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Ausgabe:

März/1999

Spalte:

275–282

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Berger, Klaus

Titel/Untertitel:

Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 1. Aufl. 1994. XXIII, 746 S.; 2., überarb. u. erw. Aufl. 1995. XXV, 808 S. gr.8 = UTB für Wissenschaft: Große Reihe. DM 78,-. ISBN 3-7720-1752-5.

Rezensent:

Hans Hübner

An Theologien des NT haben wir zur Zeit keinen Mangel. Auch Klaus Berger hat nun eine solche geschrieben. Aber erst der Untertitel verrät, daß das Buch als eine solche intendiert ist. Der Haupttitel hingegen sagt, worum es dem Autor eigentlich geht: Er will eine Theologiegeschichte des Urchristentums bieten. Und nur als eine so konzipierte Geschichte will er seine Theologie des NT verstanden wissen. Dies zu erläutern dient Teil I, Einführung (immerhin 8 Paragraphen). Seinen völlig neuen Ansatz einer ntl. Theologie zeigt die Gliederung des Werkes. Ich nenne sie zunächst:

Nach der Einführung bringt Teil II, überschrieben "Generelles", in 38 Paragraphen folgende Abschnitte: Frühchristliche Theologie als Schriftbeweis - Zum frühchristlichen Gottesbild - Eschatologie - Lebendige Erfahrungen - Christologie - Soteriologie - Sakramente - Die grundsätzliche Verzweigung. Teil III hat die Überschrift "Früheste palästinische Theologie" (41 Paragraphen) mit den Abschnitten: Der Anfang der ntl. Theologie bei Jesus - Geschichte der Taufe im frühen Christentum - Das theologische Programm des Zwölferkreises - Die Hellenisten - Vor der Abzweigung nach Antiochien. In den Teilen IV bis XI taucht jedesmal die Ortsangabe "Antiochien" auf, zudem noch in den Teilen XV und XVII - also in 10 von 19 Überschriften! Antiochien ist so etwas wie ein roter Faden für B.s Sicht der Geschichte der urchristlichen Theologie. Teil IV ist überschrieben "Abseits von Antiochien", thematisiert werden vor allem der Herrenbruder Jakobus und der Jak. In Teil V "Antiochien: Typische Positionen" geht es um den frühchristlichen Apostelbegriff, um zwei Deutungstraditionen des Blutes Jesu und um das Fleisch des Christus. Inhalt von Teil VI "Antiochien: Paulinisch-johanneischer Kreis" behandelt nach einem Blick auf die Position von Phil 2,6-11 die alte Logoschristologie, dann Paulus und das Joh, danach 1Joh und Joh und schließlich die Position des Jud. Teil VII "Antiochien: Frühe Heidenmission" bringt einleitend mit Petrus und Paulus zwei personalisierte Positionen und im Zusammenhang damit das Beschneidungsproblem. Dem folgt der Abschnitt über die vorpaulinische Kritik am Ritualgesetz. Teil VIII ist überschrieben "Antiochien: Antiochenische Briefe und synoptische Tradition" mit den Abschnitten: Theologie des Lichts und der Erleuchtung - Jesus Christus als Geheimnis - Die Annahme menschlicher Gestalt durch den Sohn Gottes - Abendmahl - Nachfolge als Martyrium- und dann noch einige Einzelparagraphen. Teil IX ist überschrieben "Antiochien: Positionen zwischen antiochenischen Briefen und synoptischer Tradition" mit den Abschnitten: Der Standort der Gegner des Jud - 1Petr und die Synoptiker - Paulus und Markus - Paulus und Q - Paulus und Matthäus - und einige Einzelparagraphen. Teil X ist überschrieben "Antiochien: Gemeinsame Positionen der Missionstheologie" mit einer Reihe recht divergenter Paragraphen-Überschriften, z. B. Die Rolle Antiochiens im frühen Christentum, Christologie oder Himmlisches Jerusalem. Teil XI bringt dann vorerst zum letzten Mal den Namen Antiochien: "Antiochien: Die drei Säulen früher antiochenischer Theologie" mit den Abschnitten: Paulus und 1Petr - Paulus und Hebr - Verflechtungen im Umkreis des Paulus - Der Standort des 1Petr - Der Standort des Hebr. Mit Teil XII rückt allmählich Paulus als solcher mehr in den Vordergrund der Thematik. Jetzt zunächst die Überschrift "Der engere Kreis um Paulus" u. a. mit den Verfassern des Kol, Eph und der Pastoralbriefe - Teil XIII heißt lapidar "Paulus" (64 Paragraphen). Die Überschriften der einzelnen Abschnitte beziehen sich größtenteils auf theologische Topoi. In der Überschrift von Teil XIV begegnet die zweite Stadt: Ephesus. Titel der Überschrift: "Ephesus nach Paulus". Die 93 (!) Paragraphen werden in zwei großen Hauptabschnitten zusammengefaßt: Die judenchristliche Richtung - Versuche der Versöhnung von Juden- und Heidenchristen. Im 1. Unterteil finden sich nochmals längere Ausführungen über Kol, Eph und die Pastoralbriefe, dann auch über Apk; im 2. Unterteil erneut Eph und Apk. In Teil XV noch einmal Antiochien, Überschrift "Der zweite antiochenische Impuls: Die Bildung der Evangelien und ihre Gemeinsamkeiten". Teil XVI ist überschrieben "Die frühen Evangelien", behandelt werden Q, Mk und Joh. Teil XVII ist überschrieben: "Spätere Theologie in Antiochien nach 70 n. Chr.", das Thema: Mt und Ignatius von Antiochien. Nach der erneuten Nennung von Antiochien wieder Ephesus in Teil XVIII: "Spätere Theologie in Ephesus nach 70 n. Chr.", gemeint ist das lukanische Doppelwerk. Und dann schließlich Teil XIX: "Ägypten"; der letzte Paragraph dieses Teil: Die Autorität des Jakobus. Der Ausblick am Ende verweist auf den Weg zur Bildung des christlichen Kanons und auf generelle Entwicklungstendenzen.

