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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

775–779

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hermann, Rudolf

Titel/Untertitel:

Religionsphilosophie. Mit einer Einleitung hrsg. von H. Assel.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 344 S. gr.8 = Hermann, Rudolf: Gesammelte und nachgelassene Werke, 5. Lw. DM 98,-. ISBN 3-525-55315-3.

Rezensent:

Hermann Fischer

Mit der Edition der Vorlesung über "Religionsphilosophie" als Band V liegt die sechs Bände umfassende Ausgabe der Werke R. Hermanns (= Gesammelte und Nachgelassene Werke = GNW) nun komplett vor. Glücklich zum Abschluß gebrachte Ausgaben sind in aller Regel Anlaß zu Dank und Freude. Das gilt in diesem Falle doppelt, weil mit Hermanns Religionsphilosophie nun ein bisher nur durch Vorlesungen bekanntes, aber verborgen wirkendes, originelles, anregendes und eingeschliffene Denkgewohnheiten möglicherweise aufbrechendes Werk einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht geworden ist.

Der Band bietet nicht nur den Text der Vorlesung selbst, sondern wird dankenswerterweise ergänzt durch einschlägige Passagen aus anderen Vorlesungen H.s über Schleiermacher (176-206) und Hegel (207-214). Überdies kommen noch vier große, schon publizierte, Aufsätze H.s zum Abdruck, die er bereits 1937 unter der Rubrik "Religionsphilosophie" für einen Band seiner gesammelten Aufsätze vorgesehen hatte (vgl. 37): 1. "Prolegomena zum Begriff der Offenbarung im Anschluß an Schleiermachers philosophische Ethik" (1924/25). 2. "Zum Problem: Gewißheit und Wissen in der Religion. Zur Auseinandersetzung mit Schleiermachers Grundlegung der Religionsphilosophie" (1925/26). 3. "Zur Frage der Zeitlichkeit des Erkennens" (1931/32). 4. "Das Wissen und seine Welt in der Zeitlichkeit des Seins. Systematische Erörterungen zum Übergang von der Religionsphilosophie in die Dogmatik" (1932/33). Damit liegt H.s religionsphilosophische Arbeit in einer vorzüglich dokumentierten und zusätzlich durch Bibelstellen-, Namen- und Sachregister erschlossenen Gestalt vor.

Der Herausgeber der Vorlesung, Heinrich Assel, hat sich schon anderweitig um das Werk H.s verdient gemacht. Bereits 1992 ist er mit einer Edition des Briefwechsels zwischen H. und seinem Schüler Jochen Klepper hervorgetreten (Heinrich Assel [Hg.], Der du die Zeit in Händen hast. Briefwechsel zwischen Rudolf Hermann und Jochen Klepper, München). Und in seiner 1994 erschienenen theologischen Dissertation "Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance - Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910-1935)" hat er das Werk H.s als "sprachtheologische Durchführung des Programms der Lutherrenaissance" eindrücklich rekonstruiert und gewürdigt. Diese Vertrautheit mit dem Werk H.s ist der vorliegenden Edition in vielfältiger Weise zugute gekommen.

Wer diese Vorlesung, wie der Rez. im Frühjahrssemester 1954 an der Humboldt-Universität zu (Ost-)Berlin, selbst gehört, das bohrende Denken H.s förmlich miterlebt und einen bleibenden Eindruck von Art und Inhalt der vermittelten Gedankenwelt empfangen hat, wird es sehr begrüßen, daß diese urwüchsige und im Wechselspiel der Zeiten signifikant aus dem Rahmen fallende philosophisch-theologische Denkleistung nun der wissenschaftlichen Prüfung und Diskussion erschlossen ist. In Anknüpfung an die religionsphilosophischen Debatten des 19. und beginnenden 20. Jh.s, die H. vor allem durch seinen Lehrer Carl Stange vermittelt worden sind, und gänzlich unbeeindruckt von Modeströmungen, überführt H. den transzendentalphilosophischen Ansatz Kants und das Religionsverständnis Schleiermachers in eine Theorie des religiösen Apriori.

