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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

762–764

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Brush, Jack E.

Titel/Untertitel:

Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis. Luthers Verständnis des 51. Psalms.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1997. XV, 247 S. gr.8 = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 36. Lw. DM 158,-. ISBN 3-16-146626-8.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Noch immer gleicht die Geschichte der Auslegung der biblischen Schriften einem weithin unbeackerten Feld. Trotz etlicher- meist vorzüglicher - Spezialstudien, die dazu in den letzten Jahrzehnten erschienen sind, bezeichnet eine flächendeckende Erhellung der Auslegungsgeschichte nach wie vor ein Desiderat der Kirchen- und Theologiegeschichte. Bevor eine seriöse Synthese möglich sein wird, bedarf es noch mancher Arbeit am Detail: v. a. in Gestalt auslegungsgeschichtlicher Längsschnitte, die am Leitfaden eines einzelnen, exemplarischen Bibeltextes angestellt werden.

Jack E. Brush hat dazu einen wertvollen Beitrag geleistet. Seine Studie "Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis", von der Theologischen Fakultät Zürich im Wintersemester 1993/94 als systematisch-theologische Habilitationsschrift angenommen, untersucht für Ps 51 die Auslegungsgeschichte von Augustinus bis Luther. Bereits die Wahl des Themas zeugt von Umsicht und hermeneutischem Spürsinn: nicht nur, weil Ps 51 seit Cassiodor zu den sieben Bußpsalmen zählte, denen ein fester liturgischer Ort eingeräumt war, sondern mehr noch, weil in der Auslegungsgeschichte dieses Textes ein fundamentaler Dissens zwischen Luther und der gesamten ihm vorausliegenden Tradition aufbricht: Luther hat Ps 51 erstmals nicht mehr auf die Buße bzw. das Bußsakrament hin interpretiert, sondern als ein Summar der gesamten Theologie, näherhin als die Anleitung zur "cognitio dei et hominis" kenntlich gemacht.

Die Luther vorausliegende Auslegungsgeschichte wird von Brush nicht in mechanischem Abschreiten der einzelnen Kommentare rekonstruiert (was dem Leser, zumal angesichts der ungezählten Übernahmen und Paraphrasen vorausgegangener Deutungen, manche Ermüdung erspart), sondern jeweils in souveräner thematischer Bündelung profiliert: von Augustin (um 412) über Cassiodor (nach 540), Alkuin (8. Jh.), Pseudo-Gregor (11. Jh.), Glossa Ordinaria (12. Jh.), Petrus Lombardus (1135/ 37), Hugo Cardinalis (1498-1502), Nicolaus de Lyra (1506-08) und Perez de Valentia (1512) bis hin zu Faber Stapulensis (1509/13). Höchst aufschlußreich ist dabei einerseits die große Abhängigkeit von den Vorgängern, andererseits aber die starke Prägekraft der jeweils aktuellen theologisch-dogmatischen Problemkonstellation. Die gesamte Auslegungsgeschichte von Ps 51 kommt darin überein, daß sie David als ein exemplum christlicher Bußfertigkeit interpretiert, jedoch durch die Konzentration auf die beiden Tatsünden Davids, nämlich Ehebruch und Mord (2Sam 11 f.), von V. 6 ("tibi soli peccavi ...") in eine gewisse Verlegenheit geführt wird. Das seit Petrus Lombardus manifest werdende Eindringen von logisch-philosophischen Kategorien in die exegetische Arbeit hat ebenso wie die steigende Bedeutung, die im Bußverfahren den satisfaktorischen Werken beigemessen wird, signifikante Verschiebungen in der Psalmexegese gezeitigt.

Bei Luther finden sich die ersten Ansätze einer Interpretation von Ps 51 in seinem Handexemplar des Faberschen Psalterium Quincuplex. Aufgrund eindringender Textanalyse vermag der Vf. zu zeigen, daß Luther schon in diesen frühen Randbemerkungen (1513 ff.) um ein neues Sündenverständnis ringt und von dem herkömmlichen Wortschatz einer Bußpsalm-Auslegung bereits weitgehend abgerückt ist. In den "Dictata super Psalterium" (1513-16) hat Luther Ps 51 erstmals im Zusammenhang exegesiert. In seiner Analyse der einschlägigen Glossen und Scholien eröffnet der Vf. einen spannenden Einblick in den Entstehungsprozeß von Luthers reformatorischem Sündenverständnis. Deutlich ist bereits in dieser frühen Phase, daß Luther die Sünde weniger definitorisch zu bestimmen als vielmehr relational zu erfassen bestrebt ist. Mit der Unterscheidung von "peccatum coram deo" und "peccatum coram hominibus" (89) verbindet sich die Einsicht, daß letztlich alle Sünde auf das Gottesverhältnis hin zu verstehen ist: "Peccatum heißt für Luther geradezu das Versagen des Menschen vor Gott" (105).