Die Übersicht über das Werk ist lang, obwohl ich schon erheblich gekürzt habe. Die Länge und die überraschende Zusammenstellung von Themata, die sonst so nicht begegnet, mögen vielleicht für etwas Verwirrung sorgen. Aber schauen wir zuerst nach dem Gestaltungsprinzip dieser Theologiegeschichte! Die Dominanz des geographischen Interesses ist offenkundig. Und man wird B. zubilligen, daß er mit diesem geographischen Aufriß eine eigenständige Konzeption vorlegt. Ich kenne jedenfalls keine Theologie des NT, die derart konsequent den geographischen Zusammenhängen nachgegangen wäre. Für die Beurteilung dieses Werkes ist es zunächst auch gar nicht so wichtig, ob die einzelne geographische Einordnung zutrifft oder nicht - wichtig scheint mir, daß sich B. hier einer Aufgabe gestellt hat, die als solche sinnvoll ist, sicherlich noch ein Desiderat künftiger Forschung. Dieses geographische Prinzip hat freilich seine Konsequenzen. Denn der von B. behauptete geographische Raum zwingt ihn zur frappierenden Neuordnung innerhalb der ntl. Zeit.

Die üblichen Kontroversen der Neutestamentler über Datierungsfragen (z. B. über das chronologische Verhältnis von Gal und der korinthischen Korrespondenz) werden geradezu minimal, wenn man das neue Zeitgemälde B.s dagegenhält. Alles Marginalien angesichts der chronologischen Radikalumwälzung durch B.! Und man wird es ihm zunächst einmal zugestehen, daß ein neues geographisches Koordinatensystem Weiterungen für Urteile hinsichtlich der Zeit haben kann. Den innovativen Charakter der ntl. Theologie B.s kann man also nicht bestreiten. Aber: Wenn man den Teufel in einer theologischen Rezension nennen darf, so steckt der, wie immer, im Detail! Es ist natürlich nicht möglich, auch nur die wichtigsten Details zu nennen. So beschränke ich mich auf den Punkt, der für seine historische Rekonstruktion der urchristlichen Theologiegeschichte tragende Funktion hat. Ich denke jetzt nicht an die Überdominanz Antiochiens, die in evidenter Weise überzogen ist und so eine arge Perspektivenverengung provoziert. Ich greife vielmehr die Frühdatierung und die Theologie des Johannesevangeliums heraus, weil s ich da am leichtesten historische und theologisch-exegetische Fehleinschätzungen aufzeigen lassen.1 Dabei geht es um formale und materiale Aspekte, die Auswirkungen für die Gesamtanlage des Werkes haben. Hier werde ich also fundamentalen Widerspruch äußern.

