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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

770–773

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Weinhardt, Joachim

Titel/Untertitel:

Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1996. VIII, 331 S. gr.8 = Beiträge zur historischen Theologie, 97. Lw. DM 178,-. ISBN 3-16-146596-2.

Rezensent:

Michael Murrmann-Kahl

J. Weinhardt gibt in seiner Tübinger, beim Kirchenhistoriker Ulrich Köpf 1993 erstellten und für die Publikation überarbeiteten, Dissertation nach einer kurzen Einleitung (I., 1-6) einen historischen Überblick über die "Geschichte der Ritschlschen Schule" (II., 7-125), um sich dann der Darstellung Wilhelm Herrmanns (III., 126-297!) unter Einbeziehung von dessen Lehrer Albrecht Ritschl (132-159) zu widmen. Die architektonische Unausgewogenheit indiziert schon das Grundproblem der Arbeit, zwischen unterschiedlichen Zielsetzungen zu changieren: Zum einem will der Vf. nämlich einen historisch-genetischen Beitrag zum Verständnis der Theologie Karl Barths liefern, der in einer über dessen Lehrer Herrmann vermittelten Kontinuität zu Ritschl gesehen wird (2 ff., 122, 126, 294 ff., 298 f.). Eine solche geistesgeschichtliche Dependenzforschung birgt allerdings die auch hier unübersehbare Gefahr des "regressus ad in-definitum": Um Barth zu verstehen, muß man auf Herrmann, um diesen zu verstehen auf Ritschl rekurrieren und so fort. Die leitende These der Wiederkehr Ritschlscher Thesen etwa in der "Kirchlichen Dogmatik" wird aber in dem hier publizierten (ersten) Band nicht ausgeführt (3, 125, 297). Gleichwohl erscheint, wenn man Barth und Ritschl unter dem Terminus der "Offenbarungstheologie mit streng christozentrischem Ansatz" (15) zusammenrückt, jedenfalls der "Herrmann auf dem Papier" wie bekannt vornehmlich als Aporetiker, der allererst durch seinen "Meisterschüler" zu sich selbst gebracht wurde (278 ff.). Das historische Interesse an Ritschl und dem Ritschlianismus in seinen Verzweigungen (II.) weicht damit zum anderen einer eher systematisch zu nennenden Auseinandersetzung mit der Theologie W. Herrmanns selber (III., hier 159 ff).

1. Der historische Teil zum Ritschlianismus versucht gegenüber der Dreiteilung F. Kattenbuschs in konfessionelle, liberale und Vermittlungstheologie (120) eine differenziertere "Topographie" der Theologie des 19. Jahrhunderts zu entwerfen, wobei er sich der (von Kant geprägten) Leitdifferenz von Rationalismus und Supranaturalismus und der daraus resultierenden Mischformen bedient (7 ff.). Demnach wäre Ritschl in diesem Raster zu den "positivistisch-eklektische(n) Vermittlungstheologie(n)" (17) zu rechnen, wogegen seine Bezeichnung als eines "Liberalen" (im 19. Jh. für Pfleiderer, Biedermann und Lipsius gebräuchlich) erst aus den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts stammt. Als schulbildende Elemente des Ritschlianismus nennt der Vf. die systematische Einheitlichkeit von Ritschls dreibändigem Werk "Rechtfertigung und Versöhnung" (1870-1874) mit der "Offenbarung" als dem exklusiven theologischen Erkenntnisprinzip, die Ablehnung jeglicher Spekulation ("Metaphysik", "natürlichen Theologie") und der Rekurs auf die Reformation Luthers (32 ff.).

