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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

758–760

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Madec, Goulven:

Titel/Untertitel:

(1)Saint Augustin et la Philosophie. Notes critiques.
(2)Introduction aux "Révisions" et à la lecture des uvres de Saint Augustin.

Verlag:

(1)Paris: Institut d’Études Augustiniennes 1996. 167 S. 8 = Collection des Études Augustiniennes, Série Antiquité, 149. ISBN 2-85121-163-3.
(2) Paris: Institut d’Études Augustiniennes 1996. 172 S. 8 = Collection des Études Augustiniennes, Série Antiquité, 150. ISBN 2-85121-162-5.

Rezensent:

Heinrich Marti

Goulven Madec ist heute einer der besten Kenner Augustins. Er legt nun in der bekannten Pariser Reihe gleichzeitig zwei neue Bücher vor, die Einführungen in das monumentale uvre des afrikanischen Bischofs bieten: Das erste der beiden Bändchen kann ohne Zweifel als ein kleines Meisterwerk gelten, das zweite - ausgerechnet die Jubiläumsnummer 150 der Serie - erscheint dem Rez. jedoch zum Teil problematisch.

1. "Saint Augustin et la philosophie" - in der Formulierung des Titels angelehnt an das vor bald 25 Jahren erschienene, bedeutend umfangreichere Ambrosius-Buch - wird untertreibend eingestuft als "Notes critiques"; das Manuskript war ursprünglich gedacht als Beitrag zu "Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt", ist dort nun aber 20 Jahre liegen geblieben. Es handelt sich (gemäß "Avant-Propos") um eine Zusammenfassung der Lehrtätigkeit des Vf.s im "Institut Catholique de Paris".

So sind denn - nach einer kurzen "Introduction" - 15 gleichmäßig befrachtete Kapitel von je 5-9 Druckseiten entstanden, die wie konzentrierteVorlesungen einzelne Etappen oder Werke darstellen, und zwar in chronologischer Folge: von der rein philosophischen Frühzeit bis zum Abschluß "Christus sapientia et scientia nostra". Einem "Postscriptum" zu O’Daly’s "Philosophy of Mind" (1987) folgen eine wertvolle Bibliographie (31 Seiten: für Courcelle, Hadot, M. selbst, Pépin, Solignac fast vollständig - aber auch deutsche und oft übersehene spanische Arbeiten sind gut vertreten) und ein hilfreicher "Index analytique", der dem eiligen Benützer als Einstieg nützlich sein kann.

Das Grundmotiv ist die Rolle der philosophia, doch macht uns der Vf. sofort klar, daß A. die moderne Antinomie (hier ,Philosophie’, da ,Theologie’) nicht kennt. A. kann sowohl Theologe wie auch Philosoph sein! Es macht aber durchaus Sinn, die Anfänge des Denkers unter den Titel "Philosophia" zu stellen und zu betonen, daß der junge A. "viel Philosophisches" gelesen und verarbeitet hat, und zwar schon vor und später auch neben dem Neuplatonismus (man vergißt zu oft, welche Bedeutung damals Handbücher, besonders stoischer Provenienz, gehabt haben). Im Kapitel über die viel diskutierten "Libri platonicorum" nimmt M. in subtilem Abwägen aller Faktoren schließlich eher für eine Rückführung auf Porphyrios Stellung (also im Sinne der These von Willy Theiler).

Die Idee von P. F. Radice (VChr 43, 1989), verschiedene der bisher vorausgesetzten Werktitel Porphyrs in der einen "Philosophie der Orakel" zu vereinen, wird mit einem magistralen ,Federstrich’ ("sans argument sérieux", 38 A. 12) abgelehnt. Bei den Dialogen von Cassiciacum (Kap.6) gilt es abzuwägen, wie weit sie echte Protokolle von Diskussionen mit Schülern, Freunden und Verwandten sind, und wie weit bewußte künstlerische Gestaltung vorliegt. Der Vf. weist (meines Erachtens mit vollem Recht) darauf hin, daß gewisse Konventionen der Gattung ,Dialog’ schon ganz am Anfang ("déjà lors de l’organisation des entretiens", 47) eine bestimmende Rolle gespielt haben - wenn die Gespräche den Traditionen antiker Dialoge folgen, spricht dies noch nicht gegen ihre Authentizität.

Die Abschnitte 7 und 8 gelten den beim zweiten Rom-Aufenthalt (387/388) konzipierten Werken De magistro ("Langage et connaissance") und De libero arbitrio ("Théodicée"), Kap. 9 betrifft den Übergang vom laicus zum presbyter ("Ecclesiae cura") und 10 das erste - dem neuen Dienst der Verkündigung geltende - Buch De doctrina christiana: Der Vf. empfiehlt uns, diese Texte nicht aus dem Blickwinkel moderner Theorien (Existentialismus; Semiotik) zu lesen; auch bei den großen Werken (conf.; trin.) ist es ratsam, die Mahnung von Henri-Irénée Marrou zubeherzigen: "La pensée d’A. se présente sous une forme fluide et mouvante" (89; ähnlich 108); es sei besser, dem Verlauf der Texte "de bout en bout" zu folgen als künstliche Begriffsdefinitionen erarbeiten zu wollen. "La méthode augustinienne ne favorise ... nullement le dogmatisme: elle est ’plus aporétique qu’assertorique’" (102, teilweise nach A. Solignac).

