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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

800 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schwarze, Bernd

Titel/Untertitel:

Die Religion der Rock- und Popmusik. Analysen und Interpretationen.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1997. 279 S. gr.8 = Praktische Theologie heute, 28. Kart. DM 69,-. ISBN 3-17-014840-0.

Rezensent:

Peter Bubmann

"Die Kirche der Gegenwart braucht Grenzgänger..." (258) schreibt Schwarze und rückt damit nicht zuletzt sich und seine Studie ins Licht kirchlicher und theologischer Aufmerksamkeit. Zu Recht, denn mit seiner in Hamburg entstandenen praktisch-theologischen Dissertation ist ihm eine exemplarische und gleichzeitig provozierende Grenzüberschreitung gelungen. Den theologischen Vertretern "hochkultureller Arroganz" (62 u. 88) dürfte diese Studie jedenfalls in den Ohren klingeln. Schlagartig muß ihnen mit der Lektüre dieses Bandes klarwerden, welch riesige weiße Flecken ihre kulturdiagnostischen Landkarten des Religiösen enthalten. Und erschrecken werden sie vielleicht darüber, mit welch unanfechtbarer Selbstverständlichkeit sich da einer aus dem wissenschaftlich-theologischen Nachwuchs in popularkulturellen Lebenswelten bewegt. Die Ohren werden noch aus anderem Grund beansprucht: Das Verstehen dieser theologischen Dissertation erfordert das Hören der analysierten Musik (daher die unentbehrliche Discographie im Anhang). Darin deutet sich schon methodisch eine Wendung hin zur ästhetischen Theologie an, zur Theologie als Wahrnehmung!

Sch. wählt einen narrativ gehaltenen, weitgespannten ersten Zugang zu den Phänomenen der Rock- und Popmusik. In drei "Suchgängen" (1. Kap.) führt der Autor die Leser behutsam in die religionstheoretisch relevanten Phänomene der Rezeption von Rock- und Popmusik ein (das aktive Musizieren von Rock- und Popmusik bleibt in der Studie ausgespart und bedürfte eigener Untersuchungen). Gesteuert sind diese Suchgänge jeweils durch die Frage, inwieweit das Hören von Rock-/Popmusik die Alltagserfahrung prägen bzw. verändern kann und dabei Transzendierungsprozesse anzustoßen vermag.

Als Hintergrundmusik wie als selbstgewählter Klangraum (per Walkman) dient Musik erstens der Alltags-Begleitung und der Inszenierung eigener (Geheimnis-)Welten. Deutlicher religiöse Züge finden sich zweitens da, wo im Starkult und in den Konzert-Ritualen ein spezifischer Kult erkennbar wird (die Analyse dieses Ritualcharakters klammert Sch. aus forschungspragmatischen Gründen aus, vgl. 32 u. 47). Mit dem Leitbegriff der Erzählung kommen drittens die textlichen und musikalischen Bestandteile des popmusikalischen Kommunikationsprozesses näher in den Blick. Die Kategorie der Erzählung, die Sch. den Begriffen "Werk", "Produkt" oder "Ware" vorzieht, wird allerdings weder in einer kommunikationstheoretischen noch semiotischen Rahmentheorie verankert. Dem Autor liegt mehr daran, mittels dieser schwebenden Suchkategorie in Rock- und Popsongs Transzendierungsangebote zu orten: Sprache wie Musik von Rock-/Popsongs thematisieren die Sinnsuche und die Begegnung mit dem unverfügbaren Anderen (häufig in Gestalt des Liebespartners, seltener explizit religiös).