Allerdings bleibt unklar, inwiefern es sich wirklich um eine Ritschlsche "Schule" (24 ff.) gehandelt hat, da schon im Urteil der Zeitgenossen (J. Kaftan, M. Rade, W. Herrmann) eine solche "nur in der Phantasie ihrer Gegner" existiert habe (so Kaftan, zitiert 37). Tatsächlich liegt dem die Beobachtung zugrunde, daß die Ritschlianer aller gemeinsamen Publikationsorgane wie der ThLZ, Chr W und der ZThK zum Trotz (42 ff.) von vornherein keine geschlossene Gruppe darstellten, die materialiter die Dogmatik des Lehrers pflegte - den inhaltlichen Aufstellungen von "Rechtfertigung und Versöhnung" folgte man gerade nicht (36). So kann der Vf. denn als schulbildendes Element nur den "Christozentrismus" (105 f., 119) anbieten, der die konservativen und auch progressiveren Ritschlianer von den Religionsgeschichtlern getrennt habe (64-125). In der Tat dürfte die Stellung zur historischen Kritik und vor allem die Auswirkung der historischen Kritik für diese Zuordnung von ausschlaggebender Bedeutung sein (64, 72 ff., 117, 123). Die Grenzziehung zu der Gelehrtengruppe mit dem religionsgeschichtlichen Programm (86 ff.) fällt dem Vf. nicht zuletzt auch deshalb schwer, weil er die einschlägige neuere Forschungsliteratur nicht zur Kenntnis genommen hat. So rechnet er mittels seines Kriteriums kühn Martin Rade umstandslos den Religionsgeschichtlern zu (99, 103, 119; der - einzig zitierte - erste Band der "Troeltsch-Studien" ist übrigens 1982 erschienen und nicht "1962", gegen 314 f., 319)!

2. Auch für Wilhelm Herrmann selbst gilt, daß angesichts der Veränderungen seiner theologischen Position allenfalls der junge Herrmann der "Metaphysik in der Theologie" (1876) als Schüler Ritschls bezeichnet werden kann, wogegen die Distanzierung von Ritschl nach dessen Tod (1889) je länger je deutlicher ausfällt (241 ff.). Der Vf. zeichnet diesen Zusammenhang zunächst anhand der Stellung Ritschls (132-159) und Herrmanns (164-177) zur "natürlichen Theologie" nach. "Das System Ritschls ist in der Metaphysikschrift im wesentlichen präsent" (176). Schon diese wurde als polemisch empfunden, was erst recht für die Abrechnung Herrmanns mit der Religionsphilosophie Otto Pfleiderers in der Religionsschrift von 1879 gilt (188-219). Hier zeigen sich mit dem Persönlichkeitsbegriff und der ethischen Thematik auch bereits entscheidende Verschiebungen zwischen Ritschl und Herrmann. Wiewohl vom Vf. zutreffend referiert, ist die Brisanz dieser Differenz von ihm offenbar nicht erfaßt worden (212, 217).

Tatsächlich geht nämlich Ritschl vom naturgehemmten Geist aus, dessen Hemmung durch den Gottesgedanken überwunden werden soll. "Sollte Gott philosophisch adäquat begriffen werden, so müßte er als Geist aufgefaßt werden, der der gesamten Naturwelt beherrschend gegenübersteht. Die aus der griechischen Naturreligion herstammende Ontologie kennt aber den Gegensatz von Natur und Geist nicht, weil alle Termini, mit denen sie versucht, Gott zu erfassen, aus der Naturbetrachtung stammen" (136, vgl. 155ff.). Deshalb eben lehnt Ritschl alle "natürliche Theologie" ab! Dagegen folgt Herrmann 1879 von vornherein Kants praktischer Philosophie, deren autonomes Subjekt sich immer schon über seine Naturhemmung erhoben hat. Indem sich Herrmann Kants autonomer Moralbegründung unterstellt, hat er sich im Ansatz von Ritschls naturgehemmten Geist geschieden (vgl. 196ff.). Herrmann zufolge schließt sich die (als eigenständig gedachte) Religionsthematik vielmehr an die Realisierungsfrage autonomer Moral an, an den Bruch zwischen Wollen und Vollbringen. "Damit kündigt sich bei Herrmann die Kehre (!) des Ritschlianismus an, ein erster Schritt hin auf eine ethische natürliche Theologie" (208).