So wird auch im "Liber creaturae caeli et terrae" (Kap. 13: die Genesis-Kommentare) nach wie vor Neuplatonisches undogmatisch mit Christlichem verschmolzen. Auch wenn A. in seinen Retractationes gewisse Formulierungen der älteren Werke korrigiert, muß er sich von seiner grundlegenden Zusammenschau von Neuplatonismus und Christentum "sur le fond" (115) nicht distanzieren. Trotz der Kritik von R. J. O’Connell (1984) hält M. an seiner wiederholt geäußerten Auffassung über die Haltung A.s zum Platonismus fest (120 A. 24: "Je garde néanmoins le sentiment d’avoir simplement fait confiance à ce que nous en dit A. lui-même"). Aber dennoch, und zwar von der Bekehrung an, steht für A. Christus als Mittler von "sapientia et scientia" (Kap. 16) fest: "A. pouvait donc avoir la ferme conviction d’assurer l’accomplissement du platonisme dans le christianisme" (damit endet die Analyse von "A. et la philosophie": 124).

Es ist M. gelungen, die lange, an Peripetien reiche Diskussion der A.-Interpreten über das Verhältnis des Kirchenvaters zur ,heidnischen’ Philosophie in gebotener Kürze klar zusammenzufassen und dem Studenten (im weitesten Sinn des Wortes) einen zuverlässigen Leitfaden zu geben: man soll primär einmal lesen, den verschlungenen Gedankengängen geduldig nachgehen - und dann erst die Verbindungen zu neueren Theorien suchen. 2. Wenn das erste der beiden Werke eine wirkliche ,Isagoge’ darstellt, ist das Buch über die "Révisions" (= retractationes ) schon im Titel als "introduction" charakterisiert, und da auch die retract. eine ,Einführung’ bieten, schreibt M. nichts anderes als "une simple introduction à l’introduction" (6). Die Grundidee ist überzeugend: wer die retract. rezipiert, lernt A. mit den Augen des Autors selbst zu lesen. Der Vf. spricht aber auch von einem "Testament", das der fleißige Bischof am Ende seines reichen Lebens hinterlassen habe. ,Testament’ und ,Einführung’ sind aber zwei verschiedene Textsorten. S. 12 heißt es, durchaus realistisch: "les Révisions ont la simplicité, la netteté, la sécheresse d’un catalogue bibliographique". Wer Zugang zu einer Bibliothek gewinnen will, muß gewiß den Katalog benützen - aber wird er ihn lesen?!

A. hat bei seinem Rückblick (im Alter von 72 Jahren) keine einschneidenden dogmatischen Korrekturen vornehmen müssen (126) - es geht in den retract. fast nur um exegetische, philologische und historische Details (auch 120). So führt denn der Überblick des Vf.s über den Überblick des Autors kaum je in die Tiefe: eineinhalb Seiten über De doctrina christiana können bei aller Konzentration nicht ins Werk einführen - was herauskommt, sind akribische Notizen für ein Handbuch (etwa die chronologischen Streitigkeiten von Kap. 17: "Problèmes"), nützlich für Spezialisten, aber trocken wie die retract. selbst - Anfänger seien gewarnt!

Was M. gut herausarbeitet, ist das lebenslange Dilemma A.s zwischen pastoralen Pflichten und ,wissenschaftlichen’ Interessen. Schon der begabte, redegewandte Priester, dann der autoritäre Bischof wird von allen Seiten bedrängt, seine verbalen Waffen mündlich (Predigten) wie schriftlich einzusetzen: gegen die Manichäer, die Donatisten, die Heiden, die Pelagianer, die Arianer (je ein Kapitel der "écrits anti-..."). Man erhält den Eindruck einer gänzlich ,defensiven’ Schriftstellerei, denn A. weist ja in Briefen und Proömien regelmäßig auf Anfragen und Aufträge von Freunden und Kollegen hin. Doch sollte man wohl, sogar bei einem A., nicht ganz vergessen, daß dies der allgemeinen Tradition antiker Exordialtopik entspricht: A. war kein Autor, der nur geschrieben hat, was er eigentlich nicht wollte!

M. ist sich der Problematik seiner Art von "introduction" durchaus bewußt (116): Was klar wird, ist die Vielfalt (42) der Werke des stets überlasteten Kirchenführers (A. hat in 39 ,Amtsjahren’ schätzungsweise 8000 Predigten gehalten: 55). Wer trotz der Fülle von trockenen Details M.s Buch benützen will, kann gut mit der "Table analytique" (167-170) beginnen, und das Übersichts-"Tableau" (159-165) vermittelt einen Eindruck von der Reichhaltigkeit des augustinischen uvres.

Die Stellungnahmen des Vf.s zu den Diskussionen der Forschung sind oft anregend (eine gewisse Reserviertheit gegenüber Hypothesen von Peter Brown oder Kurt Flasch ist gelegentlich spürbar, etwa 139), aber im ganzen erhalten wir die Skizze eines Handbuchs, keine Isagoge.

Beide neuen Bücher sind leider nicht sorgfältig redigiert: 50 Fehler auf 170 Seiten sind zu viel, auch wenn es sich meist um Lappalien handelt. Dies stört den Rez. besonders beim Buch über die retractationes: Denn wenn man A.s ,Testament’ ernst nimmt, gilt eine besondere ,philologische’ Verpflichtung zu genauem Umgang mit dem Wortlaut der Texte.