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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

786 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kühn, Ulrich, Markert, Michael u. Matthias Petzoldt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Christlicher Wahrheitsanspruch zwischen Fundamentalismus und Pluralität. Texte der Theologischen Tage 1996.

Verlag:

Leipzig: Ev. Verlagsanstalt 1998. 168 S. 8. ISBN 3-374-01667-7.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Alle zwei Jahre veranstaltet die Theologische Fakultät der Universität Leipzig Theologische Tage. Der vorliegende Band dokumentiert die Vorträge und Workshops der Theologischen Tage 1996, die unter dem Thema "Christlicher Wahrheitsanspruch zwischen Fundamentalismus und Pluralität" standen. Matthias Petzoldt führt in das Thema ein (8-15). Ausgehend von Elementen der funktionalen Systemtheorie Luhmanns zeigt er, daß die Wahrheitsfähigkeit des christlichen Glaubens unter modernen Bedingungen grundsätzlich zur Disposition steht, jeder im Namen des Glaubens erhobene Wahrheitsanspruch daher eo ipso in Verdacht steht, fundamentalistisch zu sein. Ein bloßer Antifundamentalismus wäre demnach theologisch unzureichend. Andererseits muß der christliche Wahrheitsanspruch der unhintergehbaren Pluralität des Christentums wie derjenigen der Moderne Rechnung tragen, wobei Petzold zwischen Pluralität und relativistischem Pluralismus unterscheidet. Inwiefern sich nun der christliche Wahrheitsanspruch zwischen Fundamentalismus und Pluralität bewegt bzw. für welche Differenzierungsleistungen die Kategorie des Zwischen steht, ist die in den Hauptvorträgen weiterverfolgte Frage.

Kurt Nowak lenkt den Blick zurück in die Anfänge der Moderne, genauer gesagt in die Übergangszeit des 17. Jh.s, das er probeweise unter Verwendung einer bekannten Terminologie von E. Troeltsch als "Zeitalter des Vielspältigen" charakterisiert (16-40). "Im Gegensatz zur Vielfalt (oder auch zum Zwiespalt) läßt das Vielspältige einen gemeinsamen, freilich allmächlich verblassenden Hintergrund des Auseinanderstrebens erkennen" (17). Es zweigt sich nach Nowaks Darstellung im Verlauf des 17. Jh.s zur Vielfalt aus, "in eine durch Homogenitätsvisionen nicht mehr einholbare Pluralität" (37), wie sie auch unsere Gegenwart charakterisiert.

Friedrich Schweitzer fragt in seinem Beitrag, inwiefern der Fundamentalismus nur ein Risiko oder möglicherweise auch eine Chance der religiösen Entwicklung sein kann (41-58). Zum einen wendet er sich gegen eine "Fundaphobie", welche ein praktisch-theologisches und religionspädagogisches Handeln eher verhindert als fördert (42). Zum anderen wendet er sich entschieden gegen entwicklungspsychologische Theorien, welche die Religion des Kindes zum Fundamentalismus von Erwachsenen in Beziehung setzen (49 ff.). Keineswegs geht es Schweitzer um eine theologische Rechtfertigung des Fundamentalismus, wohl aber um seine offene Wahrnehmung anstelle bloßer Verdikte.

Eduard Berger, seit 1991 Bischof der Pommerschen Ev. Kirche, legt in seinem sehr persönlich gehaltenen Beitrag sein Verständnis von kirchenleitendem Handeln "im Spannungsfeld von kirchlichem Bekenntnis und gesellschaftlicher Pluralität" dar. In einer Demokratie tut die Kirche seiner Ansicht nach gut daran, sich derart auf das Fundamentale zu besinnen, daß sie sich sorgsam auf die Verkündigung ihrer zentralen Glaubenslehren, die Feier einfacher und nachvollziehbarer Gottesdienste beschränkt und kritisch-konstruktiv mit menschlichen Schwächen umgeht (68).

Theo Sundermeier entwickelt einen Begriff christlicher Identität im Kontext der Vielfalt der Konfessionen und Religionen (70-86). Im Anschluß an den Ägyptologen Jan Assmann unterscheidet Sundermeier zwischen Stil und Kanon einer Religion und stellt äußerst anregende Überlegungen zu den Konfessionen als divergierenden Makrostilen des Christentums an, die sich demselben Kanon verpflichtet wissen und - gerade im Protestantismus- die Ausbildung weiterer Mikrostile ermöglichen.

Der Wahrheitsbegriff steht im Zentrum des systematisch-theologischen Beitrags von Christoph Schwöbel (87-118). An die Stelle des Säkularisierungsparadigmas setzt Schwöbel das Konzept des unhintergehbaren religiös-weltanschaulichen Pluralismus. Dieses mache die Wahrheitsfrage jedoch keineswegs obsolet. Was unter Wahrheit verstanden wird, entscheide sich allerdings am jeweils leitenden Wirklichkeitsverständnis. Das Christentum vertrete daher keinen anderen Wahrheitsbegriff als seine Umwelt, lokalisiere diesen aber in einem genuinen Wirklichkeitsverständnis, welches durch das unbedingte existenzbestimmende Vertrauen auf Gott bestimmt sei (113 f.).

Die weiteren Beiträge vermitteln einen Eindruck von den Workshops. John Wilkinson gibt Einblicke in die Realität des christlichen Pluralismus in der multikulturellen Stadt Birmingham (119-132). Margot Käßmann erläutert die Ekklesiologie des Deutschen Evangelischen Kirchentages als der heutigen Marktgesellschaft adäquate Gestalt des Protestantismus (133-140).

Wolfgang J. Bittner (141-148) und Christoph Kähler (149-158) führen einen Disput über die Ansätze historisch-kritischer und fundamentalistischer bzw. evangelikaler Exegese. Andreas Horn untersucht die Wirklichkeit heutiger Pluralität sowie fundamentalistische Tendenzen in der kirchlichen Jugendarbeit (159-166). In seinem Schlußwort (167-168) plädiert Ulrich Kühn für eine Weise christlicher Wahrheitsbezeugung, welche einen offenen Blick für "Bündnispartner auf dem Weg der Wahrheit" hat, "auch wenn sie außerhalb des christlichen Bereichs anzutreffen sind" (168). Entstanden ist eine anregende und lesenswerte Anthologie, deren eigene "Vielspältigkeit" die Unaufgebbarkeit des christlichen Wahrheitsanspruches ebenso wie die unhintergehbare Pluralität des christlichen Wahrheitszeugnisses verdeutlicht. Als Zugabe hätte man sich einen Autorenspiegel gewünscht.