Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

753–756

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Bethge, Hans-Gebhard

Titel/Untertitel:

Der Brief des Petrus an Philippus. Ein neutestamentliches Apokryphon aus dem Fund von Nag Hammadi (NHC VIII, 2), hrsg., übers. u. kommentiert.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 1997. XXII, 248 S. gr.8 = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, 141. Lw. DM 220,-. ISBN 3-05-002494-1.

Rezensent:

Kurt Rudolph

Mit dieser Arbeit liegt jetzt endlich die "stark überarbeitete, erweiterte und entsprechend dem internationalen Forschungsstand aktualisierte "Habilitationsschrift" ("Dissertation B" in der DDR) des Vf.s vor, die 1985 an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin angenommen wurde. Bereits 1978 hatte H.-G. Bethge in dieser Zeitschrift (ThLZ 103, 1978, 161-170) eine leicht kommentierte erstmalige deutsche Übersetzung dieses Nag Hammadi Apokryphon (abgek. EpPt) vorgelegt. Auch die in Schneemelchers 5./6. Aufl. der "Neutestamentlichen Apokryphen" , Band 1 (1987/1990), 275-284, wiedergegebene Fassung geht auf ihn zurück.

Die ältere englische Übersetzung von F. Wisse erschien in der 1. Aufl. der "Nag Hammadi Library in English" 1977 (394-398; 3. Aufl. 1988, 434-437), die zweisprachige Edition in der Coptic Gnostic Library erst 1991 (NHC Codex VIII, ed. J. H. Sieber = NHC 31). J.-É. Ménard lieferte 1977 die koptisch-französische Ausgabe in der BCNH (Section "Textes" 1). Die einzige Monographie darüber, ebenfalls mit Text und englischer Übersetzung, stammt von M. W. Meyer (The Letter of Peter to Philip, Chico, CA 1981 = SBL Diss. Series No. 53). Für die Gnosisforschung, insbesonders für die Polemik zwischen (christlicher) Gnosis und Großkirche, hatte bereits K. Koschorke die Schrift bahnbrechend erschlossen (ZThK 74, 1977, 323-343; Die Polemik der Gnostiker gegen das kirchliche Christentum, 1978, 192 ff.; VigChr. 33, 1979, 383-392). K.-W. Tröger erörterte sie in seiner leider noch nicht gedruckten Habilitationsarbeit über "Die Passion Christi in der Gnosis nach den Schriften von Nag Hammadi" (theol. Diss. B, Humboldt-Universität Berlin) von 1977. G. P. Luttikhuizen gab u. a. eine niederländische Übertragung mit Kommentar heraus (Gnostische Geschriften I, Kampen 1986), auf die sich B. mehrfach bezieht.

Der gut erhaltene koptisch-sahidische Text findet sich auf den letzten 9 Seiten des 8. Nag Hammadi-Codex, der sonst nur noch die umfangreiche Zoroastrianos-Apokalypse enthält, so daß B. geradzu von einer Art "Buchfüller" spricht und auf den ähnlichen Fall der "Petruspraxis" im Berliner Codex 8502 verweist (2). Die EpPt ist mehrfach bezeugt und in einer noch nicht näher bekannten koptischen Version eines bisher unzugänglichen Papyrus-Codex aus dem 4. Jh. vorhanden (5). Auch die vorliegende koptische Fassung, die sicher auf ein griechisches Original zurückgeht, entstammt dem 4. Jh. (8). Der Schrift nach hängt sie mit NHC IV-VI und XI zusammen (8 f.; hierzu fehlt ein Verweis auf A. Khosroev, Die Bibliothek von Nag Hammadi, 1995, bes. 136 ff.). Gattungsmäßig gehört der Text in die bekannte Acta-Literatur, d. h. er ist Teil der Wirkungsgeschichte dieser Art von frühchristlichem Schrifttum (4), aber mit einer besonderen Note, da er eingangs als Brief gestaltet ist und auch die Form des sogenannten "Offenbarungsdialogs" verwendet, wie wir es vielfach in der gnostischen Literatur finden (vgl. 55f.).

B. erörtert die Schwierigkeiten der literarischen Form und ihre Entstehung vor allem in den einzelnen Kommentarteilen, nicht in der Einleitung, die nur kurz über das eben Gesagte orientiert (1-14).

Der wiedergebene koptische Text beruht auf Autopsie in Kairo. Da bereits zwei Editionen und die Faksimileausgabe (1976) vorliegen, hat B. eine nach den Sinnabschnitten gegliederte Form gewählt, die nicht streng den Zeilen der einzelnen Kolumnen folgt, was die Lesbarkeit erleichtert, ohne daß der originale Kontext verlorengeht (19-31). Lobend hervorgehoben seien die übersichtlichen Angaben zu den "Dramatis personae", Szenenorten und dem zeitlichen Ablauf (16 f.), die koptischen und griechischen Indizes (35-49) und ganz am Ende des Buches die Personen- und Sachwortregister (233-248). Die umfangreiche Literaturliste steht am Anfang (IX-XXII), in der man doch einiges vermißt (s. u.).