Vornehmlich der Sicherung dieses religiösen Apriori, das sich von analogen Bemühungen E. Troeltschs und R. Ottos durch die Überwindung eines lediglich religionspsychologischen Zugriffs unterscheidet, gilt die "Religionsphilosophie". Sie ist von H. als Einleitung zur Dogmatik, also als systematisch-theologische Prinzipienlehre konzipiert. Aus dieser Zielrichtung erklärt sich ihre Besonderheit; der dogmatische Problemhorizont ist stets gegenwärtig. H. hat die Vorlesung 1954 (aber auch schon früher) mit der Formulierung "Systematische Theologie I (Grundlegung: Religionsphilosophie)" angekündigt und damit bereits im Titel die disziplinensystematische Zuordnung und Verzahnung zum Ausdruck gebracht. Diese Zusammenhänge werden wohl kurz erwähnt (39, Anm. 1), in der "Einleitung" des Herausgebers (8-37) aber nicht weiter erörtert. Es hätte der Klarheit der Intentionen H.s gedient, wenn sich die strikte Verknüpfung der Religionsphilosophie mit der Dogmatik auch im Titel der Edition niedergeschlagen hätte.

Die dem Text vorausgeschickte "Einleitung" des Herausgebers weist einige Besonderheiten auf. Editionsspezifische Fragen kommen nur am Rande zur Sprache (36 f.). Stattdessen bietet der Herausgeber nicht nur eine pointiert argumentierende Einführung in die "Religionsphilosophie" H.s, die er von ihrem "christologischen Ziel" her erschließt (10), sondern will darüber hinaus "zugleich in das Ganze" der Theologie H.s einführen (12)! Hier läßt sich der Editor zu stark von seinen eigenen Neigungen, Interessen und auch Kenntnissen bestimmen und legt dem Leser schon vor dessen eigener Lektüre eine bestimmte, mit kritischen Einwänden gegen H.s Religionsphilosophie durchsetzte Interpretation nahe, die partiell mehr über das Verständnis des Herausgebers (vgl. etwa 12; 28; 30 f.; 33; 35) als das des Autors aussagt. Diese Tendenz setzt sich von Fall zu Fall auch in den ansonsten sehr informativen Anmerkungen fort (vgl. etwa 71, Anm. 95; 124, Anm. 258). - Hingegen bleibt die "Einleitung" im Blick auf editorische Probleme relativ wortkarg. Genauere Auskünfte über die Entstehungsbedingungen des Textes findet man nicht.

Dabei wäre es hilfreich und interessant gewesen, über die gegebenen knappen Hinweise (39, Anm.1) hinaus zu erfahren, wie oft und wann genau H. die Vorlesung in welchen Kontexten mit Seminaren und Übungen gehalten hat. Auch über die Text- und Editionsgeschichte der Vorlesung äußert sich der Hg. nur knapp (vgl. 36 f.). Das Manuskript ist von H. mehrfach umgearbeitet worden. Was ließe sich aus evtl. Streichungen, Ergänzungen, Umstellungen etc. für die Entwicklung seiner "Religionsphilosophie" entnehmen? Hier eröffnet sich ein weites Feld. Auch darüber hätte man gerne mehr gewußt. Während die "Einleitung" also in mancher Hinsicht mehr als nötig bietet, läßt sie in anderer Wünsche offen. Die "Einleitung" wäre wohl auch der angemessene Ort für eine Aufklärung darüber gewesen, warum die Dogmatik-Vorlesung H.s, deren Edition ursprünglich wohl geplant war (vgl. GNW I,5) und zu der die "Religionsphilosophie" die Einleitung darstellt, nicht im Rahmen der Werk-Ausgabe ediert worden ist bzw. ediert werden soll.

H. hat die Vorlesung erstmals 1919/20 unter dem Titel "Einführung in die Religionsphilosophie der Gegenwart" als zweistündiges Kolleg in Breslau gehalten und dann immer wieder überarbeitet und seit dem Wintersemester 1928/29 in Greifswald vierstündig vorgetragen. Ausgegangen wird von der erkenntniskritischen Fragestellung Kants. Mit seinem Lehrer C. Stange weiß H. sich einig in der Einschätzung des hohen Ranges der Philosophie Kants für die protestantische Theologie. Analog zur Frage Kants nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori fragt H.: Wie sind religiöse Urteile a priori möglich? Oder anders: Wie lassen sich religiöse Aussagen so formulieren, daß sie zu wissenschaftlichen Aussagen in Beziehung gesetzt und so in ihrer Geltung erwiesen werden können? Das erklärt den Ansatzpunkt der Religionsphilosophie H.s bei der Transzendentalphilosophie Kants. Die Möglichkeit eines nicht nur psychologischen, sondern auch erkenntnismäßig-transzendentalphilosophisch ausgewiesenen religiösen Apriori wird dann unter Rückgriff auf Schleiermachers Religionstheorie ausgearbeitet. Insofern haben die diesen Problemkomplexen gewidmeten Paragraphen der Vorlesung (vor allem die §§ 2-4; 6 und 7) eine religionsphilosophische Achsenfunktion. Letztlich geht es nach H. in der Religionsphilosophie um die Klärung der Begriffe "Offenbarung" und "Schöpfung". An ihnen soll die Möglichkeit geltender religiöser Aussagen, die sich auch im wissenschaftlichen Diskurs bewähren lassen, aufgewiesen werden. Die Begriffe "Offenbarung" und "Schöpfung" bilden das Fundament für die im engeren Sinne dogmatische Argumentation.

