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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

761 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Neusch, Marcel

Titel/Untertitel:

Initiation à saint Augustin, maître spirituel.

Verlag:

Paris: Cerf 1996. 281 S. 8 = Épiphanie Initiations. Kart. fFr 90.-. ISBN 2-204-05422-4.

Rezensent:

Ekkehard Mühlenberg

"Über Augustin sind so viele Bücher geschrieben worden, daß ich nur zögernd zur Feder greife. Die folgenden Seiten wollen nicht mehr und nicht weniger sein als eine Einladung, Augustin zu begegnen, und das heißt, zugleich sich selbst zu begegnen." Auf der ersten Seite charakterisiert der Autor sein Buch mit Worten, die in seiner Sprache so treffsicher sind, daß sie sich kaum übersetzen lassen ("Les pages qui suivent ne seront qu’une invitation à rencontrer Augustin, ce qui est identiquement entrer dans un contact plus vrai avec soi-même"). Augustins Selbsterfahrung ist also die Basis der Darstellung. Ihr sind die drei ersten Kapitel gewidmet: Lebenslauf von Geburt bis Taufe, das monastische Leben, der Bischof.

Drei weitere Kapitel wollen mit dem Denken Augustins bekannt machen: Theologische Herausforderungen, der geistliche Lehrer, die literarische Hinterlassenschaft. Ein siebtes Kapitel betrachtet abschließend das Schicksal der nordafrikanischen Kirche und das Schicksal des Augustinismus. Und ein Schlußwort erinnert daran, daß "Augustin für jeden, auch heute noch, jener unermüdliche Freund werden kann, der die Suche nach der Wahrheit begleitet. Aber im Angesicht dieser Wahrheit, die jeden innerlich erleuchtet, nahm sich Augustin immer zurück: ... Mir schenkt Gehör, Ihm aber das Herz".

Dem Autor gelingt es, zur Augustinlektüre einzuladen. Er selber hat Augustin einfühlsam gelesen und versteht es, Augustintexte fortlaufend in seine Darstellung einzuflechten. In der Augustinliteratur hat er sich sorgfältig umgesehen (vor allem französische Forschung). Ein eigener Beitrag zur Augustinforschung ist nicht beabsichtigt, aber ein konturiertes Augustinbild ist trotzdem die Basis wie auch der Eindruck, den das Buch hinterläßt. Eingebettet wird das Porträt Augustins in die Anschaulichkeit der Umgebung. Die Familie und ihr sozialer Status in Thagaste, dem Geburtsort, werden beschrieben, vielleicht zu ausführlich, da es für die Spiritualität Augustins, dem Hauptthema, wenig beiträgt. Die Begegnung mit Ambrosius ist allzu knapp geschildert (29). Dagegen wird das monastische Leben plastischer ausgemalt, als es die Quellen belegen. Die bischöfliche Tätigkeit beschränkt sich auf die Seelsorge für die Gemeinde in Hippo Regius und für einzelne Personen, wird aber hier sehr lebendig und übernimmt den meisterhaften Stil, den F. van der Meer in seinem Buch "Augustin der Seelsorger" (1951) vorgezeichnet hat. Die Geschichte der nordafrikanischen Kirche nach dem Vandaleneinfall trägt nichts bei, bietet jedoch teilweise den Kontext für den Brief Augustins (ep. 228), in dem er die Verantwortlichkeit der Kleriker angesichts der unaufhaltsamen Bedrohung erörtert; dieser Brief wird ausführlich zitiert (246-248, 269 f.).

Augustins Denken, seine Theologie, wird zwar auch einbezogen (Kap. 4 und Kap. 6 über Confessiones, De civitate Dei und De trinitate), aber das eigentliche Interesse gilt dem Thema: Le maître intérieur, le seul maître véritable (Kap. 5). In diesem Kapitel gibt es schöne Abschnitte, z. B. über das Gebet (183-190) oder über Augustins Selbstverständnis als Prediger (174-178). Es gibt in diesem Kapitel aber auch Abschnitte, die Fragen offen lassen oder umgehen. Im ganzen Buch ist das Wort "Erbsünde" verdrängt, obwohl davon ausgegangen wird, daß die Menschen sich alle durch den freien Willen von Gott abgewendet haben und nur durch Gnade wieder zu Gott zurückfinden. Aber wer der "innere Lehrer" ist, dem sich der Mensch in sich selber zukehren soll, bleibt in der Schwebe. Er soll Gott selber sein (181), aber auch Christus (173, 178) und dann die Struktur der Seele, die ontologisch auf Gott ausgerichtet ist und der das Verlangen nach Gott inhäriert (169-174). Der Leser wird nicht aufgeklärt, obwohl in diesem Zusammenhang die Augustinforschung z. B. die Illuminationslehre und das Verhältnis zum Neuplatonismus (Gnade und Erkenntnis) erörtert. Es wäre wichtig, wenn der Autor für sich selber entschieden hätte, was Augustin inhaltlich mit dem inkarnierten Wort Gottes im Unterschied von Gottes Allgegenwart im Geschaffenen meint. Da herrscht Unklarheit, wie die Schematisierung von Augustins "Bekehrungen" zeigt (41-44).

Im Rückblick (Confessiones) markierte Augustin jeweils vier Stadien. Am Anfang stehe ein äußerer Hinweis (admonitio), dem eine innere Erschütterung folge, dann die Suche nach einer Gemeinschaft zur Konkretion der Wandlung und schließlich eine jeweils genauere Vorstellung von Christus. Ich bezweifle, daß diese Schematisierung die spirituelle Erfahrung Augustins erfaßt und sich zum Bekehrungsmodell hochstilisieren läßt. Es ist richtig, daß Augustin in vielfältiger Weise, vor allem hinsichtlich seines Predigens (vgl. 174-178), den äußeren Anstoß, ein Zeichen Gottes, thematisiert; aber der zitierte Beleg zeigt schon in dem "Sowohl - Als auch" die zu klärende Problematik: ... poterat ad sapientiam pervenire sive extrinsecus ab aliquo admonitus, sive interioribus cogitationibus divinitus illustratus (mor. II 17,55). Von Christusvorstellungen zu sprechen erleichtert nicht die Frage, was Christologie für Augustin bedeutet.

Das Buch ist in einem gefälligen Stil geschrieben. Ich halte das Porträt Augustins für zu freundlich; dieser große Lehrer der Spiritualität hat auch harsche Züge, und sie liegen nicht nur in seiner Zustimmung zur gesetzlichen Unterdrückung der Donatisten und Ungläubigen (vgl. 134), auch nicht nur in den Grenzen seiner Gnadenlehre, die die Universalität des Heils einschränkt (vgl. 154 f.). Treffend aber ist aufgenommen (259 f.), daß die lutherischen Reformatoren entgegen Augustin den Glauben über die Liebe stellen. Tolle lege!