Was mir als Hauptproblem der Theologiegeschichte B.s erscheint, ist noch nicht einmal so sehr der Inhalt als vielmehr die Art der Präsentation, die ihrerseits auf dem Modus der Argumentation beruht. Dieser hat aber dann wiederum Auswirkungen auf die Urteilsfindung für inhaltliche Fragen. Die gravierende Defizienz läßt sich gerade an der Art der Darstellung der joh Theologie besonders gut aufzeigen. Schon der zweite von sechs Teilen innerhalb des antiochenischen Duktus (= Teil VI) ist der joh Frage gewidmet. Seine Überschrift "Antiochien: Paulinisch-johanneischer Kreis" haben wir bereits beim Überblick zur Kenntnis genommen. Die 125-134 sind der alten (!) Logoschristologie gewidmet, die 135-144 hauptsächlich dem Thema "Paulus und das Joh" und die 145-150 dem Thema "1Joh und das Joh". In 136 geht es um die Christologie, in 137 um die Soteriologie. Teil XVI thematisiert die frühen Evangelien, und zwar in den 517-527 erneut das Joh, das ja unter die "frühen Evangelien" gerechnet wird. Ich greife zunächst 519 heraus, überschrieben "Strukturen der joh Theologie". Die Untertitel: A Überstieg; B Vermeiden der tödlichen Unterbrechung; C Ärgernis des Leibhaftigen; D Einzigkeit Gottes und Einheit mit ihm - eine etwas ungewöhnliche Reihe von Überschriften für die Theologie des Joh. Aber warum nicht? Prüfen wir die Darstellung!

Was B. in A über den "Überstieg" sagt, trifft zunächst einmal sicherlich für das joh Denken zu. Er setzt bei der irdischen, alltäglichen Realität ein; sie werde immer wieder in Richtung auf den wichtigeren, nämlich unsichtbaren Teil der Wirklichkeit überschritten. In der Tat gehört dieser Sachverhalt zum Kern der Struktur des joh theologischen Denkens. Und B. ist auch darin zuzustimmen, daß damit die alltägliche Realität nicht beseitigt oder ganz unwichtig wird. Er spricht in diesem Zusammenhang von der Bildwirklichkeit. Eigenartig ist aber, daß im ersten Absatz direkt nichts von Jesus von Nazareth gesagt wird. Dies geschieht erst im 2. Absatz, eigenartigerweise in Petit gedruckt. Hier geht es darum, daß für Jesus nichts Irdisches geleugnet werde: "Jesus war ein Mensch." Von der genannten Doppelstruktur der Wirklichkeit her thematisiert B. dann das Verhältnis von Sehen und Glauben. Auch dieser Ansatz ist im Prinzip richtig. Rechnete man aber damit, daß er nun neben Jesu Mensch-Sein auch dessen Gott-Sein klar ausspricht, so wird diese Hoffnung getäuscht. Nach B. vollzieht den Überstieg nicht, wer zwar zum Glauben kommt, dessen Glaube aber nicht "bleibt"2, "weil er nicht an der bleibenden Qualität des unsichtbaren Gottes teilhat"3 (661/7174).

Die Problematik des Verhältnisses von Glauben und Sehen liegt indessen anders, als B. sie hier skizziert. Zunächst einmal spricht der Evangelist expressis verbis gerade nicht vom bleibenden Glauben. Vermutlich bezieht sich B. auf Stellen wie Joh 15,4 ff., wo Jesus zum Bleiben in ihm auffordert. Ausdrücklich lautet seine Drohung in V. 6, daß der, der nicht in ihm bleibt, (aus dem Heilsbereich) herausgeworfen werde, und verwendet dafür das Bild vom fruchtlosen Weinstock, der ins Feuer geworfen wird. Man könnte auch auf Joh 8,31 f. verweisen, wo Jesus zum Bleiben in seinem Wort auffordert, weil nur die Wahrheit frei macht. Aber das Entscheidende ist doch folgender exegetischer Sachverhalt: Gerade an diesen Stellen geht es gar nicht um das Verhältnis von Glauben und Sehen! Diese Frage stellt sich, wie zur Genüge diskutiert, im Blick auf diejenigen Aussagen im Joh, in denen ein Glauben, das aufgrund des Sehens von Wundern zustande kommt, und ein Glauben, das ohne ein solches Sehen auskommt, unterschieden werden. Nun ist im Text und Kontext der programmatischen Stelle Joh 1,14 in der Tat vom Glauben (V .12) und vom Sehen (V. 14b) die Rede - von einem Sehen freilich, das keine Wunder, das im Bereich der Vorfindlichkeit nichts augenfällig Göttliches sieht (anders z. B. Joh 2,11)! Der wirklich Glaubende sieht im bloßen Mensch-Sein Jesu, in dessen sarx, die göttliche Herrlichkeit: etheasametha ten doxan autu, sieht also in diesem Menschen Gott. An der Interpretation dieser Stelle entzündete sich bekanntlich die Kontroverse zwischen Bultmann und Käsemann. Aber anscheinend war sie in B.s Augen theologiegeschichtlich irrelevant, also an dieser Stelle keiner Erwähnung wert. Käsemann vermochte mit seiner Interpretation von Joh 1,14 nicht zu überzeugen. Und so urteile auch ich mit Bultmann: Es ist der Glaubende und nur er allein, der im Menschen Jesus von Nazareth den Gott Jesus sieht, d. h. Jesus als theos (nicht ho theos). Das ist im Sinne des Evangelisten - einmal mit B.s Terminologie gesprochen - der wahre "Überstieg" zum Glauben an Gott, der sich in seinem einziggeborenen Sohn offenbart. Und schließlich zu B.s Aussage, der Glaube desjenigen bleibe nicht, der "nicht an der bleibenden Qualität des unsichtbaren Gottes teilhat": Es ist schon verwunderlich, wenn in 519 Abschnitt A das Gott-Sein Jesu nicht zur Sprache kommt, sondern von der Teilhabe des Glaubenden an der bleibenden Qualität des unsichtbaren Gottes die Rede ist. In welchem Sinn ist aber hier "Teilhabe" gemeint? In welchem Sinn "Qualität"? Ist die Qualität Gottes das Wesen Gottes? Hätte so der Glaubende an der Gottheit Gottes teil? Gesetzt, B. meint dies: Soll man annehmen, daß der Glaubende deshalb am Wesen Gottes Anteil hat, weil er "in Jesus ist" und deshalb an dessen göttlichem Wesen Anteil hat?

