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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

380–384

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Domínguez Reboiras, Fernando

Titel/Untertitel:

Gaspar de Grajal (1530-1575). Frühneuzeitliche Bibelwissenschaft im Streit mit Universität und Inquisition.

Verlag:

Münster: Aschendorf 1998. LIV, 744 S. gr. 8 = Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 140. Kart. DM 194,-. ISBN 3-402-03804-8.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Gegenstand dieser Freiburger kirchengeschichtlichen Dissertation ist die Gestalt des Professors für Bibelwissenschaft an der Universität Salamanca von 1560-1572 Gaspar de Grajal, der gegen ihn von der Inquisition geführte Prozeß, der zwar posthum mit einem Freispruch endete, aber den Tod des Beschuldigten im Gefängnis zur Folge hatte, sowie das gesamte sozio-kulturelle Umfeld in Kastilien zur Zeit der Gegenreformation unter der Herrschaft Philipp II. (regierte 1555-1598). Der wenig bekannte Grajal (von ihm ist nur ein einziger gedruckter Bibelkommentar, über das Michabuch, erhalten) und der gegen ihn geführte Prozeß sind mit Geschick zum Thema gewählt worden, weil sich an seinem Schicksal in besonders anschaulicher Weise die in Mitteleuropa weitgehend unbekannten Verhältnisse im damaligen Spanien und insbesondere die Situation eines zur Gruppe der Conversos (seit 1492, dem Jahr der Judenvertreibung, zum Christentum übergetretenen ehemaligen Juden oder "Neuchristen" und ihren Nachkommen) gehörigen Bibelphilologen aufzeigen lassen.

Der Vf. zeigt in diesem Werk nicht nur biographisches Interesse am Schicksal seines Helden. Vielmehr macht er im Rahmen eines breit angelegten Lebenslaufs immer wieder halt und beleuchtet die Umgebung, wobei sich sozialgeschichtliche, theologiegeschichtliche und hispanistisch-geistesgeschichtliche Interessen ergänzen.

Nach einem einleitenden Abschnitt (1-45) über die spanische Bibelphilologie im 16. Jh. und deren Vertreter an der Universität Salamanca, die sogenannten "Hebraisten" (hier werden die drei Bibelprofessoren Gaspar de Grajal, Martín Martínez de Cantalapiedra und der [als Dichter am bekannteste] Fray Luis de León vorgestellt) beginnt D. mit der Vita Grajals (Abschn. 2, 46-135). Wir lernen die Familie Grajal in Villalón kennen, wohlhabende Kaufleute und Conversos und deren Bemühungen, durch gefälschte Ahnennachweise ihr "reines Blut" als angebliche Nachkommen altkastilischer Adelsgeschlechter nachzuweisen. Der Zweck ist nicht nur, den für konvertierte Juden und ihre Nachkommen nach wie vor bestehenden Karrierebeschränkungen zu entkommen, sondern ausschlaggebend sind vor allem wirtschaftliche Gründe: Man möchte aus dem Kreis der steuerpflichtigen pecheros zu dem der steuerfreien hidalgos überwechseln. Die Informationen über diese Vorgänge entnimmt D. den Akten der entsprechenden Hidalgo-Verhandlungen und für Grajal persönlich den Prozeßakten der Inquisition, in denen die Selbstauskünfte Grajals bei seiner ersten Vernehmung wiedergegeben sind. Grajals Position ist insofern eine besondere, als er seine Abstammung aus einer jüdischen Familie stolz bejahte (79). Ein ausführlicher Unterabschnitt (2.2) schildert das soziale Milieu: Die damalige Messestadt Villalón de Campos, in der Gaspar 1530 geboren wird und aufwächst, den lebhaften Handel dort, die Grajal, ihre Aktivitäten als Kaufleute und ihr Vermögen. Gaspar de Grajal - für Kaufmannssöhne typisch - als Weltkleriker (da die meisten Orden, außer den Hieronymiten [vgl. 20], einen Converso selten aufnahmen). 2.2.3 behandelt die Schulzeit in Villalón, danach in Medina de Rioseco. Abschnitt 3.1 (136-259) über seine Studium in Salamanca (1545-1554) bietet Gelegenheit zu ausführlichen Betrachtungen über die Verhältnisse an der dortigen Universität um 1550. Wir hören über ihre Struktur, die Studentenschaft, deren niedriges Niveau (die meisten sind juristische Karrierestudenten, die Universität ist "säkularisiert"), ihre soziale Spaltung in exklusive Kollegbewohner und ärmliche "Mantelträger" (manteistas). Grajals Studium in der Artistenfakultät (1545-1549) eröffnet Einblicke in die Lage dort: Eine im Vergleich mit dem übrigen Europa erschreckend geringe Lateinkenntnis, positive Wirkungen des Humanisten Antonio de Nebrija, des gelehrten Altphilologen Fernando (Hernán) Núñez, des Hebraisten Martín Martínez, aber negative León de Castros, Fehlschlag eines nach dem Muster anderer Universitäten geplanten Collegium Trilingue. Im ganzen eine äußerst geringe Wertung der Philologie bei auch dürftigster Besoldung der entsprechenden Dozenten. Auch die Naturwissenschaften werden erwähnt (201-206). Manches erinnert an parallele Vorgänge im übrigen Europa: der Kampf zwischen realistischer (aristotelischer oder scotistischer) und nominalistischer Philosophie, die starke Betonung des Logikstudiums in den ersten Studienjahren.