Der Vf. geht nun so vor, daß er diese Frühphase mit der späten "Erlebnistheologie" Herrmanns konfrontiert (219-253), um anschließend die beiden Hauptwerke "Der Verkehr des Christen mit Gott" (1886) und die "Ethik" (1901) in ihren verschiedenen Auflagen auf ihre Veränderungen hin zu betrachten (253-268), was gliederungstechnisch eigentlich einen eigenen Punkt dargestellt hätte. "Derart werden wir schnell Herrmanns späterer großer Ritschl-Ferne gewahr" (219, vgl. 247-253). Demnach expliziert Herrmann den Dreischritt von erstens "Darstellung des allgemeingültigen Weges zur Religion", zweitens der "Umschreibung des individuellen religiösen Erlebnisses" und drittens der "Entfaltung der gleichfalls individuellen Glaubensgedanken" (228). Die Differenz zu Ritschl hinsichtlich "Metaphysik" und "Offenbarung" könnte nicht größer sein! Folglich zieht der Vf. mit W. Greive (1976) den Schluß, "daß der Christologie schon jetzt keine konstitutive Funktion mehr in Herrmanns Theologie zukommt" (228). Herrmann endet in der Aporie, eine Sonderstellung der Person Jesu faktisch zu unterstellen, aber "sie nicht mehr mit durchschlagenden Argumenten begründen" zu können (235, vgl. 241, 251). Während die in wiederholten Auflagen überarbeiteten Hauptwerke noch einen "christozentrischen Schein" verbreiteten, "so verraten die neu konzipierten Schriften des Spätwerks Herrmanns christologische Inkonsequenz" (252). Was bedeutet es angesichts dieses "Selbstwiderruf(s)" (250) dann noch, daß Herrmanns Theologie den reinsten "individuellen Ausdruck der Dogmatik" der historisch-kritischen Ritschlianer darstelle (248, vgl. 4)?

3. Erst fast am Ende seiner Ausführungen setzt sich der Vf. mit der schon vorhandenen Forschungsliteratur auseinander, die allerdings nur selektiv rezipiert ist, so daß namentlich die einschlägigen Beiträge Falk Wagners fehlen (132, 268-281). Ihr gegenüber möchte er, obwohl er sich ständig mit der apologetischen Problematik der "natürlichen Theologie" befaßt hat, die Veränderungen in der Herrmannschen Theologie am Glaubensverständnis festmachen. Der im Gegensatz zu Lehrinhalten als "Erlebnis" gefaßte Glaube verweise schließlich auf ein rein passives Konstituiertsein menschlicher Freiheit durch das "innere Leben Jesu", durch eine (All-)Macht, die zugleich auch die sittliche Aporie auflösen soll (224, 227, 232, 279). "Aber anstatt nun der Dogmatiker derjenigen zu bleiben, die Gott aufgrund seiner freien Tat tatsächlich in Jesus Christus begegneten", habe Herrmann mit dem allgemeinen Weg zur Religion Gott vielmehr "der vollen Verfügbarkeit des Menschen" ausgeliefert (280) - "Herrmanns Theologie klärt den Menschen nur darüber auf, was er in seiner Erfahrung schon immer besaß" (281). - Hier hat zweifellos der Dogmatiker die Federführung über den Historiker erlangt. Durch diesen dogmatischen Zugriff vermag der Vf. die Veränderungen in Herrmanns Theoriedesign nicht auf die Theoriedebatten des Kaiserreichs abzubilden. Es könnte ja sein, daß sich Herrmann durch geänderte Plausibilitäten zu seinen erheblichen Transformationen genötigt sah. Zu monieren bleibt abschließend, daß das Literaturverzeichnis zumal bei den Quellen (vgl. 307 f.) zum Teil den originalen Publikationsort nicht angibt und keiner chronologischen Ordnung folgt.