Den Hauptteil der Arbeit bildet der ausführliche und gründliche "exegetische Kommentar" (53-151), der sowohl der Erörterung der philologischen als auch der inhaltlichen Seite des Textes mit den notwendigen Verweisen auf Sachparallelen und der Diskussion mit anderen Auffassungen große Aufmerksamkeit widmet. Im Anhang sind die von O. von Lemm im Bull. de l’académie imp. des sciences de St. Petersburg I, 1890, publizierten Petersburger Fragmente der koptischen apokryphen Apostelakten (Akten des Bartholomäus in den Oasen, Akten des Philippus, Akten des Andreas und Matthäus in der Stadt der Menschenfresser) mit den Parallelen aus dem Codex Borgianus 126, der Sammlung Nani und den äthiopischen Acta in einem Facsimile-Druck wiedergegeben (157-229), da sie "zur Klärung literarischer Probleme und zum Verständnis mancher Sachverhalte in der EpPt Wesentliches" beitragen (155). B. geht allerdings nicht weiter darauf ein.

Der Inhalt der EpPt ist folgender: Durch einen kurzen Brief bittet Petrus den (Apostel) Philippus zu ihm zu kommen, um einer Anordnung des "Gottes Jesus" zu folgen und dessen Botschaft (Evangelium) zu verbreiten (132 f.). Nachdem Phil. sich zu Petrus begeben hat, beruft dieser die anderen Apostel auf dem Ölberg zusammen, wo sie den "Vater des Lichtes" und seinen Sohn anrufen (133 f.). Letzterer erscheint plötzlich als "großes Licht" und beginnt ein Lehrgespräch über Fragen, die ihm die Jünger stellen (134-138): den "Mangel der Äonen und ihre Fülle", das Woher und Wohin, die Feindschaft der "Mächte". Gegeben wird eine der gnostischen Ideologie entsprechende Lehre über Kosmo- und Anthropogonie, die Erlösung durch Erleuchtung und den Kampf gegen die Mächte, für den die Apostel durch die Verheißung der Erlösung, die Kraft und Hilfe des "Vaters" gewappnet sind. Nachdem Jesus wieder entrückt wurde, begeben sich die Jünger auf den Rückweg nach Jerusalem und unterhalten sich über das Leiden des "Herrn" und der Jünger, wozu Petrus und die Stimme Christi Belehrung erteilt (138 f.). In Jerusalem angelangt gehen die Apostel zum Tempel, lehren die "Erlösung" und "heilen viele" (139,4-9).

Es folgen zwei weitere Reden des Petrus an seine Kollegen (139 f.), die von Kreuzigung, Tod, Bestattung und Auferstehung Christi, dem aber das Leiden fremd ist (139,20 f.; 136,2 f.), handeln; das Leiden der Jünger erfolgt aufgrund der "Übertretung (parabasis) der Mutter", womit entweder die Sophia (vgl. 135,12) oder Eva (so Bethge, 136 f.) gemeint ist (139,21-28). Der Abschluß wird von einer (erneuten) Versammlung der Apostel gebildet, auf der wieder Petrus aktiv ist und ein Gebet um den "Geist der Erkenntnis (episteme)" für die Ausführung von Wundern spricht, was auch gewährt wird (140,1-13). Nach einem Abschlußgebet (?) erscheint Jesus erneut mit dem Friedensgruß und der Zusage seiner Gegenwart bei dem Missionswerk, worauf sich die Apostel auf die "vier Worte" (vermutlich die der Himmelsrichtungen) verteilen (140,15-27).

Bei näheren Hinsehen wird deutlich, daß die EpPt kein einheitliches Werk ist, sondern, wie B. richtig bemerkt, das "Resultat eines mehrstufigen literarischen Prozesses" ist (53). Er nennt sie daher auch mehrmals eine "Epitome" aus einer ausführlichen Schrift, die nur hypothetisch erschlossen werden kann. Der jetzige Titel (nur eingangs) macht aus der Not eine Tugend, da er sich nur auf den Anfang (132,12-133,8) bezieht. Daher hat EpPt weder einen richtigen Beginn, noch die zu erwartende Ausführung am Ende, nämlich die "Taten" der Apostel auf ihren Missionsreisen. Die einzelnen Teile stehen nebeneinander und setzen mehr voraus als was sie berichten (60 f.). Wie sich B. die Entstehung vorstellt, ist im Kommentar S. 124-126 und 148 f. näher beschrieben:

Als 1. Stufe sind apokryphe Philippus-Akten o. ä. vorauszusetzen, in die als 2. Stufe mehrere Einschaltungen vorgenommen wurden: Lehrgespräche gnostischen (sethianischen?) Charakters (134,18-138,3), christlich-gnostische Partien über Passion und Leidensfragen (139,9-140,1) und weitere Einfügungen ohne sichere Abgrenzungen. Auf einer 3. Stufe seien Kürzungen am Anfang und Schluß sowie redaktionelle Bearbeitungen erfolgt, die das Ganze zu einer Epitome mit Schwerpunkt "Leiden" gemacht haben. Dies ist bereits dem griechischen Original (mit dem jetzigen Titel?) eigen gewesen, das dann in der 4. Stufe ins Koptische übertragen wurde und so in den NHC VIII gelangte. Zeitlich gehören die drei ersten Stufen in das Ende des 2. bis Mitte des 3. Jh.s (ähnlich auch Meyer und Luttikhuizen), die 4. Stufe in die 1. Hälfte des 4. Jh.s (nach 309).

