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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

384 f

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lundin, Roger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Disciplining Hermeneutics. Interpretation in Christian Perspective.

Verlag:

Grand Rapids: Eerdmans 1997. VIII, 177 S. 8. Pb. $ 18.-. ISBN 0-8028-0858-1.

Rezensent:

Udo Feist

Als zu Beginn des 11. Jh.s die Selbstgeißelung in europäischen Klöstern Einzug hielt, wurde disciplina, der Begriff für das mönchische Zuchtideal, bald nahezu bedeutungsgleich mit Geißelung verwendet. Eine semantische Volte, die spätestens seit den endzeittaumelnden und mitunter recht undisziplinierten Geißlerzügen im 13. Jh. zwiespältige Gefühle auslösen mußte.

Hat man nun heute Versuche vor Augen, die die nach den Entmythologisierungsquerelen einst so euphorisch und erwartungsträchtig in den theologischen Mittelpunkt gestellte Hermeneutik aus der herrschenden Verwirrung lösen und läutern sollen, mag man unwillkürlich Parallelen zu jener Zeit ziehen - zumal, wenn sie unter den Titel Disciplining Hermeneutics gestellt werden. Schließlich ist alle hermeneutische Theologie mit ihrem Impetus, der modernen Gegenwart die heiligen Schriften auszulegen, kräftig irritiert, seit mit Konstruktivismus und vor allem Dekonstruktivismus die Postmoderne gerade auch die Gefilde der Interpretation zu dominieren begann. Immerhin steht die jeder methodisch geklärten, also hermeneutischen Auslegung vorausgehende Aufgabe der Gegenwartsvergewisserung seither nicht mehr unter der modernen Leitfrage "Was ist Aufklärung?", sondern vielmehr im Kontext der basalen postmodernen Frage "Was ist Verwirrtheit?" - was die moderne, aufklärungsfixierte Theologie wie die Hermeneutik überhaupt vor spezifisch neue Probleme stellt, sie wegen der großen, ehedem in sie gesetzten Hofnungen zudem häufig mit einem Ton des Zerquälten unterlegt.

Die Beiträge des Bandes Disciplining Hermeneutics. Interpretation in Christian Perspective, 1994 allesamt auf der Tagung "Hermeneutics and a Christian Worldview" am Wheaton College in Illinois vorgetragen, verhalten sich zu diesem "garstigen Graben" zwischen modernem und postmodernem Paradigma dabei in bezeichnend unterschiedlicher Weise. Im Grunde stehen nämlich retrospektive, auf Barthschen Bahnen teilweise sogar bis vor die Moderne zurückweisende Ansätze und affirmative, vom Faktum der Postmoderne aus denkende Ansätze weitgehend unvermittelt gegeneinander. Da mag es sogar fraglich scheinen, ob der gemeinsame Bezug auf die Schriften und die Rede von Offenbarung überhaupt über rein Formales hinausgehen. Die beteiligten Philosophen, Theologen, Literaturwissenschaftler und Soziologen bieten in ihren Beiträgen jedenfalls ,christliche Perspektive’ gerade nicht im Singular. Das erlaubt allerdings, und darin liegt der Wert des Bandes, eine pointierte Bestandsaufnahme möglicher, weil bestehender christlicher Perspektiven auf die Auslegung der Offenbarung in dieser Zeit.

Was m anchem nun schon in sich wie ein postmodernes Argument erscheinen mag, soll jedoch offenbar durch die Reihenfolge der, jeweils mit Koreferaten versehenen, Hauptvorträge austariert werden. Immerhin eröffnet Nicholas Wolterstorff in dem an der Sprechakttheorie J. L. Austins orientierten Essay The Importance of Hermeneutics for a Christian Worldview mit einem Vorschlag, der für den Umgang mit biblischen Texten erneut empfiehlt, von einem "double discourse" auszugehen, was letztlich wieder auf die Unterscheidung von Literalsinn und geistlicher ,Bedeutung’ hinausliefe. Unterfüttert von kräftiger Polemik gegen historisch-kritische Methode und romantische Hermeneutik (vor allem gegen Schleiermacher) sowie deren Folgen im 20. Jh. begibt er sich so allerdings unversehens in eine Lage, die von Modernen und Postmodernen wohl des Obskurantismus gescholten wird und von Fundamentalisten haltlosen Modernismus angelastet bekommt. Konsequenter geht Kevin J. Vanhoozer vor, der in dem Schlußbeitrag The Spirit of Understanding: Special Revelation and General Hermeneutics die Fronten krasser pointiert, indem er die spezielle, vom ,Geist berührte’ Offenbarung eindeutig der allgemeinen Hermeneutik vorordnet bzw. diese von jener überhaupt erst begründet sieht: "I am arguing that general hermeneutics is inescapably theological. Our polluted cognitive and spiritual environment darkens understanding - of all texts ... Deconstruction is a denial of the literal sense, a hermeneutic Gnosticism that claims to know the absence of the Logos" (161). Mit Karl Barth und Paul Ricoeur als Gewährsleuten tritt er zum Gegenangriff auf die angeblich alles nivellierende Postmoderne an.

Diese Rahmung zeigt aber vor allem, daß to discipline auch drillen und disziplinieren bedeuten kann. Der neutralere Wortsinn, nämlich schulen, kommt hingegen in den beiden mittleren Hauptvorträgen zum Zuge. Donald Marshall formuliert in Truth, Universality, and Interpretation eine instruktive Besinnung auf die grundsätzliche Frage "Can truth come to us through an interpretation?" (70), die er mit Sympathie für Wolfhart Pannenberg und im Rekurs auf die aristotelischen Kategorien episteme, techne und phronesis angeht. Seine Antworten verbinden die Rede von Wahrheit eng mit moralisch verantwortetem Handeln: "The claim to truth and hence to universality of the interpreter’s answer to the text ... lies instead in the openess of action to a future where it will have consequences and serve as the material of further interpretation ... The universality of interpretation has the form of openess to endless dialogue" (83 f.).

Dem von Marshall herausgestellten ,eschatologischen Sinn’ von Text wie von Interpretation korrespondiert David Lyons Essay Sliding in All Directions? Social Hermeneutics from Suspicion to Retrieval. Allen Unkenrufen zum Trotz betreibt er kreativ und zukunftsoffen die Entdämonisierung der Postmoderne: "In one sense, postmodernism stands at the end of the Reformation tradition’s interpretive practices." (100) Und in dieser Gewißheit benennt der Soziologe Lyon als bekennender Christ Wegmarken zum Thema, die bei vollem Risikobewußtsein (Ulrich Beck; Zygmunt Bauman) von kleingläubiger Ängstlichkeit jede Spur vermissen lassen. Mit nahezu hymnischem Rekurs auf Psalm 139 schließt er denn auch mit einer ,purpose list’, die sich, so bleibt zu hoffen, bald auch in den theologischen Disziplinen mit ähnlichem Mut durchsetzen wird: "First, recognize reflexivity ... Second, abandon legislation... Third, focus otherness ... Fourth, seek purpose" (114 f.).