Im Zusammenhang mit Grajals Theologiestudium (1549-1558; 3.1.3) erfahren wir einiges über das Theologiestudium in Spanien überhaupt. Die (vorübergehende) antispekulative Reformwirkung der von dem Franziskanerkardinal Ximénes de Cisneros (1436-1517), dem Initiator der Complutense, 1509 neugegründeten Universität Alcalá konnte sich in den festgefügten Strukturen der theologischen Ausbildung in Salamanca und anderorts nicht durchsetzen. D. sieht in dem totalen Rückzug der Franziskaner von den Universitäten und der daraus folgenden Dominanz der Dominikaner (die von ihrem Konvent San Esteban aus für die Theologenausbildung in Salamanca ein Monopol beanspruchten) die Ursache "für die spanische Kulturgeschichte schwerwiegende(r) Folgen" (236).

Die von den Dominikanern selbst ausgehende Reform des scholastischen Studiums schien durch die unbestrittene Autorität des auch für humanistische Anliegen offenen Thomisten Francisco de Vitoria (1546) auch in Salamanca Platz zu greifen. Diese kurze Blüte fand spätestens mit dem Bücherindex der Inquisition von 1559 ihr Ende und wich einer starren Ablehnung jeglichen philologischen Bibelstudiums durch die dominikanischen Scholastiker. Die Folge: "Gerade in der Entwicklung der Theologie haben sich die Universitäten Spaniens völlig abgemeldet" (158). Als Grajal in Salamanca sein Studium begann - wir lernen auch seine theologischen Lehrer kennen - herrschte dort noch größere Offenheit. D. zeigt im folgenden auf, wie sich schon zur Studienzeit Grajals mit Domingo de Soto (1494-1560, seit 1532 in Salamanca, 1552 erster Professor) die Verhältnisse zu ändern begannen, welche aber erst später die verhängnisvolle Zuspitzung erreichten, die Grajal schließlich das Leben kosteten. Die von de Soto vorgenommene Gleichsetzung von Spracherlernung mit Häresie und von Scholastik mit Rechtgläubigkeit (250 f.) charakteristiert den Wandel.

Der Studienaufenthalt Grajals in Löwen (seit 1555; 3.2.1-2) bietet Gelegenheit zu ausführlichen Schilderungen der dortigen Universität, der Theologischen Fakultät und ihrer Professoren (260-358). Noch war Spaniern ein Auslandsstudium erlaubt - vor dem Verbot in der "Pragmática" Philipps II. 1559, der D. mit anderen reaktionären Maßnahmen des Königs eine "große Bedeutung im Hinblick auf die kulturelle Dekadenz Spaniens" beimißt (263). Wo seine Sympathien liegen - bei den humanistischen Bibelstudien - zeigt die Schilderung Löwens, wo die Bibelexegese (trotz der antilutherischen Kontroverstheologie und des Streites um Michael Baius [de Bay; 1513-1589]) damals noch theologische Hauptaufgabe [geblieben!] war (278, vgl. 304 f.). Später wurde auch Löwen gegenreformatorisch gleichgeschaltet (280). Aber auch über die Spanier in Löwen wird ausführlich berichtet (328-358), mit vielen interessanten Informationen. Der anschließende Aufenthalt Grajals in Paris 1557/58 (3.2.3) führt wieder zu Reflexionen über das Verhältnis zu dem im Verhörprotokoll von Grajal erwähnten Petrus Ramus und dem Ramismus sowie Spekulationen über mögliche Einflüsse der Pariser Bibelphilologie und des Collège Royal auf Grajal (358-377).