Ich habe diese (leicht vermehrbaren) Fragen so gestellt, wie ich sie wohl bei vielen Lesern voraussetzen darf. Meine Vermutung: 519 ist synoptisch mit denjenigen Paragraphen zu lesen, die die ntl. Christologie bzw. die ntl. Christologien thematisieren (wer sein Buch wirklich durcharbeiten will, muß viel vor- und zurückblättern!, s. u.). Wenn ich diese Paragraphen richtig verstanden habe, sträubt sich B. dagegen, eine Aussage wie "Jesus als Mensch und Gott" zu formulieren, obwohl sie doch offenkundig im Zuge zumindest der theologischen Vorstellung des Evangelisten liegt. Nehmen wir also aus Teil II, Generelles, den Abschnitt über die Christologie und aus ihm den 28, Jesus Christus, Sohn Gottes und Herr. Hier finden wir nun den eben vermißten Hinweis auf Joh 1,14 (60/62). Im frühen Christentum habe der Titel Sohn Gottes vor allem folgenden Inhalt: Es gehe um "einen Menschen (der Name Jesus wird in diesem Zusammenhang auffälligerweise von B. nicht genannt!) mit Ursprung vom Himmel her", der "an der himmlischen Herkunft auch noch auf Erden Anteil" habe. Was aber heißt "Anteil an der Herkunft"? Ist es die unpräzise (oder bewußt etwas verschleiernde) Formulierung für "Anteil an seinem ursprünglichen göttlichen Wesen, das ihm von seiner Herkunft her eignet"? Hat B. hier vielleicht bewußt ein Prädikat wie Gott oder göttlich vermieden? In Anm. 12/9 von S. 60/62 begründet er, warum er vom "Himmel" und nicht von "Gott" redet: Weil sich die Gottessohnschaft nicht auf Gottes Personalität beschränke, sondern mit "Himmel" auch "die Existenzweise Gottes, seine Welt und Lebensbedingungen bezeichnet" würden, auch "der Hofstaat in der nächsten Umgebung Gottes".

Damit bleibt allerdings offen, was Jesu Ursprung vom Himmel her meint. Ist er als Gesandter so eine Art Emissär Gottes himmlischer Prov enienz? Könnte nicht für die Tendenz, Jesu himmlischen Status zu minimalisieren, verräterisch sein, wenn er im folgenden erklärt, wegen seines himmlischen Ursprungs eigne dem Sohn Gottes "wenigstens partiell" auch himmlische Doxa - wobei neben dem Hinweis auf die Verklärung Jesu und Joh 1,14 f. auch Joseph in JosAs genannt wird! Wird nicht durch diese Art der Darstellung die Gottessohnschaft Jesu eingeebnet, zumindest der Eindruck erweckt? Unbedingt erwähnt werden muß noch 117, mit der Überschrift "Gott erscheint im Fleisch". Vielleicht ist das, was B. hier sagt, noch bezeichnender als die zuvor genannten Aussagen. Die Vorstellung, Gott erscheine im Fleisch, sei griechischen Ursprungs und ermögliche so, daß die biblischen Aussagen über das Fleisch (des Christus) auch im Griechischen verstanden wurden (er verweist als Beispiele auf Artemidor und Synesios). Wörtlich (200/227): "Nach griechischen Maßstäben handelt es sich dabei um den Vorgang einer Epiphanie mittels des Instruments der Metamorphose."5 Aber es ist doch etwas essentialiter anderes, ob sich Zeus in eine menschliche Gestalt verkleidet, um Alkmene zu verführen, oder in einen Stier, um Europa zu entführen. Zeus ist weder ein sarx genomenos, also anthropos genomenos, noch ein tauros genomenos! Hier werden religionsgeschichtliche "Parallelen" herangezogen, die einer völlig anderen Vorstellungs- und Denkwelt angehören. Das ist aber nur deshalb möglich, weil sich B. nicht wirklich in das theologische Denken des Evangelisten hineinnehmen läßt. So fällt er leider in eine Phase der religionsgeschichtlichen Forschung zurück, die heute eigentlich überwunden sein sollte (Konstruktion von Abhängigkeiten aufgrund von lediglich gleichen Vorstellungen). Es wäre noch interessant, in diesem Zusammenhang auch 136, Christologie (sc. bei Paulus und im Joh), und einige andere Abschnitte des Buches zu kommentieren. Aber weitere - im Grunde sehr notwendige! - Ausführungen über diesen Punkt sind im Rahmen einer Rezension nicht möglich.

