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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

781–785

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Mendelssohn, Moses

Titel/Untertitel:

(1)Rezensionsartikel in Allgemeine deutsche Bibliothek (1765-1784). Literarische Fragmente. Bearb. von E. J. Engel.
(2)Dokumente I. Entlegene zeitgenössische Texte zu Moses Mendelssohns Leben und Wirken. Bearb. von M. Albrecht.
(3)Porträts und Bilddokumente. Bearb. von G. Porstmann.

Verlag:

(1)Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1991. LXIX, 327 S. 8 = Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, 5,2. Lw. DM 204,-. ISBN 3-7728-1011-X.
(2)Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1995. XVI, 374 S. 8 = Gesammelte Schriften. Jubiliäumsausgabe, 22. ISBN 3-7728-1519-7.
(3)Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1997. IX, 401 S. m. 148 Abb. gr.8 = Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, 24. Lw. DM 145,-. ISBN 3-7728-1521-9.

Rezensent:

Harald Schultze

Leider kann erst jetzt die Anzeige über drei weitere Bände der Gesamtausgabe der Schriften von Moses Mendelssohn erfolgen. Schon längst hätten sie vorliegen sollen.

Mit Band 5.2 setzt die Bearbeiterin Eva J. Engel das große Unternehmen fort, den Anteil Moses Mendelssohns zur literarischen und philosophischen Diskussion seit 1756 durch eine umfassende Edition und Kommentierung für die wissenschaftliche Arbeit verfügbar zu machen: Band 4 der Gesamtausgabe enthält Mendelssohns Rezensionsartikel in der "Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste" (1756-1759); Band 5.1 brachte Mendelssohns Beiträge in den "Briefen, die neueste Literatur betreffend" (1759-1765; vgl. die Rezension ThLZ 118, 1993, 764-766). Band 5.2 präsentiert nun Mendelssohns Rezensionsartikel in der von Friedrich Nicolai herausgegebenen Allgemeinen deutschen Bibliothek (AdB). Die Bedeutung der AdB für die Programmatik nicht nur der Berliner Aufklärung, sondern für die Aufklärung in Deutschland überhaupt kann schwerlich überschätzt werden. Um so interessanter ist es, den Anteil Mendelssohns an diesem Werk zu bestimmen. Die Ausgabe der gesammelten Schriften, die Georg Benjamin Mendelssohn 1844 besorgt hatte, enthielt in Band 4.2 eine sparsame Auswahl von Rezensionsartikeln aus den Jahren 1766-1775. Eva J. Engel ist überzeugt, daß der Anteil Mendelssohns an der AdB wesentlich umfangreicher ist; seine Mitwirkung reiche bis zum Jahr 1784.

In der ausführlichen Einleitung gibt die Herausgeberin Rechenschaft über die Kriterien ihrer Entscheidung. Die Frage nach der Identifikation der Rezensenten ist so alt wie die Allgemeine deutsche Bibliothek selbst. Das Prinzip, Rezensionen anonym zu veröffentlichen, galt im 18. Jh. allgemein. Friedrich Nicolai hat sich an dieses Prinzip so streng gehalten, daß er selbst befreundeten Autoren nicht verraten hat, von wem andere Artikel stammen. Der Code, der die Signierung der einzelnen Rezensenten entschlüsselte, ist verloren. Einzelne Zuschreibungen sind inzwischen gesichert. Der umfangreiche Briefwechsel Nicolais mit seinen Autoren gibt wesentliche Aufschlüsse. Trotzdem bleiben offenbar Unsicherheiten. Wie spannend diese Frage sein kann, wird in der ausführlichen Erläuterung über die Rezension zu Karl-Wilhelm Ramlers Oden (AdB 1768; hier Nr. 14, 83-101; Einleitung LVII-LXIII) erkennbar:

Johann Gottfried Herder war die Rezension übertragen worden; Nicolai hatte Bedenken, sie in der von Herder vorgelegten Form abzudrucken und übertrug Mendelssohn die Überarbeitung - die über eine redaktionelle Bearbeitung entscheidend hinausging. Insgesamt ein heikler Vorgang, der vielleicht durch unmittelbare Rücksichtnahme auf den Berliner Dichter Ramler geboten schien. Während in der Suphanschen Herder-Ausgabe Band 4 noch mit einem größeren Anteil Herders gerechnet wird, kann Eva J. Engel auf Grund des Briefwechsels den Anteil Mendelssohns nachweisen. Trotz solcher Forschungsergebnisse ist sich die Hgn. des Risikos bewußt: "Keineswegs darf man den Siglen 100%igen Wahrheitswert zusprechen. ... Der Bearbeiter bleibt sich hierbei seiner Fehlbarkeit bewußt" (XXXXIV). Zweifel entstehen z. B. bei der Zuschreibung der Rezension zu Herders Traktat "Über Abbts Schriften" (AdB 1770; hier: 141-145). Die Rezension schließt mit der Ermunterung "Studieret die Alten, die besten Engländer, die besten Franzosen, und von den unsrigen, Spalding und Mendelssohn". Sollte Mendelssohn sich wirklich selbst in dieser Weise dem Publikum empfohlen haben?

Eine kritische Diskussion über solche Editionsentscheidungen wird aber erst möglich sein, wenn der versprochene Kommentarband 5.3 der Jubiläumsausgabe erschienen ist. Ohne dessen Nachweise und Begründungen bleiben Unsicherheiten

Unklar ist auch das Editionsprinzip zur Auswahl der "literarischen Fragmente" (1761-1784; 283-321). Es handelt sich um Einzeltexte, die ihrer Struktur nach eigentlich in Band 6.2 der Jubiläumsausgabe gehört hätten und nun nachgeliefert werden. Eine epigrammatische Huldigung auf Fanny Artestein (321) entstammt einem Konzeptheft des Sohns Josef Mendelssohn, das in Band 21 der Jubiläumsausgabe erscheinen soll. Die Hinzufügung dieser Fragmente hat also Supplementcharakter, der sich aus den langen Erscheinungsfristen der Jubiläumsausgabe erklärt. Da die Forschung immer wieder neue Funde ermöglicht, sind solche Nachträge unverzichtbar. Freilich wird damit eine gewisse Unübersichtlichkeit in Kauf genommen.

Supplementcharakter hat nun ausdrücklich Band 22, der, von Michael Albrecht betreut, "entlegene zeitgenössische Texte zu Moses Mendelssohns Leben und Wirken" präsentiert. Dieser Band wendet sich speziell an Forscher, da er nur solche Texte bringt, die weder in der Jubiläumsasgabe mit ihrem umfangreichen Anmerkungsapparat, noch in den älteren Publikationen von Meyer Kayserling (1862), Beate Berwin (1919) und Bertha Badt-Strauß (1929) enthalten sind. Eine solche Entscheidung ist problematisch. Setzt sie doch voraus, daß der Benutzer nicht nur über die Jubliäumsausgabe verfügt, sondern außerdem jene genannten älteren Dokumentationsbände verfügbar hat. An sich ist die vorliegende Dokumentation eine Fundgrube. Notizen zur Biographie, Anekdoten, ausführliche Texte von Zeitgenossen, die Moses Mendelssohn schildern; wirklich entlegene Rezensionen zu einzelnen Schriften Mendelssohns sind ebenso enthalten wie eine Reihe von Nachrufen.

Von kulturgeschichtlichem Reiz etwa ist die Dokumentation zu dem Projekt, auf dem Opernplatz in Berlin ein Denkmal für Leibniz, Lambert und Sulzer zu errichten; nach dem Tode Mendelssohns wurde dieses Projekt sofort ergänzt um den Vorschlag, auch Mendelssohns Porträt hinzuzufügen. Zu wichtigen Etappen in Mendelssohns Leben bietet die vorliegende Sammlung aber nun wirklich nur die Nachlese: Zum Lavaterstreit sind die eigentlichen Dokumente in der Jubiläumsausgabe veröffentlicht; ebenso zur Kontroverse um sein Werk "Jerusalem" und um den Streit mit Friedrich Jacobi über Lessings Spinozismus. Wer sich damit beschäftigt, wird die Ergänzungen mit Spannung studieren. Wird aber der Leser immer Gelegenheit haben, drei Werke nebeneinander zu legen, um sich dann ein vollständiges Bild machen zu können?

So wird z. B. (163-165) August Lewalds Bericht über Mendelssohns Begegnung mit Kant in dessen Vorlesung 1777 berichtet: die Briefe von Kant, in denen dieser selbst davon berichtet, fehlen aber, weil sie bei Beate Berwin (1919) exzerpiert sind. Oder: S. 33-36 und 149 werden Texte publiziert, aus denen die hohe Wertschätzung Mendelssohns durch Wilhelm Graf zu Schaumburg-Lippe deutlich wird. Michael Albrecht hatte in seinem Katalog zur Mendelssohnausstellung 1986 in Wolfenbüttel selbst Ausführlicheres dazu zusammengestellt - hier jedoch fehlt der Kontext.