Der vierte Hauptabschnitt (378-479) ist der Tätigkeit Grajals als Professor in Salamanca (1560-1572) gewidmet. Wir hören von Ausschreibung und Bewerbung, der Wahl (durch die Studenten (!), auch mit Verdacht auf Stimmenkauf), dem Erwerb von Lizentiat und Magisterium, der Zusammenarbeit mit dem Hebräischlehrstuhl (besetzt durch Martín Martínez de Catalapiedra), sein Vorlesungsprogramm und seine Vorlesungsweise (schneller als das langsame Diktieren der meisten Kollegen). Besonders aber: "Grajal ist eigentlich der erste Professor in Salamanca für Bibelexegese im modernen Sinne des Wortes ... Er kommentierte den Schrifttext so, daß er ihn nicht in erster Linie dazu benutzte, um theologische Lehren zu illustrieren oder zu belegen, sondern nur den Wortlaut erklärte ..." (410). Dabei wird aber nach Festlegung des Textes auch auf Kirchenväter und neuere Kommentare zurückgegriffen (418). Dazu diente auch die umfangreiche Privatbibliothek Grajals, die M. zu rekonstruieren versucht (4.3.4.2; 422-438). Der 1570 gedruckte Micha-Kommentar (weitere kamen nicht mehr zum Druck) bietet ein Beispiel für das Bestreben ("als Grundsatz moderner Exegese", 450), eine Pluralität von Interpretationen zu ermöglichen (4.4.1.1.; 440-453).

Im fünften Hauptabschnitt "Grajal vor der Inquisition" (480-723) erfahren wir erschütternde Einzelheiten über das zugleich bis ins letzte bürokratisierte und von Juristen (theologischen Laien) verwaltete, wie auch von den Dominikanern von San Esteban als "Ausdruck des extremen Eifers einer intoleranten thomistischen Orthodoxie" (519) mit grundsätzlicher Ablehnung jeder (als erasmianisch verdächtigten) philologischen Bibeltheologie, aber auch zur Erhaltung der eigenen Privilegien gegen deren drei Professoren (Grajal, Martínez und Fray Luis de León) angestiftete und mit äußerster Menschenverachtung betriebene Verfahren. Ziel ist die Beseitigung freier Bibelforschung überhaupt und die alleinige Durchsetzung des thomistisch-scholastischen Lehrbetriebs als antihäretisches Instrument. D. will den Fall außerdem in den Zwiespalt zwischen der altchristlichen Mehrheit und der neuchristlichen Minderheit einordnen (82).