Ich möchte das zuletzt Gesagte so zusammenfassen: B.s Tendenz zur Abwertung der Gottheit Jesu gegenüber der christologischen Tendenz des Vierten Evangelisten ist unübersehbar. Was man vermißt, ist, wie denn nun von uns, die wir in einem Lehrbuch der ntl. Theologie etwas über theologisches Verstehen des NT erfahren wollen, z. B. das joh Jesus-Wort Joh 10,30 zu verstehen ist: "Ich und der Vater sind eins." Oder Joh 1,1: "Und der Logos war Gott, theos" Was bedeutet für unseren christlichen Glauben das in Joh 1,1 angesprochene Verhältnis von ho theos und theos? In hermeneutischer Hinsicht läßt uns der Autor, der immerhin auf der Rückseite des Titelblatts die Hermeneutik als einen seiner Forschungsschwerpunkte nennt und selber eine Hermeneutik geschrieben hat, leider allein! Oder blendet B. hier bewußt einiges aus, weil es ihm zu dogmatisch (oder wie immer man es nennen möchte) ist?

Doch dann gibt doch noch einen hermeneutischen Lichtblick! Im Abschnitt "Die alte Logoschristologie" faßt er die Ausführungen über christologische Aspekte in 133 unter der Überschrift "Die Beziehung der Einzelelemente aufeinander" zusammen und kommt dabei auf die Problematik der Präexistenzaussagen zu sprechen. Er nimmt mit vollem Recht die Präexistenz Jesu aus der linearen Zeitvorstellung heraus. Sie "bezieht sich nicht darauf, daß die ’Person’ (in unserem Sinne!) zuvor da ist, sondern etwas, das in ihr sichtbar wird" (221/247). Und weiter heißt es:

"Es geht auch nicht um eine zeitlich meßbare vorherige Existenz, sondern um eine in Zeitkategorien formulierte Rangordnung unter Einschluß der Konzeption des Schöpfers ... Jesus wird als der fleischgewordene Logos bezeichnet, weil in ihm sich Gott offenbart ..."6

B. kommt mit dieser hermeneutisch-theologischen Auffassung dem sehr nahe, was ich zu den konkurrierenden christologischen Konzeptionen in den Evangelien zum Woher Jesu gesagt habe: Im Bereich der objektivierenden Vorstellung widersprechen sich die Konzeptionen von der Jungfrauengeburt und der Präexistenz. In diesem Bereich ist der Begriff "Präexistenz" auf der Skala einer linearen Zeit-vor-Stellung gedacht, also auf einer Ebene, auf der Gott keinen wesenhaften "Ort" hat. Jedoch: Gemäß ihrer jeweiligen Intention geht es den konkurrierenden Christologien gemeinsam um das Sein des Gottessohnes aus Gott, mit den Worten des Credos: um das natum ex Patre, wobei für das ante omnia saecula das gleiche gilt, was eben über das Verhältnis von Vorstellung und eigentlicher Intention gesagt wurde.7 Der Unterschied zwischen B.s und meiner Auffassung besteht jedoch, wenn ich ihn richtig verstanden habe, darin, daß er bereits dem Evangelisten zuschreibt, er habe das Vorstellungsmäßige der Präexistenz als Vorstellung überwunden, so daß er mit seiner Vorstellung lediglich seine Intention zum Ausdruck bringen wollte, während ich annehme, daß er wohl bei der Vorstellung als Vorstellung geblieben ist, daß aber für ihn dann doch die mit der Vorstellung gegebene Intention das Eigentliche war. Trotz dieser Differenz: Hier ist B. erfreulicherweise auf dem Wege zur unumgänglichen Interpretation und somit auf dem Wege zur unverzichtbaren Hermeneutik der Christologien des NT.