Die Vorlesung gliedert sich in 10 Paragraphen. In § 1 wird "Die Religionsphilosophie als theologisches Problem" exponiert (39-55). Hier versucht H. gegen den Geist der damaligen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eine "Brücke zwischen der theologischen Wissenschaft und der Wissenschaft überhaupt, bzw. zwischen dem Glaubensbewußtsein und dem Bewußtsein überhaupt" zu schlagen (39). Ziel der Vorlesung ist es, so wird gleich eingangs hervorgehoben, ein wissenschaftlich vertretbares Verständnis der Begriffe "Schöpfung" und "Offenbarung" zu gewinnen (39 f.). Die Wahrheitsfrage (40-43), die "durch die religionsphilosophische Theorie nicht vergewaltigt werden" darf (42), verdichtet sich für H. im christologischen Problem. "Wir bekennen uns im Glauben zu Gott in Christo - aber nicht zu unserem Christentum. Denn nicht das, sondern Gott in Christus macht uns selig" (41). Dieser Glaube weiß sich von einer Wirklichkeit ganz eigener Art gesetzt, und dafür steht der Begriff Offenbarung.

Diese Glaubensvoraussetzung bedarf aber der religionsphilosophischen Durchklärung, um nicht als blanker Dezisionismus die wissenschaftlich-theologische Debatte kommunikationsunfähig ins Abseits zu steuern. Es kommt also darauf an, "die Bezogenheit auf Gott als eine eigene Art der Erkenntnis (Gewißheit, Überzeugung) und sie als ein Apriori des Bewußtseins verstehen" zu lernen (51). Aufgabe der Religionsphilosophie ist dementsprechend "die Herausstellung eines eigenen Wahrheitsbegriffes der Religion" (52). Insofern hat die Religionsphilosophie den Charakter einer theologischen Disziplin (55). Diese Aufgabenstellung hat sich für H. bis in die letzten Jahre und also auch für die Zeit im DDR-Staat nach 1945 unter völlig gewandeltem Vorzeichen durchgehalten.

Mit § 2, der "Die Bedeutung Kants für die Religionsphilosophie" entfaltet (55-74), erreicht die Vorlesung einen ersten Höhepunkt. H. bietet in Grundzügen eine Gesamtinterpretation der kritischen Philosophie Kants. Kant hat mit seinem transzendentalphilosophischen Kritizismus insofern für die Religionsphilosophie fundamentale Bedeutung, als er die Bedingungen für die notwendige Geltung von Erkenntnis klärt. Die Theologie muß ihre Aussagen nach H. unter Voraussetzung dieser erkenntniskritischen Einsichten formulieren. Dabei hat die Einsicht Kants in die Grenzen unserer Erkenntnis für H. beinahe den Rang einer "religiösen Tat" (62, Anm. 70). Dieser Aspekt wird kritisch auch gegen Hegels Philosophie zum Zuge gebracht (212). Nicht ganz so positiv beurteilt H. die Ethik Kants, macht vor allem gegen die Postulatenlehre Vorbehalte geltend (67-73). Ähnlich reserviert bleibt er gegenüber der Religionsphilosophie Kants (73 f.). In der Vorlesung von 1954 konnte er noch deutlicher werden: "Hier ist Kant Rationalist. Aber: Tiefe der Ideen".

