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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

748 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Meisinger, Hubert

Titel/Untertitel:

Liebesgebot und Altruismusforschung. Ein exegetischer Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. XI, 321 S. gr.8 = Novum Testamentum et Orbis Antiquus, 33. Kart. DM 122,-. ISBN 3-7278-1039-9 u. 3-525-53935-5.

Rezensent:

Hans Schwarz

Die vorliegende Veröffentlichung ist eine überarbeitete Fassung einer Dissertation, die, in Heidelberg bei Gerd Theißen angefertigt, mit dem "1996 ESSSAT Prize for Studies in Science and Theology" ausgezeichnet wurde. Wichtig ist der Hinweis des Vf.s, daß er am Chicago Center for Religion and Science Philip Hefner und Ralp Wendell Burhoe begegnete. Inspiriert ist die Thematik besonders von E. O. Wilson, dem prominentesten Vertreter der Soziobiologie. Der Vf. möchte dabei die Forschungen in der theologischen Exegese und der Soziobiologie aufeinander beziehen, ein Vorhaben, das besonders verdienstvoll ist, da es im deutsch- und im englischsprachigen Raum keine grundlegenden Arbeiten dazu gibt.

Im Neuen Testament findet sich der Altruismus in der Form des Liebesgebots und in Texten, die sich mit Hilfeleistung befassen, während die Soziobiologie Altruismus über die Konsequenzen einer Handlung definiert. "Altruistisch ist eine Handlung, die Nutzen für einen anderen bringt und den Ausführenden etwas kostet"(4). Der Vf. geht in seiner Untersuchung in drei Schritten vor: Zunächst wird das Liebesgebot im Neuen Testament und dessen Umfeld dargestellt. Dann widmet er sich der Altruismusforschung in der Soziobiologie. Schließlich faßt er auf 40 Seiten das Ergebnis seiner Untersuchung zusammen, wobei er besonders auf die Verhältnisbestimmung von christlicher Religion bzw. Theologie und Soziobiologie anhand von Burhoe und Hefner eingeht.

Nachdem das neutestamentliche Liebesgebot exegetisch intensiv erforscht ist, möchte der Vf. einen noch fehlenden Gesamtüberblick über das Liebesgebot bieten, das die Einzeluntersuchungen miteinander in Beziehung setzt. So stellt er fest, daß Altes Testament und die frühjüdischen Schriften im Verständnis der Nächstenliebe weitgehend übereinstimmen. "Agape wird grundsätzlich als vorbehaltlose Annahme des anderen und intensive Zuwendung zu ihm bestimmt" (21), wobei es jedoch einige Texte gibt, die Lev 19,18 universal auszuweiten beginnen, so daß man von einem Erweiterungsbewußtsein sprechen kann. Entscheidender Bezugspunkt der Nächstenliebe ist der Wille Gottes. Das Beispiel der Stoa zeigt jedoch, daß prosoziales Verhalten sogar über die nächsten Verwandten hinaus kein Phänomen ist, das nur in der jüdisch-christlichen Tradition aufzufinden ist.

Nach Untersuchung der Evangelien, der Briefliteratur und des johanneischen Schrifttums kann M. feststellen, daß alle drei leitenden Themenkreise, Erweiterungs-, Überforderungs- und Schwellenbewußtsein, in den verschiedenen neutestamentlichen Schriften unter jeweils charakteristischer Gewichtung vorkommen. - Erweiterungsbewußtsein heißt, daß die Frage nach den Adressaten der Liebe oder des altruistischen Verhaltens über den allernächsten Nächsten hinaus reicht. Beim Überforderungsbewußtsein scheinen die menschlichen Möglichkeiten durch das Gebot der Liebe oder altruistischer Mahnungen überfordert zu sein, während beim Schwellenbewußtsein die Liebe oder der Altruismus einen Schritt auf einen neuen Menschen und eine neue Welt hin darstellt. - Zusammen mit dem Alten Testament und den frühjüdischen Schriften, wo alle drei Aspekte in vergleichbaren Kontexten auftauchen, kann man somit von einer relativ einheitlichen Ausgangsbasis für den Vergleich mit der Altruismusforschung in der Soziobiologie ausgehen.

Ziel der Soziobiologie ist es, durch vergleichende, zoologisch-soziologische Arbeiten auf allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten zu stoßen, die für den Menschen wie für andere Lebewesen gültig sind. Neben dem "Begründer" der amerikanischen Soziobiologie, E. O. Wilson, wendet sich der Vf. auch anderen Positionen zu, wie etwa denen von Dawkins und R. D. Alexander. Der Vf. stellt fest, daß es im Grunde genommen die Soziobiologie nicht gibt. Auch die Diskussion im deutschsprachigen Raum durch Eibl-Eibesfeldt, Wuketits, A. Knapp u. a. werden ausführlich dargestellt. Bei der deutschsprachigen Theologie zeigt sich, daß der "Versuch des konstruktiven Umgangs mit soziobiologischen Einsichten" fehlt (224).

In der soziobiologischen Verwendung des Begriffs Altruismus wird gerade das ausgeklammert, was ihn in seiner umgangssprachlichen Verwendung charakterisiert, nämlich die Einbeziehung von Motiven und Intentionen. Das Grundproblem bei der Altruismusforschung besteht auch in der Erweiterung altruistischen Verhaltens auf genetisch nicht verwandte Mitmenschen. "Echter Altruismus ist für rein biologisch betrachtete Lebewesen nicht denkbar" (249). Hier wird deshalb oft auf die Kultur reflektiert. Doch dieser neue Schritt kann zum Schwellenbewußtsein in Beziehung gesetzt werden, womit zu fragen ist, ob der Altruismus nicht einen Schritt auf einen neuen Menschen und eine neue Welt hin darstellt, die entscheidend von der Kultur geprägt sind. Als Ergebnis ist festzuhalten: In den alttestamentlichen, frühjüdischen und neutestamentlichen Schriften wird prosoziales Verhalten über den allernächsten Bezugskreis hinaus vorwissenschaftlich geboten und damit als Faktum etabliert. Die sozialbiologische Altruismusforschung dagegen sucht wissenschaftlich nach den Ursachen dieses faktisch vorhandenen Verhaltens. Somit stehen beide Bereiche nicht in Konkurrenz zueinander, sondern können sich aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus gegenseitig ergänzen.

Abschließend versucht der Vf. eine Verhältnisbestimmung von christlicher Religion bzw. Theologie und Soziobiologie anhand der Ansätze von Burhoe und Hefner. Ziel des interdisziplinären Gesprächs ist es nicht, den einen der untersuchten Bereiche durch den anderen zu vereinnahmen, sondern zu lernen, daß man sich wechselseitig besser versteht.

Der Vf. hat in umfassender Weise die Literatur gesichtet und für sein Thema verständnisvoll herangezogen. Allerdings ist die kritische Darstellung der Positionen von Burhoe und Hefner etwas nachgeschoben, da sie im Grunde genommen zeigen, wie ein interdisziplinärer Dialog aussehen soll.

Deshalb eignen sie sich weniger zur Darstellung unter der Rubrik "Ergebnis der Untersuchung". Sie sollten vielmehr unter "Methodischen und sachlichen Vorüberlegungen" ihren angemessenen Platz finden. Burhoe und Hefner sind - auch was das Gespräch mit der Soziobiologie betrifft - in den USA für den Dialog so prägend gewesen, daß sie in dieser verdienstvollen Arbeit einen prominenteren Platz hätten einnehmen dürfen.