Aber dieser hermeneutische Akzent ist leider nicht B.s eigentliche Intention, zumindest nicht eine seiner wichtigsten. So findet sich in 126 über die Christusenkomien die an anderer Stelle von uns vermißte Aussage, daß nach Joh 1 Jesus im Anfang bei Gott oder "Gott" sei. Diese Aussage des Evangelisten wird aber als "die exklusive Nähe Jesu zu Gott" (ho theos) gedeutet. Meine Frage: Sieht B. in Joh 1,1 und 1,14 das Sich-Ereignen Gottes im Menschen Jesus von Nazareth ausgesagt? Oder ist das Prädikat "Gott" (artikelloses theos) lediglich ein Äquivalent für die Nähe Jesu bei Gott, wie auch anderen eine derartige Nähe zukommt? Oder ist durch die Wendung "exklusive Nähe zu Gott" doch der Intention nach ausgesagt, was im Credo mit Deum de Deo bekannt wird? Anders gefragt: Kann B. Joh 1,14 wie folgt paraphrasieren "Ewigkeit wurde Zeit und Geschichte"?8 Und wenn ja, wäre dies für ihn eine nachvollziehbare Aussage für den christlichen Glauben? Oder würde er entgegnen, daß Theologie und Glaube inkommensurable Größen seien?

Doch nun zu den Argumenten B.s für eine Frühdatierung des Joh! In 516 nennt er 13 solcher Argumente. Ich greife nur die heraus, die m.E. zu den wichtigsten zählen. B. vertritt die These, daß das Joh zwischen dem Tod des Petrus im Jahre 66 und der Zerstörung Jerusalems geschrieben sei. Unbestreitbar ist durch Joh 21,18 der terminus a quo gegeben. Für den behaupteten terminus ad quem führt er die Nichterwähnung der Zerstörung Jerusalems an (653/708): "der Verzicht auf eine theologische Auswertung und Inanspruchnahme dieses zentralen Datums" wäre bei einem judenchristlichen Evangelium "ganz unverständlich" gewesen. Joh 2,19-21 sei "eng auf die Person Jesu bezogen", der Ton liege also auf der Macht Jesu. Insofern sieht er in dieser Stelle kein vaticinium ex eventu. Meines Erachtens eine gekünstelte Beweisführung. Ich nehme an, daß er mit ihr nur wenige überzeugt. Wenn das Joh um 100 n. Chr., sei es in Ephesos, sei es in Syrien oder anderswo, geschrieben wurde, so mag ein ca. 30 Jahre zurückliegendes wichtiges geschichtliches Ereignis durchaus an aktueller Relevanz verloren haben. Der terminus ad quem ist also offen und muß aus anderen Gründen vermutet werden. Wenn dann die vielleicht bessere historische Überlieferung vom Todesdatum Jesu tatsächlich im Joh vorliegen sollte, wie B. annimmt - und so kann man durchaus argumentieren!-, dann sagt auch das nichts über die Zeit der Niederschrift dieses Evangeliums. Denn das Alter einer rezipierten Tradition und das Alter der Schrift, in der die Tradition rezipiert ist, müssen doch nicht koinzidieren! Die übrigen Argumente halte ich für noch weniger überzeugend. Wohl aber müssen wir uns noch unbedingt mit dem m.E. wichtigsten Argument auseinandersetzen.

Das ist das Argument der Logostheologie des Prologs. Sie sei nicht das Spätprodukt, als das sie gewöhnlich gilt (657/711). Mit diesem Argument beschäftigt sich nicht nur B. So geht z. B. auch Charles Kingsley Barrett in seinem KEK-Kommentar (1990) dieser Frage nach. Er konstatiert "ein weites und bedeutendes Feld an Übereinstimmungen" zwischen Paulus und dem Joh (72), verweist aber dann darauf, daß nahezu ausnahmslos die beiden ntl. Autoren nicht die charakteristischen Eigenarten des jeweils anderen aufweisen (74). Es stimmt schon, wie B. und Barrett urteilen, daß die Christologien von Paulus und Joh auffällige Affinitäten zeigen. Aber gerade die Christologie als Logos-Christologie findet sich bei Paulus nicht (wenn auch Röm 1,16f. gemäß der theologischen Intention ihr ganz nahe kommt: das Evangelium als dynamis theu!), auch sonst nicht um die Mitte des 1. Jh.s. Was aber Barrett dann zu den Zeugnissen des 2. Jh.s über das Joh sagt, auch zur Frage des "Lieblingsjüngers", ist so überzeugend, daß eine Frühdatierung nicht in Frage kommt (138 ff.). Damit entfällt aber ein zentrales Element der gesamten Rekonstruktion der urchristlichen Theologiegeschichte durch B.

