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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

795–798

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Roosen, Rudolf

Titel/Untertitel:

Die Kirchengemeinde - Sozialsystem im Wandel. Analysen und Anregungen für die Reform der evangelischen Gemeindearbeit.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1997. VI, 644 S. gr.8 = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 9. Lw. DM 248,-. ISBN 3-11-015572-9.

Rezensent:

Herbert Lindner

Die evangelischen Kirchen der Nachkriegszeit leiden an Realitätsferne, ja an einer Bewußtseinsspaltung. Ihre theologischen Konzepte sind deshalb illusionär und überfordernd. Sie bleiben wirkungslos, weil sie von falschen Bildern ausgehen. Dieses Grundübel kann nur behoben werden, wenn der Charakter der evangelischen Landeskirchen als Großorganisationen wahrgenommen und mit Hilfe eines systemtheoretischen Ansatzes verstanden wird. Dann können die Kräfte, die sich jetzt im Erfinden neuer Wirklichkeiten oder in aussichtslosen Aktivitäten verschleißen, wieder frei werden. So läßt sich das zentrale Anliegen der Mainzer Habilitationsschrift von Roosen zusammenfassen. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Ortskirchengemeinde, "weil sie nach wie vor als das schlagende Herz der evangelischen Landeskirchen anzusehen ist" (3).

Im 1. Kapitel wird die Entstehungsgeschichte der typisch protestantischen Religiosität vom 16. bis zum 19. Jahrhundert dargestellt. Vorgegebene und praktizierte Religion klaffen auch im Protestantismus auseinander. Die sich obrigkeitlich gebenden protestantischen Kirchen und ihre Pfarrerschaft konnten kein konstruktives Verständnis für die Religiosität der Mitglieder entwickeln (59). In den Massenkirchgemeinden der wachsenden Industriestädte vergrößert sich die Distanz weiter.

Kirchenpraxis und praktische Theologie reagierten auf diese bedrückende Lage. Im 2. Kapitel der Arbeit werden 100 Jahre Reform evangelischer Gemeindearbeit umfassend und detailreich referiert. Die Geschichte der Mißverständnisse zwischen Kirchenvolk und Pfarrerschaft setzt sich in den Reformdiskussionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts fort. Letztlich ist eine pragmatische Lösung kirchenbestimmend geworden: das Konzept der "evangelischen Gemeindepflege" J. Schoells (82 f.). Das Gemeindehaus enthält das architektonische Programm eines "mitgliedsnahen Vereins- und Dienstleistungschristentums".

Die von Laien getragene Pluralität des Gemeindelebens ist sicher positiv. Dennoch verwundert angesichts der deutlich beschriebenen Stilgrenzen und der immer wieder durchschlagenden Freizeitorientierung dieses Angebots das abschließende positive Urteil einigermaßen, das Gemeindehaus stelle ein "wirklichkeitsgerechtes Konzept volkskirchlicher Gemeindearbeit" dar, "eine praktikable Synthese aus dem theologisch Wünschenswerten und dem volkskirchlich Machbaren" (87).

Schritt für Schritt werden in der Folge die Konzepte der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt, kritisiert und in ihrem Ertrag gewürdigt. Die Spandauer Missionsthesen der VELKD von 1958 leiden ebenso wie ihr Pendant einer "Kirche für andere" an einer verzerrten Wahrnehmung der Volkskirche. Daneben werden Anstöße und Konzeptionen volkskirchlich orientierter Gemeindearbeit vorgestellt: Hugo Schnells "überschaubare Gemeinde" und die vergleichsweise wirkungsarme Konzeption der "gegliederte(n) Gesamtgemeinde" des Raumordnungs- und Strukturausschusses der Evangelischen Gemeinde im Rheinland.

Der von Wolfgang Lück in die Debatte gebrachte Organisationscharakter und die grundsätzliche Dienstorientierung werden positiv gewürdigt. Am Konzept einer Kirchengemeinde als vernetztes System von Herbert Lindner wird vor allem die überfordernde Komplexität des Entwurfs kritisiert und eine größere Nähe zur volkskirchlichen Wirklichkeit eingefordert.

Die EKD-Schrift "Christsein gestalten" wird als konzeptionell undeutlich scharf kritisiert. An die kircheneigenen Studie der Hessischen Kirche "Person und Institution" wird die Frage gestellt, ob die Antwort der Kirche "auf gesellschaftliche Differenzierung tatsächlich analog sein muß und folglich ,innerkirchliche Ausdifferenzierung’ heißen sollte". (165).