Die Nachrufe auf Mendelssohn von Friedrich Nicolai (AdB) und Biester (Berlinische Monatsschrift) werden nicht dokumentiert. Dagegen bringt der Band eine Reihe von Briefstellen aus den Korrespondenzen von Herder, Hamann, Goethe, Karl Gotthelf Lessing, Lichtenberg, die in den entsprechenden Werkausgaben an sich gut erreichbar sind. Was sind also "entlegene Texte"? Offensichtlich ist die Auswahl bestimmt durch die Dubletten-Furcht des Fachmanns.

Wäre es nicht sehr viel besser gewesen, das Material aus den früheren Dokumentaionen einzubeziehen und auf diese Weise wirklich einen zusammenfassenden Supplementband über Berichte zu Mendelssohns Leben und über das Urteil seiner Zeitgenossen zu schaffen? Wünschenswert wäre deshalb auch eine kurze biographische Kommentierung der Dokumente. Dieser Wunsch ist um so eher legitim, als Albrecht mit großer Gründlichkeit jedem einzelnen Dokument Anmerkungen beifügt, die jeweils die Hinweise auf Personen, Ereignisse und Schriften erläutern. Diese Anmerkungen gehen - erfreulicherweise! - über den Bedarf des Fachmanns deutlich hinaus.

Trotz dieser Rückfragen an die Editionskriterien ist die Dankbarkeit für die immense Forschungsarbeit, die in beiden hier anzuzeigenden Bänden der Jubiläumsausgabe vorliegt, groß. Die Zusammenfassung der Rezensionen Mendelssohns in der AdB vermittelt einen Eindruck von dem weiten Horizont der Interessengebiete des Philosophen, Aufklärers und Literaten. Nicht nur Fragen der Poetik (zu Ramlers Oden) oder zur Auseinandersetzung um das Erbe der Antike (Klotz, Lessings Laokoon u. ä.), sondern auch Entwürfe zur Historiographie (Iselin) werden subtil besprochen. Die in der von Albrecht zusammengestellten Dokumentation vorliegenden Zeugnisse der Zeitgenossen geben ein Bild davon, mit welcher Hochachtung, ja Bewunderung die Mitwelt Mendelssohns geistige Leistung gewürdigt hat. Daß ein jüdischer Philosoph, dem es nicht vergönnt war, an einer Universität zu lehren, sondern der seinen Lebensunterhalt im Seidenhandel verdienen mußte, sich mit einer solchen Sicherheit und sprachlichen Begabung an dem Diskurs der europäischen Aufklärung beteiligte, war ohne Beispiel. Da bleibt kein Raum für irgendeine Überlegenheit der etablierten Literaten oder Philosophen gegenüber dem Neuling. Faktisch wird ihm bereits zu Lebzeiten literarisch das Denkmal gesetzt, das dann unmittelbar nach seinem Tode in Berlin eigentlich geschaffen werden sollte.

Für den theologischen Leser bekommt der Dokumentenband besondere Bedeutung dadurch, daß in mehreren Kapiteln die Spannweite der jüdischen Äußerungen zu Mendelssohns Übersetzungen aus dem Hebräischen und zu seinen Schriften über das Judentum Stellung genommen wird: Das reicht von schärfsten Lehrverurteilungen durch Rabbiner bis zu dankbaren Äußerungen von Juden, die Mendelssohn verstehen und bewundern als den Schrittmacher auf dem Wege nicht nur zur Toleranz, sondern zur Integration in die Gesellschaft. Dem Werk Mendelssohns kommt eine Schlüsselrolle zu. Deshalb ist sehr zu wünschen, daß die Jubiläumsausgabe seiner Schriften in absehbarer Zeit wird abgeschlossen werden können.

Der inzwischen ebenfalls vorliegende Band 24 der Mendelssohn-Jubiläumsausgabe stellt eine hochwillkommene Überraschung dar: Da man in einer Ausgabe der "Gesammelten Schriften" eines Philosophen und Kritikers an sich nur dessen literarisches Werk, Manuskripte, Übersetzungen und den Briefwechsel erwartet, ist es etwas Besonderes, nun zusätzlich eine kommentierte Sammlung von Porträts und Bilddokumenten vorgelegt zu bekommen.