Der hypothesenhafte Charakter dieser Rekonstruktion wird von B. hervorgehoben, aber sie hat manches Wahrscheinliches an sich, vor allem die "Verkürzung" eines größeren Werkes der Acta-Literatur, das wahrscheinlich dem Philippus (oder auch dem Petrus!) zugeschrieben war und gnostische Züge trug. Was darüber hinaus auffällt sind die immer wieder auftretenden Bezüge auf das Joh-Ev (hierzu vermißt man eine Auseinandersetzung mit W. G. Röhl, Die Rezeption des Johannesevangeliums in christlich-gnostischen Schriften aus Nag Hammadi, Frankfurt/M. 1991, 164-187, der diese sehr einschränkt). Dagegen ist Lukas (Ev, Apg) keinesfalls bestimmend (134).

Der Raum verbietet ein weiteres Eingehen auf einige im Kommentar geäußerten Ansichten, wie die zur Christologie bzw. Soteriologie, zur Rekonstruktion der gnostischen Lehraussagen (Sophia-Mythos) oder der Bedeutung der zentralen Leidensthematik. Da sich B. immer wieder sehr umsichtig zeigt und sich der Problematik der oft nur sentenzenhaft ausgedrückten Äußerungen, die einen nahezu esoterischen Zug haben, bewußt ist, lassen sich unterschiedliche Interpretationen auch nur als Anfragen deutlich machen. Die "Verortung" der EpPt in einer bestimmten Richtung der christlichen Gnosis ist tatsächlich schwer möglich (vgl. 83 f.,125). Am ehesten kommt eine der Traditionen in Frage, die wir auch aus dem ApkrJoh, HypArch und UrsprWelt (SOT II) kennen. Der "Auszug-Charakter" der Schrift läßt uns hier im Stich. Dies gilt auch im Hinblick auf den "Sitz im Leben" der immer wieder thematisierten Leidensfrage. Koschorke hatte an die Auseinandersetzung mit der "Großkirche" gedacht, B. möchte das nicht annehmen und nur an eine allgemeine Situation der christlichen Kirche bzw. Existenz denken (108 f., 114 ff., 135 f.), was mir zu wenig ist, da der Kampf gegen die "Mächte" meines Erachtens nicht nur mythologisch zu verstehen ist. Die mit Ende des 2. Jh.s (Irenäus!) einsetzende verschärfte Auseinandersetzung mit den Gnostikern hat sicherlich auch die Leidensthematik in EpPt geprägt. Die strikte Betonung der Leidensunfähigkeit des Erlösers, der sich nur im leidensfähigen Leibe "inkarnierte" (Ep. Pt. 138 f., 139,15-21) unterstreicht die Polemik gegen andere Auffassungen, gegen die man sich zur Wehr setzt.

Ich verweise hier auf die nicht genannte Arbeit von D. Voorgang, Die Passion Jesu und Christi in der Gnosis, Frankfurt/M. 1991, bes. 213 ff.; M. Franzmann, Jesus in the Nag Hammadi Writings, Edinburgh 1996; ferner meinen Beitrag ",Christlich’ und ,Christentum’ in der Auseinandersetzung zwischen ,Kirche’ und ,Gnosis’" zur Giversen-Festschrift "Apocryphon Severini" (P. Bilde u. a. [Ed.], Kopenhagen 1993, 192-214, bes. 202 ff.; abgedruckt in meinen Aufsätzen "Gnosis und spätantike Religionsgeschichte", Leiden 1996, 256-277. Für die "apokryphe" Tradition generell und ihren religionsgeschichtlichen Stellenwert vgl. H. G. Kippenberg/G. S. Stroumsa [Ed], Secrecy and Concealment, Leiden 1995 (Studies in the History of Religions 55), mit meinem Aufsatz "Geheimnis und Geheimhaltung in der antiken Gnosis und im Manichäismus" (265-288; abgedruckt in meinen eben genannten Aufsätzen, 220-243).

Mit der nun allgemein zugänglichen Arbeit von H.-G. Bethge liegt ein weiteres Stück der Nag-Hammadi-Texte in deutscher Übersetzung mit einem ausreichenden Kommentar aus dem "Berliner Arbeitskreis für koptisch-gnostische Schriften" vor. Man hofft, daß in nicht allzu ferner Zukunft eine dringend erforderliche, solide deutsche Gesamtübersetzung der ganzen Sammlung von dort das Licht der Welt erblickt.