In der kritischen Auseinandersetzung mit den vorliegenden Konzepten erarbeitet R. seine eigene Stellungnahme und findet Eckpunkte für die Weiterentwicklung von Theorie und Praxis gemeindlicher Arbeit. Nur kurz - wegen mangelnder Praxisnähe - werden Christoph Bäumler, Rainer Strunk und Christian Möller erwähnt. Kritisch wird auch die Konzeption einer konziliaren Gemeindearbeit bewertet, die sich Anfragen an ihre Hermeneutik und an die zugrundeliegende Verständigungsbereitschaft der beteiligten Partner stellen muß. Als Ergebnis des Durchgangs wird festgehalten, daß die Komplexität des Sozialsystems Kirche nicht genügend wahrgenommen wird und dies wird auf das fehlende Systembewußtsein zurückgeführt. In keinem Konzept findet R. eine Lösung des Problems der chronischen Pfarrerüberlastung.

Im 3. Kapitel werden die systemtheoretischen Grundlagen erarbeitet. Die Erklärungsleistung der Luhmannschen Systemtheorie für den gegenwärtigen Zustand der Volkskirche wird vor allem darin gesehen, die Wechselwirkung zwischen innerer Kohärenz und Systemkomplexität herausgearbeitet zu haben. Vieles, was in einem ahistorischen, theologisch-normativen Denken als Abweichung, Fehler oder Abfall erscheint, läßt sich als durchaus funktionale Antwort auf die geänderte Situation begreifen. Die Schlußfolgerungen aus dem systemtheoretischen Kapitel münden in ein Plädoyer zur Wahrnehmung des Dienstleistungscharakters der Kirchengemeinden (233), um dadurch ihre Stellung bei ihren Mitgliedern und in der Gesellschaft zu stärken.

Im 4. Kapitel wird unter der Überschrift "Systementstehung" der Weg von Gemeinde und Kirche im Neuen Testament nachgezeichnet. Hier taucht zum ersten Mal der Versuch auf, mit Hilfe der Begriffe von ecclesia visibilis und invisibilis die Spannung zwischen dem Reich Gottes und der vorfindlichen Wirklichkeit zu beschreiben.

Kritisch wäre die Frage anzumerken, ob diese systematische Kategorie dem Denken des Neuen Testaments angemessen ist oder ob nicht vielmehr das Neue Testament von einer Dynamik ausgeht, die das Vorhandene durchdringt und in einem sichtbaren, wenn auch gefährdeten und gebrochenen Prozeß hin auf das Reich Gottes verwandelt. So kann denn auch die Gegenübersetzung zweier getrennter Bereiche zwar die Überforderung des einen Bereiches durch den anderen vermeiden, die produktive Spannung aber nicht deutlich genug herausarbeiten. Es bleibt bei der bekannten und entlastenden Aussage, daß es keine normative Form der Kirchengemeinde im Neuen Testament gibt und daß das Christentum weder seine Sozialform noch seine Glaubensinhalte dogmatisiert hat (314).

Im 5. Kapitel werden die systemtheoretischen Erkenntnisse auf die Situation und die Lage der Evangelischen Landeskirchen "als Systeme im Wandel" angewendet. Kirchen sind Teilsysteme einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft. Diese systemtheoretische Verortung von Religion und den dazugehörigen Organisationen der Kirche als gesellschaftliche Teilsysteme begrenzt deren Stellung auf der einen Seite und sichert ihre Bedeutung in einem Funktionszusammenhang einer Gesamtgesellschaft auf der anderen. Diese neue Stellung, die systemtheoretisch so plausibel erklärbar ist, haben die Landeskirchen bislang weder begriffen noch innerlich bejaht. Sie entlasten sich durch eine überholte Säkularisierungsbehauptung und sie interpretieren ihre Teilstellung als Gegnerschaft.