Mit dem folgenden § 3 ("Das Erfordernis eines religiösen Apriori") spitzt H. die transzendentalphilosophische Fragestellung Kants auf den Gedanken des religiösen Apriori zu, dies in Auseinandersetzung mit einem mehr psychologisch akzentuierten Verständnis bei R. Otto (und E. Troeltsch). Weitgehend aber werden in diesem und in den beiden folgenden Paragraphen (4. "Apriorismus und Rationalismus". 5. "Das rationale Erkennen, seine Aufgabe und seine Grenze") kritische Abgrenzungen gegen solche Positionen vollzogen, die sich ihrerseits kritisch gegen Kants transzendentalphilosophischen Ansatz richten. Im Zuge solcher Auseinandersetzung verdeutlicht H. seine eigene religionsphilosophische Problemstellung. Es geht ihm um eine Antwort auf die Frage, wie wissenschaftliche Urteile auf dem Gebiet der Religion und also theologische Aussagen möglich seien. In beinahe Tillichscher Diktion heißt es: "Die theologischen Aussagen müssen als Antworten auf Fragen wirken." Sie dürfen nicht einfach als "Diktat" formuliert werden. "Es gilt für uns nach dem eigenen Apriori der Religion zu fragen" (79). Unter solchem Vorzeichen grenzt H. sich gegen Thomismus, Subjektivismus, Irrationalismus und gegen eine mit der Kategorie "Anlage" operierende Religionspsychologie ab. Der Begriff des religiösen Apriori darf keinesfalls mit dem Begriff der Anlage verwechselt werden. H. schärft die Bedeutung des kantischen Apriori ein, weil es den Begriff des Objekts für die Wissenschaft sichert. Analog gilt für die Religion: "Das Apriori führt auf die Notwendigkeit der Religion, - während der Begriff der Anlage ... nichts für das Recht beweist" (81). "Religion steht und fällt mit der Objektivität des Geglaubten" (80). Oder anders: Glaube und Religion stehen und fallen "mit der Geltung von Offenbarung" (89). Offenbarung heißt Aufleuchten der Wahrheit aufgrund von Mitteilung. Der Glaube versteht unter Offenbarung "eine Erkenntnis, die nur aufgrund von Mitteilung mir zu eigen werden kann, die von mir auf keinem andern Wege aufgefunden werden kann als eben in der Kundgabe, die sie selbst ist" (96). Solche Mitteilung enthält ein rationales Element, das gegen irrationale Deutungsversuche durchgehalten werden muß (99-107). Der Glaube steht nicht einfach gegen rationales Erkennen und Wissen, wenngleich er anders redet als diese (109). Aber auch das Wissen ruht nicht absolut in sich selbst, sondern weist einen Bezug zur Zeit auf, und diesen Zeitbezug deutet H. theologisch als Geschaffenheit bzw. Geschöpflichkeit.

Damit ist die zentrale These dieser Religionsphilosophie intoniert. Alle wissenschaftliche Wahrheit ist notwendig auf zeitlich Gegebenes bezogen. Für die zeitlos geltenden Wahrheiten bleiben wir auf Erfahrung angewiesen. Geltung gibt es nur, sofern und soweit es Denken gibt (122). In diesem Sinne wird der kantische Gedanke der transzendentalen Apperzeption aufgenommen und modifiziert (123-125). Denn an dem kantischen "Ich denke" haftet nach H. immer die Zeitlichkeit. Deren Eigenrecht gilt es neben dem "Ich denke" zu sichern. H. prägt dafür die Formel "Ich bin" als einen neuen und eigenen Gehalt des Selbstbewußtseins. Während Kant Zeit nur als reine Anschauungsform des Verstandes in Rechnung stellt, deutet H. Zeitlichkeit als Element der geschöpflichen Verfassung des Menschen. Wir "stellen der transzendentalen Apperzeption oder dem Prinzip der Wissenschaft als die andere Seite des Ichbewußtseins die schlechthinnige Abhängigkeit oder die aller Religion zugrunde liegende Voraussetzung gegenüber" (124 f.).

So ist der Anschluß an Schleiermachers Religionstheorie gewonnen, an deren Leitfaden H. den religiösen Sinn der Formel "Ich bin" auslegt. Das geschieht in § 6 "Die Notwendigkeit der Religion nach der Theorie Schleiermachers" (125-127). Im Vorlesungsmanuskript umfaßt dieser zentrale Paragraph nur zwei Seiten, aber in der Vorlesung selbst hat H. seine Gedanken aufgrund intimer Kenntnis des Schleiermacherschen Werkes frei entfaltet. Man muß es als glückliche Idee des Herausgebers begrüßen, daß er die spärlichen Ausführungen des Manuskripts durch grundlegende Teile einer Schleiermacher-Vorlesung H.s ergänzt hat (176-206).