Es ist, wie schon gesagt, nicht möglich, B.s Buch in allen Partien so ausführlich zu besprechen, wie es soeben geschah und wie es das Buch eigentlich verdient hätte. Erforderlich sind aber zumindest einige Worte zur Einleitung. B. will mit seiner "Theologiegeschichte des Urchristentums" eine "Theologie des NT" vorlegen, die die Geschichte ernst nimmt, und zwar im Gegensatz zu den üblichen ntl. Theologien, die er als "eine Gattung systematisch-theologischen Ursprungs" charakterisiert (3). Daß Theologien des NT notwendig einen systematischen Akzent haben, sei sofort zugestanden. Aber wenn B. ihnen die geschichtliche Darstellung abspricht, so frage ich mich, unter welchem Gesichtspunkt er z. B. Bultmanns Theologie des NT gelesen hat. Es stimmt doch einfach nicht, wenn er den großen theologischen Entwürfen das ungelöste Problem der Einheit vorwirft. Und wenn er zudem noch erklärt, die "biblischen Theologien" betonten die Einheit des AT und NT, so ist das eine gewaltige Verallgemeinerung. Ich darf an dieser Stelle sicherlich einmal in eigener Sache sprechen: Ich habe meine "Biblische Theologie des NT"9 sehr bewußt nicht von der - nicht existenten! - Einheit der beiden Testamente her konzipiert. Und ich habe zudem das Ganze geschichtlich angelegt, so sehr sogar, daß mir vorgeworfen wurde, ich hätte mich von der kritischen Forschungsgeschichte, also doch wohl von der historischen Kritik, abhängig gemacht!10 Was unverzichtbar ist für ein geschichtliches Verstehen, das ist doch die Einsicht in die Verflechtung historischer und systematischer Denkweise. Genau das ist es, was die Bedeutung und Bedeutsamkeit des Entwurfs Bultmanns ausmacht. Denn indem er für die Auslegung des NT die Rekonstruktion im Dienste der Interpretation sieht,11 hat er der Exegese den richtigen Weg gewiesen. Ich würde freilich noch einen Schritt weitergehen: Schon die Rekonstruktion ist ohne Interpretation nicht möglich. Doch was schlägt nun B. als sein Prinzip vor? Es ist das der Verästelung eines Baums (5):

"Das hier vorgeschlagene Modell kommt vielmehr dem eines Baumes in manchen Punkten nahe. Die allen gemeinsamen und dabei kennzeichnend christlichen Traditionen sind dem Stamm ähnlich, und für das Folgende sind die Knotenpunkte der Verzweigungen und Verästelungen wichtig. Das Ende der Verästelungen (gewissermaßen die Früchte) bilden die einzelnen frühchristlichen theologischen Entwürfe. Die Knotenpunkte sind tunlichst geographisch zu lokalisieren."

Dieses Programm mittels des Modells eines Baumes ist im Prinzip durchaus akzeptabel, seiner Intention nach sogar noch nicht einmal neu. Alles hängt aber daran, wie es im einzelnen durchgeführt wird. Wenn B. mit dem Parameter von Divergenz und Konvergenz arbeitet, wenn er den Vergleich zwischen einzelnen Theologien als Rückgrat seines Ansatzes sieht - nun, all dem wird man kaum widersprechen können. Und noch einmal- trotz gegenteiliger Behauptung ist das der Sache nach gar nicht so neu. Wenn er Kritik an einer nur an Begriffen orientierten Darstellungsweise übt - gut, an dieser Kritik ist einiges richtig. Auf jeden Fall hat er recht, wenn er seine Theologie nicht an Begriffen orientieren will. Denn urchristliche Theologiegeschichte ist nicht Begriffsgeschichte! Und wenn er z. B. als Überwindung einer einseitigen Begriffsgeschichte in 6 die Gastmähler thematisiert - gut so! (Ob es in den einzelnen Urteilen zutrifft, steht natürlich auf einem anderen Blatt.)

Vielleicht treffe ich mich mit B. in der Intention, daß die theologischen Begriffe im NT eine Wirklichkeit umschreiben wollen, daß sie von solcher Wirklichkeit her denken wollen - freilich: denken auf jeden Fall! Es ist z. B. der von der Wirklichkeit seiner Rechtfertigung her denkende Paulus, der sich theologischer Begriffe bedient und sie z. T. sogar schafft. Aber was ich in diesem Zusammenhang bei B. schmerzlich vermisse, ist die hermeneutische Reflexion, wie eben der von der Christuswirklichkeit her denkende und theologisierende ntl. Autor heute zu einem sprechen kann, der ebenfalls aus seiner theologischen oder religiösen Wirklichkeit existiert. Genau das ist das Desiderat innerhalb der 1-8.