Eine kritische Position gewinnt R. gegenüber Luhmann durch den Rückbezug auf die ecclesia invisibilis. Christliche Kirchen definieren sich nicht über ihre Leistungen in der Gesellschaft, sondern durch ihren Auftrag. - Überraschend wirkt nach dem Vorhergehenden die vorgeschlagene Lösung. Zwar wird die kompromißlose Rückbesinnung abgelehnt, der wünschenswerte Weg aber durchaus in dieser Richtung gesucht: "... so erscheint es doch sinnvoll, dem ungezügelten Wildwuchs durch eine geschickte Auswahl der systemintern verfolgten Prioritäten entgegenzutreten und dadurch den unerwünschten Schaden, soweit wie dies heute überhaupt noch möglich und sinnvoll erscheint, zu begrenzen. Von der Systemtheorie her liegt die Forderung nahe, die maßgebliche Leitdifferenz, die Bindung der sichtbaren Kirche an das Heilige, noch bzw. wieder deutlicher in den Mittelpunkt der landeskirchlichen Aktivitäten zu rücken." (382 kursiv im Original). Dazu müßte es allerdings aktive Eingriffe der Kirchenleitungen geben, zu denen sie im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in der Lage sind, denn sie sind "in ihrem Wollen gespalten, in ihrem Können behindert und in ihrem Dürfen hin- und hergerissen" (397). Die durchaus chancenreiche Organisationsseite evangelischer Volkskirchen wird weder begriffen noch kenntnisreich gesteuert.

Im 6. Kapitel wird die Religiosität der Kirchenmitglieder als "Umwelt der Landeskirche" dargestellt. R. ruft noch einmal ins Bewußtsein, wieweit Kirchenordnungen und Mitgliederfrömmigkeit auseinanderklaffen. "Der weit überwiegende Teil der Kirchenmitglieder glaubt weder das, was die Kirchenordnung voraussetzt, noch tut er, was sie erwartet" (421).

In der Darstellung von Religiosität und Kirchlichkeit gelingt R. eine komprimierte, die bedrohliche Lage sorgfältig beschreibende und weiterführende Darstellung. Die Ablösung eines personalen Gottesverständnisses durch ein "dynamistisches Gottesverständnis" wird anhand von Umfragedaten eindrucksvoll aufgezeigt. Ein "irgendwie" mit weithin austauschbarer Begrifflichkeit bestimmt das inhaltliche Feld des Glaubens. Das geringe religiöse Sachwissen fordert die Theologen auf "vom Olymp ihrer Fachdiskurse herabzusteigen" und sich um elementare Glaubensvermittlung zu bemühen. Im Angebotsspektrum hat sich das Gemeindehaus im Bewußtsein der Gesamtbevölkerung verankert. Das Angebot von Geselligkeit wird "nicht begrüßt, weil man es selbst nutzen möchte, sondern weil man es für ,die anderen’gut findet" (444).

Das Bild bleibt paradox. Glaubensinhalte sind erodiert, Partizipation reduziert und das Verhältnis zur Institution Kirche ist distanziert und dennoch gibt es ein konsensfähiges Bild von Kirche in dem sich "unbestreitbar christliches Urgestein" zeigt (453). Wieviel Religion braucht der Mensch? "Er braucht wenig Religion, aber ernsthafte und erkennbare Religion" (454).

Der Abschied von überholten Säkularisierungsthesen und Verfolgungsvorstellungen ("alle sind sie gegen uns") macht den Weg frei zur Erkenntnis, daß der gegenwärtige Zustand von Glaube und Kirchlichkeit im Protestantismus die Folge des eigenen Handelns ist. Mitglieder verhalten sich eben logisch, wenn sie ihre Kirchenmitgliedschaft als entlastende Institutionalisierung der religiösen Frage verstehen. "Wer heiraten möchte, muß nicht unbedingt alles über Jesus Christus wissen, es reicht aus, wenn er die Telefonnummer seiner Pfarrerin kennt" (487).

Das Schlußkapitel "Die Kirchengemeinde im Wandel" bündelt die Spannungen, unter denen die Kirchengemeinde heute steht. Auf die weithin ungeklärte Situation reagiert das ortsgemeindliche System durch die Ausbildung informaler Ordnungen und struktureller Ventilsitten, die das Gesamtsystem lebbar machen, seine Leistungsfähigkeit aber keineswegs erhöhen.

Auf 17 Seiten legt R. einen Vorschlag für die konzeptionelle Neuordnung der parochialen Gemeindearbeit vor. "Auf Detailerwägungen oder gar Projektvorschläge für die Gemeindearbeit von morgen wird verzichtet. Die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen können den Innovations- und Handlungsbedarf, der jeweils am Ort besteht, allemal zuverlässiger und kompetenter erkennen als jeder Theoretiker es vom grünen Tisch her könnte" (598). "Berufenere Instanzen" in den Landeskirchen sollen diese Skizze mit Leben erfüllen.