Gisbert Porstmann hat mit intensivem Fleiß nicht nur die bekannten und viel reproduzierten Bildnisse Mendelssohns zusammengestellt, sondern auch die Bildnisse der Prozellanmanufakturen, auf der Gedächtnisvase, der Gedenkmünze, in Kupferstichen und Schattenrissen gesammelt. Hinzugefügt sind Proben der Handschrift Mendelssohns und Bilddokumente zu seinen Reisen und Aufenthaltsorten. Darüber hinaus bietet der Band eine Fülle von Porträts von Zeitgenossen, die entweder unmittelbar in engem Kontakt zu Mendelssohn standen oder als Anreger und Lehrer für sein eigenes Wirken Bedeutung hatten. Den Bildnissen (die farbig wiedergegeben werden, sofern es sich um Ölbilder handelt - sonst meist in Reproduktionen von Kupferstichen) sind kurze biographische Essays beigefügt, die die Bedeutung des Abgebildeten charakterisieren und seine Beziehung zu Mendelssohn schildern. Sorgsam ausgewählte Zitate aus der Geschichte einer solchen Partnerschaft sind oft als Motto vorangestellt. So ist ein Buch entstanden, das unmittelbar in die Lebenswelt Moses Mendelssohns hineinführt, Gestalten lebendig macht und dem Leser einen hohen Genuß vermittelt durch die einfühlsame Interpretation der Bildnisse und die meist wirklich gelungene Schilderung der geistigen Partnerschaft, die zwischen Mendelssohn und dem jeweils Abgebildeten entstanden ist. Selbstverständlich ist, daß dabei der große Kreis der Freunde, der Dichter und Schriftsteller präsentiert wird, mit denen Mendelssohn durch seine philosophischen und literarkritischen Arbeiten in Verbindung stand. Auch Naturwissenschaftler, Mathematiker, Pädagogen und Theologen sowie Regenten, die sich mit Mendelssohn auseinandersetzen oder sein Gespräch gesucht hatten, werden präsentiert. Für den theologischen Leser ist hervorzuheben, daß auch der Kreis jener hochgebildeten Juden, die durch Berliner Kontakte oder durch Briefwechsel zum Lebenskreis Mendelssohns gehörten, mit erfaßt sind. So wird dieser Band der Jubiläumsausgabe zum Katalog für ein ideales, noch zu schaffendes Moses-Mendelssohn-Museum.

Daß ein solcher Band auch Entscheidungen enthält, die nicht einleuchten, ist nicht verwunderlich. Warum werden die Kinder Mendelssohns nicht ebenfalls durch Porträts vorgestellt? Im kurzen biographischen Essay zu Herz Homberg wird auf die sorgfältige Erziehung des Sohnes Josef hingewiesen. Moses Mendelssohn war seinen Kindern wirklich aufmerksam zugewandt! - Unter den literarischen Partnern fehlt Johann Wilhelm Ludwig Gleim - aus welchem Grund? Friedrich Nicolai wird mit einem Kupferstich aus dem Jahre 1800 vorgestellt. Warum verzichtet der Autor auf die Wiedergabe des Graffschen Porträts, das Nicolai noch zu Lebzeiten Mendelssohns zeigt? - Ausführlich wird die Porträtbüste dokumentiert, die Jean Pierre Antoine Tassaert 1785 geschaffen hat. Sie ist, nach Auslagerung und Kriegseinwirkungen, erst 1964 wieder aufgetaucht und heute in beschädigtem Zustand. Gerade darum wäre es gut, neben der Originalbüste einen der Gipsabgüsse zu dokumentieren, die in der Werkstatt Tassaerts gefertigt wurden und seine Intention wahrscheinlich heute unmittelbarer vermitteln können (vgl. das Exemplar in der Alten Nationalgalerie Berlin).

Selbstverständlich werden die Vorlagen der Abbildungen präzise nachgewiesen. Freilich wäre es wünschenswert, daß bei den zahlreichen Kupferstichen nicht nur der Bibliotheksstandort mit Signatur, sondern auch das Werk genannt würde, in dem dieser Stich enthalten ist. - Dem Verlag und Herausgeberkreis gebührt besonderer Dank, einen so schönen und aufwendigen Band der Jubiläumsausgabe hinzugefügt zu haben.