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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

764–766

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Finke, Anne-Kathrin

Titel/Untertitel:

Karl Barth in Großbritannien. Rezeption und Wirkungsgeschichte.

Verlag:

Neukirchen-Vlyn: Neukirchener Verlag 1995. XIV, 354 S. 8. ISBN 3-7887-1521-9.

Rezensent:

Johannes Dantine

In einer bemerkenswert ausführlichen Arbeit untersucht die Vfn. die Rezeption der Theologie K. Barths in Großbritannien, also vor allem in England und Schottland, gelegentlich, vor allem für die letzte Periode, unter Berücksichtigung der USA, was zu einer gewissen Unschärfe führt. Der Rez. kann natürlich die Vollständigkeit nicht überprüfen, ist aber von der Fülle und den 30 Seiten Literaturverzeichnis (plus 6 Seiten Personenindex) beeindruckt. - Einleitend wird zur Orientierung des Lesers ein umfangreicher Überblick der englischen Theologiegeschichte seit der Reformation präsentiert. Aber auch die Darstellung der Rezeptionsgeschichte gerät immer wieder zu einer umfassenden Theologiegeschichte im Ansatz.

Vier Perioden der Rezeption werden festgestellt. Eine erste bis 1936. Die Rezeption ist zögernd. Auf Barth wird man eher bei den Freikirchen aufmerksam. Allgemein empfindet man Barths Theologie als sehr fremd. Wichtige Rezipienten sind John McConnachie, John Kenneth Mozley, Frederick William Camfield und Hugh Ross Mackintosh. Edwyn Clement Hoskyns hat durch seine Bemühungen um eine biblische Neuorientierung einen wichtigen Beitrag geleistet.

Die zweite Periode, die Zeit von 1936-1945, war geprägt davon, daß der 1. Band der Kirchlichen Dogmatik einer breiteren Leserschaft zugänglich wurde, daß Barth selbst nach Großbritannien kam und es zu persönlichen Begegnungen, vor allem mit den bedeutenden Clifford-Lectures 1937 und 1938 über die Conf. Scotica, kam. Besonders aber wurden der Einsatz Barths im Kirchenkampf, seine kritische Stimme in Deutschland und das Bekenntnis von Barmen wahrgenommen. Der "Letter to Great Britain from Switzerland" 1941 fand eine breite Öffentlichkeit. Es ist daher verständlich, daß Barths Kontaktleute neben den Theologen Nathaniel Micklem und Walter Alexander Whitehouse vor allem Kirchenleute waren, der Bischof von Chichester, Georges Bell, Erzbischof William Temple und der Dean A. S. Duncan-Jones. Gleichzeitig beginnt die englische und schottische Rezeptionsgeschichte auseinanderzudriften.

In der dritten Periode, nach 1945, wird die Situation breiter, komplexer und weniger übersichtlich. Die schottische Rezeption bekommt ein besonderes Gewicht durch die Bemühungen von Geoffrey W. Bromiley und vor allem Thomas Forsyth Torrance. Auf der anderen Seite entfalten die Brüder Donald M. und John Baillie eine heftige kritische Auseinandersetzung. T. F. Torrance ist ein eigenes, gründliches Kapitel gewidmet. Torrance bemüht sich um eine Verbindung der englischen, stark an naturwissenschaftlichen Fragen orientierten Theologie mit der Barths. "Er hat die zentralen Gedanken Barths für sein eigenes Interesse - das Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaft - nutzbar gemacht und ihnen damit ganz eigene Akzente gegeben" (239). Weitere kritische Fragen werden von der Vfn. sehr präzise gestellt.

In der vierten Periode, den 70er und 80er Jahren zeigt sich die Situation noch komplexer. Neue theologische Fragestellungen, u. a. der Befreiungstheologie, mischen die Karten neu. Dabei zeigt sich, daß die dominierende Stellung des politisch eher konservativen Torrance mit dazu beiträgt, Barth ebenfalls weiterhin konservativ zu verstehen. In der christologischen Debatte, ausgelöst durch den Sammelband "The Myth of God Incarnate" 1977, wird auf Barth rekurriert. Besonders sind zu nennen: Stephen W. Sykes, Colin E. Gunton, David F. Ford, Rowan D. Williams, Richard H. Roberts und Alister McGrath. Zu Barths 100. Geburtstag erscheint eine ansehnliche Festschrift.