In der Auslegung der sieben Bußpsalmen von 1517 ist Luther zu einer eigenständigen, von der Auslegungsgeschichte kaum noch abhängigen Deutung vorgedrungen. Die Davidgeschichte wird nicht mehr erwähnt, stattdessen gilt ihm Ps 51 als eine Mahnrede an die Christenheit, die sich in ihrer Gewissensnot dem Trost Gottes überantworten möge. "Nicht die (menschliche) Ableistung der kirchlichen Bußauflagen ..., sondern der Trost des Gewissens durch das Gotteswort gibt dieser Auslegung ihren Grundton" (115).

Die "Enarratio Psalmi LI" (1538) repräsentiert die reifste Gestalt der Auslegung Luthers. Hier zielt seine ganze exegetische Arbeit auf ein rechtes Verständnis von "peccatum" und "gratia". Dabei interpretiert er Ps 51 nicht mehr, wie in der gesamten Auslegungsgeschichte üblich, kasuistisch auf das Bußexempel Davids bezogen, sondern als den Ausdruck und Inbegriff einer doctrina, die insofern universal ist, als sie nicht allein für einzelne Gebotsübertreter gilt, sondern für alle Menschen schlechthin, und dabei nicht einen Teilaspekt der Theologie (paenitentia), vielmehr die gesamte Theologie zur Darstellung bringt (129). Diese aber besteht in dem nicht nur logisch-analytischen, sondern praktisch-religiösen Nachvollzug der Unterscheidung von "homo reus et deus iustificans". Dabei erweist sich denn auch, daß rechte Theologie nichts anderes ist als "cognitio dei et hominis". Die Pointe dieser Auslegung von Ps51 liegt in der Einsicht, daß die Leitbegriffe "peccatum" und "gratia" nur als relationale Bestimmungen sachgemäß zu verstehen sind: Gleichwie "peccatum" nicht einen partiellen Defekt, sondern ein gestörtes Gottesverhältnis bezeichnet, meint "gratia" nicht eine neue Ausrüstung des Menschen zu meritorischem Handeln, vielmehr ein neues, durch Vergebung gestiftetes Verhältnis zu Gott (189 f.).

Eine besondere Stärke dieser Untersuchung liegt in der eindringenden, tief- und hintersinnigen Interpretation der Textaussagen und -strukturen, durch die der Vf. immer wieder mit gutem Sinn fürs Wesentliche auslegungsgeschichtliche Konturen freilegen kann. Eine gewisse Schwierigkeit ergibt sich jedoch aus der vom Vf. für seine theologiegeschichtliche Arbeit reklamierten systematisch-theologischen Relevanz. Auch wenn man den tiefen existentiellen Ernst, mit dem der Vf. bei der Arbeit ist, respektvoll verspürt, bleiben die gelegentlichen Applikationen auf "uns" - "(Luther) möchte uns mit allem Nachdruck davor warnen ..." (222) u. ä. - doch allzu unvermittelt. Ebenso hätte man, wenn der Vf. einige Male Einsichten Luthers "auf die Neuzeit bezogen" (220) aktualisiert, zugleich eine differenzierte Bezugnahme auf die hochkomplexe Debatte um Begriff und Wesen der "Neuzeit" gewünscht. Zweifellos ist vieles von dem, was der Vf. an modernen Bezügen herstellt, geistvoll und darum des Nachdenkens wert - beispielsweise die Anregung eines Vergleichs der von Luther geprägten Wendung "peccatum radicale" mit Freuds Konzept des Unbewußten (162). Fast scheint es, als habe der Vf. gegenüber seinen neuzeitlichen Bezugnahmen selbst ein gewisses Unbehagen verspürt: die Gewährsmänner, die er hier und da aufruft (z. B. Descartes, Kant, Freud, C. G.Jung), sucht man in seinem ansonsten vollständigen Personenregister vergebens.

Im Vorwort hatte der Vf. zur impliziten Leitfrage seiner Untersuchung erklärt, "ob in der Gegenwart die Aufgabe der systematischen Theologie überhaupt noch sinnvoll sei"; die Antwort indessen überlasse er dem Leser (VII). Wer an systematisch-theologischer Reflexion interessiert ist, findet in dieser soliden historischen Studie vielfältig Anlaß zu denken. Allerdings kommt er darüber mit dem Verfasser nicht ins Gespräch. Nimmt man nun freilich den Autor darin ernst, daß er den Leser ganz bewußt zum Selbstdenken habe anleiten wollen, ist es am Ende doch - und vielleicht mehr, als der Vf. beabsichtigt hat - ein zutiefst neuzeitliches Buch.