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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

773 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Grossheutschi, Felix

Titel/Untertitel:

Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1996. 125 S. gr.8 = Beiträge zur Politischen Wissenschaft, 91. Kart. DM 72,-. ISBN 3-428-08300-8.

Rezensent:

Mathias Eichhorn

Mit dem Näherrücken der Jahrtausendwende gedeihen die eschatologischen Phantasien, freilich weniger in Gestalt eschatologischer Hoffnungen als vielmehr in Form apokalyptischer Ängste. Warum gibt es eigentlich noch Geschichte? Sich dieser Frage zu stellen, haben Christen schon von Hause aus Anlaß genug, und vielleicht hilft ja das prekäre Datum, das Problem auch wieder einmal kirchlichen Kreisen bewußt zu machen. Im Neuen Testament ist, abgesehen von wenigen Stellen, Weltgeschichte jedenfalls nicht mehr vorgesehen, dagegen bestimmt die Naherwartung der Parusie die neutestamentliche Verkündigung.

Befruchtete in der politischen Ideengeschichte des Abendlandes diese Naherwartung die revolutionäre Theorienbildung, so verwundert es nicht, daß auf die wenigen Stellen, die die Hoffnung der frühchristlichen Gemeinden auf eine baldige Wiederkunft des Herrn dämpften, sich die konservativen Kräfte beriefen. Wie hätte nun die prominenteste dieser Stellen im 2. Thessalonicherbrief der Aufmerksamkeit eines Carl Schmitt entgehen können? Da ist von einem Katechon sowohl als Neutrum als auch als Maskulinum die Rede, also von einem Aufhaltenden und einem Aufhalter der anomia, der Herrschaft des Antichristen, die der Wiederkunft Christi vorausgehen werde. Was mit dieser aufhaltenden Größe gemeint sein könnte, bleibt unklar, scheint aber für den Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes und den Adressaten bekannt gewesen zu sein: "so wißt ihr doch, was ihn (den Widersacher) noch zurückhält" (2Thess 2,6).

Schmitts Beschäftigung mit dem Katechon widmet sich G. in seiner Studie, aber um es gleich vorweg zu sagen, Durchführung und Ergebnis vermögen nicht zu überzeugen. Schon in den ersten einleitenden Kapiteln fällt ärgerlich auf, daß G. hartnäckig Paulus als den Autoren des Briefs nennt, obwohl er zuvor schon auf die Kontroverse über die Echtheit des Briefes hingewiesen hat, der offensichtlich gegen die im 1. Thessalonicherbrief vertretene Naherwartung gerichtet ist und diesen Paulusbrief sogar eine Fälschung nennt (2Thess 2,2). Daß G. im Verlauf der Arbeit immer wieder schon erarbeitete Ergebnisse und Einsichten ignoriert, ist notorisch. Da liest man: "Anscheinend waren Paulus und die Thessalonicher die einzigen, die die Identität des Aufhalters kannten" (24), aber abgesehen davon, daß nicht nur nicht ausgemacht ist, wer Verfasser, sondern auch, wer Adressat des Schreibens ist, werden gleich im Anschluß unreflektiert neutestamentliche Stellen untersucht, die sich mit dem Imperium Romanum befassen. So werden dann Paulus und der vermeintliche Paulus durch die Brille einiger Kirchenväter, die Rom als das Katechon sahen, gelesen und miteinander identifiziert. Dabei wird zudem Röm 13 sehr altbacken exegetisiert, exousiai wird einfach mit Obrigkeit übersetzt. Hätte hier nicht wenigstens in einer Fußnote Jacob Taubes erwähnt werden können, dessen Auslegung des Römerbriefes gerade im Hinblick auf Carl Schmitt unternommen worden ist? So überzeugt also der theologische Teil der Arbeit nicht.