Hauptanstifter ist Fray Bartolomé de Medina (1527-1580; vgl. 520-550), unerbittlicher Gegner aller Neuerungen als Vertreter thomistischer Traditionsdogmatik. Außer ihm wird noch Fray Domingo Bañes de Artazubiaga (1528-1604) wichtig (561-597), der ebenfalls - bei großem Wissen- nur seine Vorgänger in der Absolutheit der thomistischen Lehre repristiniert und zu einem intoleranten Hauptverfolger Grajals im Inquisitionsprozeß wird. Durch ihn tritt "die verheerende Unterscheidung [besser: Entgegensetzung] zwischen den christlichen Wahrheiten, die in der Schrift, und jenen, die in der Tradition begründet sind" (575) in den Vordergrund, zur Sicherung der "sakramental-klerikalen Strukturen der Kirche" (ebd.). Für Außenstehende ist freilich schwer zu beurteilen, wieweit moderner spanischer Antiklerikalismus bei diesem Urteil mitwirkt. Die Theologie wird bei Bañes zu einem bloßen Wiederholen vorgegebener Stoffe. Ein soziologischer, vom Vf. dazu geltend gemachter Aspekt ist der Gegensatz zwischen einem Hidalgo-Theologen, der an vorgegebenen Wissensstoffen unkritisch festhält, und einem humanistischen Forscher wie Grajal, dem Theologie harte Arbeit bedeutet (vgl. 99-105.121). Schließlich ist noch als ein Zeuge der Anklage León de Castro (ca. 1510-1589) zu nennen (186-190.609-672), Gräzist und langjähriger Grammatikprofessor mit spät verwirklichtem theologischem Ehrgeiz, der mit der Verteidigung der "zwei Vulgaten" (der Septuaginta und der Übersetzung des Hieronymus) als authentischer Bibelversionen eine Ablehnung des hebräischen Textes und eine scharfe Polemik gegen alles Jüdische und die christlichen Hebraisten verband.

Am Schluß (Abschnitt 5; 701-723) hören wir noch von dem 1572 begonnenen jahrelangen Prozeß, in dessen Verlauf Grajal wegen verweigerter medizinischer Behandlung vorzeitig starb, der aber mit dem schließlichen, für Grajal postumen, Freispruch aller drei Angeklagten endete.

Das Werk ist eine, besonders auch für eine Dissertation, enorm materialreiche Untersuchung. Das gilt trotz einiger vermeidbarer Wiederholungen (meist bei Aspekten, die dem Vf. besonders wichtig sind) und auch einiger vielleicht unbewiesenen Vermutungen (vgl. z. B. 133). Das patriotisch-persönliche Engagement ist unübersehbar: ein tiefes Bedauern über die Entwicklung im Spanien der Inquisition, durch die dieses Land trotz einer kurzen Blüte der Bibelwissenschaft (der die Fertigstellung der großartigen Complutenser Bibelpolyglotte und großenteils die Antwerpener Polyglotte zu danken ist) den Anschluß an die Entwicklung der modernen Bibelwissenschaft verpaßt hat und statt dessen einem starren theologischen Traditionalismus verfiel. Der Vf. meint grundsätzlicher: "Diese Abwertung der Philologie [als bloße Propädeutik] hat verheerende Folgen für die Entwicklung der spanischen Kultur" (15, A. 39). Wir kennen die erst in diesem Jahrhundert in der katholischen Exegese - über Spanien hinaus - überwundenen Konsequenzen, die jetzt allerdings einer großen ökumenischen Offenheit in der Bibelwissenschaft Platz gemacht haben. Freilich ringt diese heute um so mehr um eine hermeneutische Orientierung, für die theologische und nichttheologische Ansätze miteinander konkurrieren. Der Vf. läßt selbst durchblicken: War die Angst der Traditionalisten vor einem Verlust der dogmatischen Substanz angesichts einer "freien" Bibelexegese ganz unverständlich- auch wenn allzu menschliche Machtinteressen und Eifersucht bei der Verfolgung Andersdenkender eine tragische Rolle spielten? Und wie sollen wir als Christen in der heutigen Situation damit fertigwerden, wo Gewalt als letzte Instanz in Glaubensfragen zwar mancherorts eine traurige Aktualität besitzt, aber im westlichen Pluralismus Gott sei Dank seit langem unvertretbar erscheint? Das Verhältnis zwischen Bibelexegese und Theologie bedarf auch heute weiteren Nachdenkens.

So schließen wir den Band nach Empfang reichlicher Information und ebenso reichlichen Anregungen zur weiteren Reflexion der hinter den auf diese Weise lebendig gewordenen Ereignissen einer fernen Vergangenheit stehenden Grundprobleme.

Obwohl die Arbeit meist in gutem Deutsch verfaßt ist, müssen einige sinnentstellende Fehler korrigiert werden: S. 21, Z. 13: lies "ausschließlichen". S. 25, Z. 12: "historisch-kritischen". S.143, A. 28: "im Jahre 1523". S. 191, A. 166: "am Unwillen... Lehrstuhl nicht einzurichten".