther 3,6 und die Dichter, in: T. Rendtorff [Ed.], Charisma und Institution, Gütersloh 1985, 66-83.

8) Fuchs, Marburger Hermeneutik, Tübingen 1968 (HUTh 9), 20 f. spricht von einer "Stunde des Verstehens". Zur (hermeneutischen) Methodenfrage in der Theologie angesichts der Unverfügbarkeit des Verstehens als Ereignis vgl.: Ernst Fuchs, Alte und Neue Hermeneutik, in: Ders., Glaube und Erfahrung. Zum christologischen Problem im Neuen Testament (GA III), Tübingen 1965, 193-230.

9) Fuchs, Bemerkungen zur Gleichnisauslegung, in: Ders., Zur Frage nach dem historischen Jesus (Gesammelte Aufsätze II), Tübingen 21965, 136.

10) Auf diesen Unterschied macht Ingolf U. Dalferth, Schöpfung - Stil der Welt, in: FZPhTh 46 (1999), aufmerksam, wenn er die Differenzerfahrungen zwischen Welt und Schöpfung in Erinnerung ruft und feststellt: "Die Welt als gute Schöpfung Gottes anzusprechen, spricht dieser mehr zu, als unsere Erfahrung belegt" (441).

11) E. Fuchs, Hermeneutik, Tübingen 41970, 67 f.