Im weiteren Fortgang werden die als "Lehre" angekündigten Spekulationen der Kirchenväter über das Katechon, also lexikales Wissen, ebenso nur referiert wie schließlich die Schriften Carl Schmitts, in denen dieser auf das katechon eingeht - wobei für Schmitt im Laufe der Zeit der Katechon gegenüber dem Katechon als Neutrum immer wichtiger wird. Auch G. selbst ist mit dem Ergebnis unzufrieden: "Unsere Erwartungen haben sich nur zum Teil erfüllt. Nicht jede Verwendung des Katechon in Schmitts Werk ist auf der Höhe des Begriffs" (121). Was für eine Höhe, und überhaupt, was für ein Begriff? Immerhin listet G. auf, daß Schmitt über die Zeit verschiedene Mächte und Personen als einmal lokale, dann universale, einmal geschichtsimmanente und dann wieder geschichtstranszendente Katechonten unterscheidet, und daß er sie, solange er sich selber auf der Seite des geschichtlichen Fortschritts gewähnt, als Verzögerer, ab der ersten Hälfte der vierziger Jahre aber dann zunehmend als Aufhalter im konservativen Sinne gedeutet habe.

Was aber soll laut G. nach Schmitt aufgehalten werden? Hier wird auf Schmitts Schrift "Der Begriff des Politischen" aus dem Jahre 1927 rekurriert, in der er seine berüchtigte Bestimmung des Politischen als der Unterscheidung zwischen Freund und Feind trifft. Der unpolitischen Welt ohne Feindschaft gelte es zu wehren, denn sie bedeute die hybride Vorwegnahme des Endes der Geschichte, also der Wiederkunft Christi. G. vermeidet es, näher auf die Ähnlichkeit zwischen Christus und Antichristus, die Schmitt so beschäftigte, einzugehen. Auch bleibt es fraglich, ob Schmitts Schrift von 1927 als der hermeneutische Schlüssel für das Gesamtwerk Schmitts betrachtet werden darf, überarbeitete doch Schmitt seinen Begriff der Feindschaft ständig, dem einmal unter Berufung auf Theodor Däubler identitätsstiftende Funktion zugesprochen wird, der schließlich aber auch den totalen und absoluten Feind mit umfaßt.

Zudem sei bemerkt, daß eine rein werkimmanente Vorgehensweise, wie G. sie unternimmt, ein problematisches Unternehmen darstellt, und dies insbesondere dann, wenn - mit Ausnahme von "Der Begriff des Politischen" - nur die Schriften heranzogen werden, in denen sich Schmitt zum Katechon äußert. Angesichts der Konjunktur, die die Katechonspekulationen nach dem 1. Weltkrieg gehabt haben, könnte man auch fragen, warum Carl Schmitt diesem Thema nicht mehr Raum gewährt hat. Irgendwie fällt das auch G. auf, der noch auf Hans Freyer zu sprechen kommt, der einen "formalen Katechonbegriff von dialektischer Struktur" entwickelt habe. Schmitts Auseinandersetzung mit dem Katechon, das müßte doch in diesem Zusammenhang deutlich werden, ist immer auch eine Auseinandersetzung mit jenen, die sich gleichzeitig um diesen Begriff bemühen, neben Freyer namentlich die Vertreter der sogenannten Reichstheologie, die G. mit keinem Wort erwähnt. Eine Analyse hätte diese aber berücksichtigen müssen. Daher sei hier auf die umfängliche Studie von Günter Meuter verwiesen (Der Katechon. Zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kritik der Zeit, Berlin 1994), die zwei Jahre vor dem hier besprochenen Band im gleichen Verlag erschienen ist.

Abschließend sei noch die Frage erlaubt, ob der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefs über die Identität des Katechon vielleicht weniger gewußt hat, als er vorzutäuschen bemüht war?

Wie, wenn Carl Schmitt diesen Sachverhalt geahnt hätte? Nur wenn die Katechonten verborgen sind, macht ja Suche einen Sinn. So könnte in den rastlos Suchenden endlich der Gedanke gereift sein, daß die Suche selbst das Katechon und damit sie selber die gesuchten katechonten sind, ein Gedanke, den man Carl Schmitt zweifelsohne unterstellen kann - G. freilich nicht.