Im Vorwort zur 2. Auflage heißt es, einigen sei die Gliederung des Buches unklar geblieben. Wer jedoch, so meine ich, das Bauprinzip von B.s Theologie aufmerksam zur Kenntnis nimmt, wird vielleicht nicht so sehr von Unklarheit sprechen. Aber eines stimmt: Die Gliederung ist kompliziert. Und sicherlich hätte der Autor in dieser Hinsicht vieles leserfreundlicher machen können. Vor allem wäre eine meines Erachtens durchführbar gewesene Vereinfachung dem Charakter seiner Theologie als Lehrbuch (UTB!) förderlich gewesen. Vielleicht muß man sich auch auf B.s Seite gegenüber jenen stellen, die von ihm das Aufzeigen von geradlinigen Prozessen forderten. Denn die Geschichte der frühen Theologie ist nun einmal unbestreitbar kompliziert, weil das Leben selbst kompliziert und nicht geradlinig ist. Es ist kompliziert, weil es lebendig ist! (In Parenthese aber: Vielleicht ist es doch in einigen Punkten überschaubarer, als B. annimmt). Es ist schon etwas daran, wenn er die Theologiegeschichte des 1. Jh.s eher mit einer Explosion als mit einem "Kopieren von Abwandlungen" vergleicht.

Trotzdem! Zu denen, die beim Lesen seines Buches Schwierigkeiten mit dem in ihm "praktizierten Verständnis von ’Theologie’" haben, gehöre auch ich, wie ich offen gestehe. Ob man einen "Kanon im Kanon" gelten läßt - B. lehnt ihn ab - ’ kann man diskutieren. Freilich, das Kerygma so abwerten, wie B. es tut, das kann ich nicht, wenn ich wirklich Kerygma als Verkündigung begreifen und folglich ein so gefaßtes Kerygma verstehen will.12

B. will Anwalt der Schrift sein, er will ihren Reichtum erschließen. Gut! Er sieht Theologie als das Sich -Einlassen auf das Andere, das Gegenüber der Schrift. Nochmals: Gut! Aber ich sehe nur, daß B.s Theologie des NT uns hermeneutisch im Stich läßt (s. o.). Er will es sicher nicht. Aber vielleicht sind unsere theologischen Intentionen in der Tat so unterschiedlich, daß es mir von meinem theologischen Ansatz her so schwer fällt, den seinen als einen theologischen zu verstehen. Ich habe aus B.s Buch gelernt, wie man anders als Weinel, Bultmann, Conzelmann, Goppelt, Stuhlmacher oder auch ich die Aufgabe einer Theologie bzw. Theologiegeschichte des NT angehen kann. Aber ich gestehe ebenso offen, daß mich dieses Anders-Angehen einer solchen Aufgabe ratlos gemacht hat. Das theologische Denken des Autors und das seines Rez. liegen wohl, wie B. selbst einmal me praesente et coram publico gesagt hat, extrem weit auseinander. Vielleicht müssen wir also wirklich unser jeweiliges theologisches Denken als Ausdruck von zwei extrem auseinander liegenden Positionen "schiedlich-friedlich" nebeneinander stehenlassen. Tun wir’s also!

Fussnoten:

1) Gern wäre ich auch auf seine Darstellung der Theologie des Paulus eingegangen. Aber vielleicht kann ich gerade durch eine als Fragment angelegte Rezension das Grundsätzliche um so klarer herausarbeiten. Der schöne Titel eines Buches von Hans Urs von Balthasar trifft gut meine Intention: Das Ganze als Fragment (Einsiedeln, 2. Aufl. 1990).

2) Die Anführungstriche für "bleibt" von Berger gesetzt.

3) Anführungsstriche jetzt als Zitatkennzeichnung.

4) Im folgenden bedeutet die erste Seitenzahl die der 1. Aufl., die zweite die der 2. Ich nenne auch die Seitenzahlen der 1. Aufl., weil viele Leser nur diese besitzen dürften.

5) Kursive durch mich.

6) Kursive durch mich.

7) H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 3, Göttingen 1995, 125 f.

8) Ib. 200.

9) 3 Bände, Göttingen 1990.1993.1995.

10) So P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, Göttingen 1992, 37.

11) R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., durchgesehen und ergänzt von O. Merk, Tübingen 1984, 600.

12) Auf die Frage nach dem Verhältnis von Kerygma als theologischem Begriff, also einer sprachlich fixierten Wendung, und Kerygma als praktizierter Verkündigung im Sinne des Evangeliums von Röm 1,16 f., gehe ich hier nicht ein.