H. teilt mit Schleiermacher, trotz kritischer Vorbehalte im einzelnen, die Vorstellung von der Religion als einem notwendigen Element des Selbstbewußtseins (125) und formuliert im folgenden Paragraphen (7. "Der Ertrag des Begriffs der schlechthinnigen Abhängigkeit") die These, "daß die schlechthinnige Abhängigkeit den eigentlichen Wirklichkeitsbegriff definiert, im Unterschied zum Objektivitätsbegriff der Wissenschaft" (127). In dieser schlechthinnigen Abhängigkeit spricht sich im Modus der Erfahrung der Daseinsursprung unserer selbst und der Welt aus (130). H. grenzt diesen Gedanken scharf gegen das Argument des kosmologischen Gottesbeweises ab. Vom Begriff der Ursache kommt man niemals auf das Verständnis Gottes und auf die Beziehung des Schöpfers zur Schöpfung (130). Zusammenfassend expliziert H. die Rede vom Daseins-ursprung als "ein Bekenntnis unser[er?] selbst im Zusammenschluß mit allem, was da zeitlich ist, ... ins Dasein nicht sowohl gezwungen zu sein ..., sondern eben geschaffen zu sein, wir haben kaum einen anderen Ausdruck, - ins Dasein gerufen zu sein ... Wir bekennen uns zu diesem unsern Geschaffensein. Das ist ein anderer Ausdruck für ,glauben’. Und der Satz ,Gott ist’ ist wiederum der Ausdruck für das Bekennen und Glauben, in dem die schlechthinnige Abhängigkeit sich ausspricht" (133). Dabei kommt dem Gedanken der Zeitlichkeit eine zentrale Funktion zu, denn seiner eigenen Wirklichkeit inne zu werden heißt, vor das Problem der eigenen Zeitlichkeit und damit vor das Problem der Zeitlichkeit aller Wirklichkeit, auch der der Wissenschaft, gestellt zu sein. "An der endlichen Zeitlichkeit alles Daseins erleben wir erst den Vollgehalt des Wortes Wirklichkeit" (136).

Dieser Gedanke wird in tiefschürfenden Analysen in § 8 ("Wille, Wort und Wirklichkeit") als Interpretation der These "Ich bin meine Zeit" näher ausgeführt (137-145). Die beiden abschließenden Paragraphen entfalten dann die zentralen Theologumena, auf die die "Religionsphilosohie" zuläuft: den Schöpfungsglauben (§ 9 "Der Glaube an den Schöpfer") und das Offenbarungsverständnis (§ 10 "Der christliche Offenbarungsglaube). Mit einem knappen "Anhang: Zum Problem der Mystik" (167-175) kommt die Vorlesung zum Abschluß. Der Offenbarungsgedanke wird christologisch profiliert.

Hier scheinen sich Einwirkungen von H.s Hallenser Lehrer Martin Kähler besonders deutlich zur Geltung zu bringen. Im Bekenntnis zu Christus erschließt sich dem Glaubenden die Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung. Auf die Frage nach dem "Warum" des Bekenntnisses zu Christus läßt sich aber vor "einem übrigens illusionären quasi neutralen Forum" keine Antwort geben. "Beleg für diese These ist die eigene Selbstbesinnung" (161). Es läßt sich lediglich die Notwendigkeit der Religion begründen und sie selbst sich deshalb wissenschaftlich vertreten, die geschichtliche, hier die christologische, Bestimmtheit der Religion entzieht sich solcher Begründung und Wahrnehmung. Auf solche Weise ist der wissenschaftlichen Erörterung der Religion Rechnung getragen und zugleich die unableitbare Kontingenz der christlichen Religion gewahrt.

H. thematisiert in seiner Religionsphilosophie ein unter den Bedingungen des neuzeitlichen Bewußtseins nach wie vor aktuelles Problem der Theologie. Er entwickelt originelle Fragestellungen und weist Wege einer Problemlösung, die sich an gegenwärtige Diskussionen anschließen lassen. Der eigentliche Reiz dieser Religionsphilosophie liegt in ihrer wissenschaftlichen Offenheit und ihrer christlichen Bestimmtheit. Daß sich der Gehalt dieser Religionsphilosophie dann auch noch einmal ganz anders zum Ausdruck bringen ließ und läßt, hat Jochen Klepper, H.s Breslauer Schüler, mit seinem in das Gesangbuch eingegangenen Gedicht "Der du die Zeit in Händen hast" gezeigt (EG Nr. 64). Dieses ungewöhnliche Echo bezeugt die Dichte und den Reichtum der religionsphilosophischen Denkleistung H.s womöglich noch authentischer als das wissenschaftlich-theologische Urteil.