R. schlägt vor, Pfarrer und Pfarrerinnen auf die Arbeit als Theologe und Theologin zu konzentrieren, um deutlich mehr Zeit für Primärkontakte zu allen Gemeindegliedern zu haben. Ihr Ziel ist die geistliche Begleitung der Gemeindemitglieder. Ihre Arbeitsfelder sind Gottesdienst, Unterricht, Seelsorge und Betreuung, eventuell Öffentlichkeitsarbeit (603). Durch Professionalisierung auf diesem Gebiet kann Entlastung und Gelassenheit sich einstellen. Den Differenzierungswünschen der Gemeindeglieder dient die Einrichtung von Personalkirchengemeinden, deren Probleme nicht weiter diskutiert werden.

Ehrenamtliche leiten die Ortskirchengemeinde. Sie übernehmen die Aufgaben der Leitung der Gremien, der Gemeindeverwaltung mit Mittelverwendung, des Immobilien- und Personaleinsatzes, der Mitarbeiterführung, der Gemeindediakonie, der Strukturentscheidungen und der Profilentwicklung der Gemeindehausarbeit. So wird von den ehrenamtlich tätigen Mitarbeitenden die Gemeindehausarbeit und das Gemeindeleben selbständig entwickelt, "das sichtbare Gemeindeleben wird in Laienhand zurückgelegt", dorthin also, wo es zu Beginn des 20. Jh.s schon einmal war (610). So wird den pluralen Begabungen der Gemeindeglieder ein Entfaltungsraum geboten und die Gemeindearbeit wird mitgliederorientiert. Eine Leitungs- oder gar Weisungskompetenz von Parochialpfarrerinnen und -pfarrern besteht nicht.

Unterwirft man die vorgelegten Lösungsansätze den Kriterien, die die Arbeit selbst auf den vorhergehenden Seiten aufgestellt hat, können Zweifel nicht unterdrückt werden. Wie sollen Ehrenamtliche alleine der Steuerung so komplizierter Sozialsysteme wie es Kirchengemeinden zur Zeit sind, gewachsen sein? Ohne Mitwirkung von hauptberuflicher Professionalität ist dies nicht zu leisten. Verstärkung des (persönlichen?) Kontakts in Konzentration auf die spirituell-theologischen Aufgaben von Pfarrerinnen und Pfarrern ist ein begrüßenswerter Schritt. Deswegen kann der Vorschlag auch nur unterstützt werden, daß in vielen Bereichen des Gemeindehauses nur das geschieht, was von Gemeindegliedern übernommen wird. Daß sie aber dafür verständnisvoll fördernde Bedingungen und einen klaren Rahmen brauchen, auch um die Verbindung zu den so wichtigen theologischen Themen herzustellen, wird von R. übersehen. Dies erfordert aber Professionalität in der Leitung.

Ein breites, manchmal fast zu breites Werk liegt vor, das materialreich die Diskussion darstellt und eine Vielzahl gegenwärtiger Probleme bis zu ihren historischen Wurzeln zurückverfolgt. Ein nüchterner Blick für das Leistbare leitet das Urteil über die bisher eingebrachten Vorschläge und Konzeptentwürfe. Zuweilen ist das systemtheoretische Korsett von Luhmann erkennbar eng und führt zu einer komplizierten Ausdrucksweise, deren Ertrag angesichts des Aufwands nicht immer deutlich wird. In der Skizze der Mitgliederreligiosität gelingt eine weiterführende Darstellung, die den ganzen Ernst der Lage vor Augen stellt. - Die Reformbemühungen der Kirchenpraxis auf allen Ebenen hätten wohl noch deutlicher herausgearbeitet werden können. Damit wird die Frage aber noch drängender, warum so viel guter Wille so erfolglos geblieben ist. Auf dem Hintergrund der langjährigen Erfahrung des Vf.s als Gemeindepfarrer wären vielleicht doch weiterführende Impulse für die Kirchenpraxis im beschriebenen Problemhorizont möglich gewesen. Das große Fragezeichen über der Zukunft evangelischer Landeskirchen vermag die Arbeit nicht zu verkleinern, für die Bewältigung dieser Aufgabe leistet sie aber einen wichtigen analytischen Beitrag.