Diese umfassende Übersicht zeigt, daß die Barth-Rezeption doch beachtliche Ausmaße erreicht hat und trotz einer gewissen Fremdheit Barth gegenüber eigentlich nicht mit J. Baillie gesagt werden kann, daß um Barth ein Bogen gemacht worden sei. Dennoch wird immer wieder auch von der Vfn. die unterschiedliche Ausgangslage und Mentalität in Großbritannien betont, die die Rezeption Barths erschwert hat. Großbritannien hat nicht die Krisenstimmung nach dem 1. Weltkrieg, nicht die umfassende geistige und politische, kritische Auseinandersetzung unter der NS-Herrschaft gekannt. Die Tradition der bürgerlich-liberalen Theologie, die im durchgehenden Beharren auf der natürlichen Theologie ihren Ausdruck findet, ist nicht gestört worden.

Hier aber haben Fragen an der Darstellung einzusetzen. Zunächst: Die Vfn. streicht zu Recht heraus, daß es in der Person des kongregationalistischen Theologen Peter Taylor Forsyth so etwas wie einen Vorläufer Barths gegeben hat, der vom Ansatz her alle wichtigen Punkte benannte. Er kritisiert den Liberalismus theologisch, er reflektiert die Erfahrungen des I. Weltkrieges, er redet häufig von "crisis". Die ersten Rezipienten Barths sind Forsyth’s Schüler. Wie ist es mit der unterschiedlichen Mentalität, wenn auch in Großbritannien der Boden so für Barth vorbereitet war?

Das ist das Problem bei dieser Darstellung: Die unterschiedlichen Ausgangspunkte werden genannt, die unterschiedlichen Faktoren, die die Mentalität bestimmen, auch die konfessionellen Differenzen. Aber was hier benannt wird, fließt eigentlich nicht in die Wahrnehmung von Rezeption und Kontroverse ein. Die Darstellung ist immanent theologisch. In der Einleitung reflektiert die Vfn. möglicherweise das Problem, wenn sie darauf hinweist, sie wolle die von Roberts genannten unterschiedlichen soziologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Faktoren "nur als Ausgangspunkt der Untersuchung" begreifen (14). Dann aber wird die Frage zur grundsätzlichen der Methode der Theologiegeschichtsschreibung: Kann und darf Theologiegeschichte von den historischen und sozialen Gegebenheiten so absehen, daß nur auf die binnentheologischen Fragen abgestellt wird?

Damit stellt sich aber auch die Frage, ob in Großbritannien wirklich, von etwaigen Außenseitern wie Forsyth abgesehen, keinerlei Umbruchstimmung vorhanden war? Und was das für Theologie und Kirche Großbritanniens bedeutet. Gewiß kann die Vfn. darauf verweisen, daß es unmöglich ist, an Hand der Darstellung eines Rezeptionsvorganges die ganze Theologiegeschichte darzustellen. Aber sie hat auf der anderen Seite eine großbritannische Theologiegeschichte im Ansatz sehr wohl vorgelegt. Es fällt auch auf, daß die Vfn. zwar die ökumenische Theologie in Bezug auf Barth referiert, aber nur in diesem Zusammenhang. Andere Theologien, etwa die Missionstheologie, nicht. Gibt es da keine Rezeption Barths? Ist es vielleicht so, daß sie, um die Rezeption Barths in Großbritannien ausreichend darzustellen, mehr an allgemeiner Theologiegeschichte aufnehmen mußte, als sie dann im Endeffekt ausfüllen konnte? Das sind aber grundsätzliche Fragen, die nicht nur an diese Arbeit zu stellen sind, sondern an die gegenwärtige neuere Theologiegeschichte weithin.

Unbeschadet dieser kritischen Erwägungen ist aber insgesamt in höchsten Tönen der Anerkennung von diesem umfassenden und präzisen Werk zu reden, das nicht zuletzt dem Leser die Fülle und Eigenart der Theologie in England und Schottland eröffnet, die für viele deutschen Theologen ein eher weniger bekanntes Terrain sein dürfte.