Im 2. Kap. klärt Sch. die theologischen Fronten und unterzieht nach knapper und fairer Darstellung die Entwürfe zu einer theologischen Ästhetik von R. Bohren und A. Grözinger scharfer Kritik. Kultur diene hier lediglich zur Bestätigung einer vorgängig theologisch eruierten Wahrheit. Die engere Verbindung von Religion und Kultur bei P. Tillich weise hingegen - trotz der ontologischen Grundlegung dieser Kulturtheologie - den richtigen Weg. In Auseinandersetzung mit neueren theologischen Würdigungen der Popularkultur durch A. Greeley, J. M. Spencer und R. Tischer erarbeitet sich Sch. einen eigenen undogmatischen Zugang zu den religiösen Phänomenen der Rock- und Popmusik. Sein Ziel ist, diese Musik theologisch zu würdigen (nicht: zu beurteilen, vgl. 100). Um das Gemeinsame der beobachtbaren religiösen Phänomene in der Rock-/Popmusik benennen zu können, schlägt Sch. im 3. Kap. im Anschluß an P. Sloterdijk vor, sie als Elemente einer neuen "Gnosis" zu verstehen. Verschiedene Beobachtungen verleiten ihn zu dieser These: die in den Texten häufig dominierende Sehnsucht nach Erlösung; die Stilisierung von Stars als außerweltliche Erlöserfiguren; der Dualismus von "adventischen" und "nirvanischen" (108) Zügen in der Musik; die Individualisierung des Religiösen und die Re-Inszenierung des Heiligen in der musikalischen Erzählung und im Konzert (vgl. 242 ff.) Diese Wahrnehmungen verbinden sich mit dem Vorschlag, die als Häresie gebrandmarkte Gnosis "theologisch zu rehabilitieren" (111), um die Religiosität der pluralen postmodernen Kulturwelt adäquat begreifen zu können.

Nach einem knappen geschichtlichen Abriß des Verhältnisses von Popmusik und Religion (4. Kap.) analysiert Sch. im 5. Kap. Songs von Sting, Peter Gabriel, Madonna und Prince (wobei das Aussparen von Megastar Michael Jackson wenig überzeugt, vgl. 137). Zusammenfassend diagnostiziert Sch. in der Rock- und Popmusik der achtziger und neunziger Jahre eine "ausgeprägte Religiosität" (241 f.) gnostischer Bauart (vgl. 248).

Ein abschließendes 6. Kapitel bedenkt Konsequenzen für die kirchliche Theologie und Praxis. Sch. plädiert für eine Öffnung der Kulturtheologie und Praktischen Theologie hin zur populären Kultur und warnt gleichzeitig vor einfachen kirchlichen Übernahmen und Funktionalisierungen religionshaltiger Popularkultur.

Die Stärke der Studie liegt in ihren präzisen und sensiblen Wahrnehmungen populärer Songs und Videos (ein Schatz für die Religionspädagogik!). Demgegenüber drohen die theoretischen Horizonte zu verschwimmen. Weder das religionstheoretische Diagnose-Instrumentarium (hier insbesondere der Transzendenzbegriff) noch die Gnosis-These sind ausreichend klar profiliert. So kann der Versuch kaum überzeugen, auch die weltzugewandten und leiborientierten Interpreten Madonna und Prince der Gnosis zuzuordnen. Offenbar ersetzt bei Sch. der Gnosis-Begriff denjenigen der Transzendenzerfahrung. Verloren geht damit weithin die von T. Luckmann vorgeschlagene Differenzierung in kleine, mittlere und große Transzendenzerfahrungen.

Statt die vielfältigen musikreligiösen Phänomene der Popularkultur in das Bett einer einzigen religionsphilosophischen Deutungskategorie zu zwängen, wäre es naheliegender, mit Hilfe eines mehrdimensionalen Religionsbegriffs (etwa im Anschluß an F.-X. Kaufmann) die Vielzahl unterschiedlicher religiöser Phänomene in der populären Kultur wahrzunehmen und zu interpretieren. Vielleicht erübrigte sich dann auch die überzogene Polemik gegen alle kirchliche Apologetik (vgl. 88) und gegen die Forderung einer "Unterscheidung der Geister" (vgl. 51 ff.). Die berechtigte Angst vor allzu rascher dogmatischer Normierung der Kulturwahrnehmung (vgl. 91) sollte jedenfalls nicht dazu führen, auf die prophetische (und dabei immer vorläufig-fehlbare) Unterscheidung von Wahrheit und Traumware, Erlösung und Erlösungssehnsucht zu verzichten.